Die Vereinigung jiddischer Polizisten

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Mit Detective Meyer Landsman, Polizist im Morddezernat des jüdischen Distrikts Sitka in Alaska, geht es bergab: Seine Ehe ist am Ende, er trinkt, beruflich steckt er in einer Sackgasse. Und nun wurde in dem schäbigen Hotel, in dem er neuerdings wohnt, auch noch ein Mord begangen. Landsman soll ermitteln. Scheinbar eine reine Routinesache. Doch der Tote ist der drogensüchtige Sohn des Rabbis von Sitka, in dem man den Messias vermutete. Der Fall strotzt vor Ungereimtheiten. Als von oben die Anweisung kommt, den Fall unverzüglich zu den Akten zu legen, recherchiert Landsman auf eigene Faust und gerät bald in ein Wespennest aus politischen Intrigen und religiösem Wahn. Denn der Mord wurde in politisch brisanten Zeiten begangen: Sitka soll in Kürze seinen eigenständigen Status verlieren, den Bewohnern droht erneut Vertreibung und Heimatlosigkeit.

Mit einem jüdischen Staat am Rande des ewigen Eises hat Michael Chabon ein irrwitziges literarisches Szenario für seinen packenden Whodunnit geschaffen: »Michael Chabon erzählt eine fesselnde Kriminalgeschichte und erfindet dabei augenzwinkernd die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu«, schreibt Simone von Buren in der ›NZZ am Sonntag‹.

Und so schuggelten sie zur See. Und sie schuggelten auf dem Sieb. Edward Lear

Für Ayelet,

baschert

Übersetzerin und Verlag danken Frau Prof. Dr. Marion Aproot von der Abteilung für Jiddische Kultur, Sprache und Literatur der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf für ihre fachkundige Hilfe in allen Fragen der jiddischen Sprache und Kultur.

Ein Glossar befindet sich am Ende des Buches

1.

Seit neun Monaten haust Landsman nun im Hotel Zamenhof, ohne dass es einem seiner Mitbewohner gelungen wäre, sich umbringen zu lassen. Jetzt hat jemand dem Gast von Zimmer 208 eine Kugel in den Kopf gejagt, einem Jid, der sich Emanuel Lasker nannte.

»Er ist nicht ans Telefon gegangen, er hat die Tür nicht aufgemacht«, sagt Tenenboym, der Nachtportier, als er Landsman aus den Federn holt. Landsman wohnt in Zimmer 505 mit Blick auf die Neonreklame des Hotels auf der anderen Seite der Max Nordau Street. Es heißt Blackpool, ein Wort, das in Landsmans Albträumen eine Rolle spielt. »Ich musste mir Zugang zu seinem Zimmer verschaffen.«

Der Nachtportier ist ein ehemaliger Marine und selbst einmal heroinabhängig gewesen, damals in den Sechzigern, als er vom Schlachtfeld des Kuba-Krieges zurückkehrte. Mütterlich kümmert er sich um die süchtigen Bewohner des Zamenhof. Er gewährt ihnen Kredite und sorgt dafür, dass sie ihre Ruhe haben, wenn es nötig ist.

»Haben Sie irgendwas in dem Zimmer angefasst?«, fragt Landsman.

»Nur Bargeld und Schmuck«, sagt Tenenboym.

Landsman schlüpft in Hose und Schuhe und zieht die Hosenträger hoch. Dann dreht er sich zusammen mit Tenenboym zum Türknauf um, an dem seine Krawatte hängt, rot mit einem dicken braunen Streifen, bereits zeitsparend vorgeknotet. Landsman bleiben noch acht Stunden bis zur nächsten Schicht. Acht verdammte Ratten-Stunden, in denen er in seinem mit Holzspänen gefüllten Glaskasten sitzt und an seiner Flasche nuckelt. Seufzend greift Landsman nach seiner Krawatte. Er schlüpft mit dem Kopf hindurch und schiebt den Knoten zum Kragen hoch. Dann zieht er seine Jacke an, tastet nach der Brieftasche und der Polizeimarke in der Brusttasche und klopft auf die Scholem im Holster unter seinem Arm, eine kurzläufige Smith & Wesson Model 39.

»Ich wecke Sie nur ungern, Detective«, sagt Tenenboym. »Hab bloß gemerkt, dass Sie nicht richtig schlafen.«

»Ich schlafe«, sagt Landsman. Er greift zu dem Schnapsglas, mit dem er momentan liiert ist, ein Souvenir von der Weltausstellung 1977. »Allerdings in Hemd und Unterhose.« Landsman hebt das Glas und stößt auf die dreißig Jahre an, die seit der Weltausstellung in Sitka vergangen sind. Ein Höhepunkt der jüdischen Zivilisation im Norden sei sie gewesen, heißt es, und warum sollte er da widersprechen? In jenem Sommer war Meyer Landsman vierzehn und entdeckte die Herrlichkeit jüdischer Frauen, für die 1977 auch eine Art Höhepunkt gewesen sein muss. »Im Sessel.« Er leert das Glas. »Mit meiner Scholem.«

Nach Ansicht von Ärzten, Therapeuten und seiner Exfrau ist Landsmans Trinkerei eine Selbstmedikation, bei der die Röhren und Kristalle seiner Launen von hochprozentigem Zwetschgenbrand justiert werden, eine Pferdekur. Doch in Wahrheit kennt Landsman nur zwei Zustände: arbeitend oder tot. Meyer Landsman ist der am höchsten ausgezeichnete Schammes im Distrikt Sitka, er ist der Mann, der die Ermordung der schönen Froma Lefkowitz durch ihren Gatten, einen Kürschner, aufklärte und der den Krankenhausmörder Podolsky fasste. Es war Landsmans Aussage, die Hyman Tsharny lebenslänglich hinter Gitter brachte, das erste und einzige Mal, dass die Anklage gegen einen Verbover Mafioso auch aufrechterhalten werden konnte. Landsman hat das Gedächtnis eines Verurteilten, den Mut eines Feuerwehrmannes und die scharfen Augen eines Einbrechers. Gibt es ein Verbrechen zu bekämpfen, rast Landsman durch Sitka wie ein Mann, in dessen Hose ein Feuerwerkskörper steckt. Als würde im Hintergrund ein Soundtrack laufen, mit besonders vielen Kastagnetten. Das Problem sind die Stunden, in denen er nicht arbeitet und seine Gedanken durch das offene Fenster seines Hirns fortgeweht werden wie Blätter vom Schreibtisch. Manchmal braucht man einen mächtigen Briefbeschwerer, um sie festzuhalten.

»Ich mache Ihnen ungern noch mehr Arbeit«, sagt Tenenboym.

Als er noch bei der Drogenfahndung war, verhaftete Landsman Tenenboym fünf Mal. Das ist die alleinige Grundlage ihrer sogenannten Freundschaft. Fast ist es genug.

»Das ist keine Arbeit, Tenenboym«, sagt Landsman. »Das mache ich aus Liebe.«

»Geht mir genauso«, sagt der Nachtportier. »Ich meine, Nachtportier in so einem beschissenen Hotel zu sein.«

Landsman legt Tenenboym die Hand auf die Schulter, und die beiden Männer gehen nach unten, um sich ein Bild vom Verstorbenen zu machen, sie drücken sich in den einzigen Aufzug des Zamenhof beziehungsweise in den ELEVATORO, wie ihn ein kleines Messingschild über der Tür bezeichnet. Beim Bau des Hotels vor fünfzig Jahren wurden alle Hinweise, Warnungen und Beschilderungen in Esperanto auf Messingtäfelchen verfasst. Die meisten davon sind längst verschwunden, sind Nachlässigkeit, Vandalismus oder Brandvorschriften zum Opfer gefallen.

Tür und Türrahmen von 208 weisen keine Spuren gewaltsamen Eindringens auf. Landsman legt sein Taschentuch um den Knauf und stupst die Tür mit der Pantoffelspitze auf.

»Ich hatte so ein komisches Gefühl«, sagt Tenenboym, als er Landsman ins Zimmer folgt. »Schon als ich den Typ zum ersten Mal gesehen hab. Kennen Sie den Ausdruck ›ein gebrochener Mann‹?«

Landsman gibt zu, dass ihm die Redewendung bekannt vorkommt.

»Die meisten, die so bezeichnet werden, verdienen es gar nicht«, sagt Tenenboym. »Bei den meisten Männern gibt es meiner Meinung nach überhaupt nichts zu brechen. Aber dieser Lasker, der war wie ein Stab, der aufleuchtet, wenn man ihn zerbricht. Kennen Sie die? Leuchten nur ein paar Stunden. Und wenn man sie schüttelt, rasseln drinnen die Glasscherben. Keine Ahnung, vergessen Sie’s. War nur so ein komisches Gefühl.«

»Momentan hat jeder ein komisches Gefühl«, sagt Landsman und notiert auf seinem kleinen schwarzen Block einiges über den Tatort, auch wenn solche Notizen überflüssig sind, weil er nur selten ein Detail vergisst. Der lockere Zusammenschluss von Ärzten, Psychologen und seiner ehemaligen Gattin prophezeite Landsman, der Alkohol würde sein Erinnerungsvermögen abtöten, doch bisher hat sich diese Behauptung — zu seinem Bedauern — als falsch erwiesen. Sein Blick in die Vergangenheit bleibt unbeeinträchtigt. »Wir mussten eine separate Leitung einrichten, um all die Anrufe entgegennehmen zu können.«

»Es sind seltsame Zeiten für Juden«, stimmt Tenenboym zu. »Ohne Zweifel.«

Auf der furnierten Kommode liegt ein kleiner Stapel Taschenbücher. Auf Laskers Nachttisch steht ein Schachbrett. Es sieht aus, als sei er mitten in einer Partie gewesen, ein chaotisches Endspiel, in dem der schwarze König in der Brettmitte angegriffen wird und Weiß mit einigen Figuren im Vorteil ist. Es ist ein billiges Set, das Brett ein in der Mitte faltbares Pappquadrat, die Figuren sind hohl und haben Nähte, wo sie ausgestanzt wurden.

In der dreistrahligen Stehlampe neben dem Fernseher funktioniert nur noch eine Birne. Abgesehen von der Lampe im Badezimmer ist jede andere Birne im Zimmer herausgedreht oder durchgebrannt. Auf der Fensterbank liegt eine Packung frei verkäuflichen Abführmittels einer beliebten Marke. Das Fenster ist die maximal möglichen zwei Zentimeter hochgekurbelt, und alle paar Sekunden rasseln die Metalllamellen in der vom Golf von Alaska hereinwehenden steifen Brise. Der Wind trägt den säuerlich-scharfen Geruch von Holzpulpe, den Gestank von Schiffsdiesel, das Aroma von geschlachteten und konservierten Lachsen heran. Wie es in »Noch amol« heißt, einem Lied, das Landsman und die übrigen Juden seiner Generation in der Grundschule in Alaska lernten, erfüllt der Wind vom Golf die jüdische Nase mit der Ahnung von Verheißung, von Möglichkeiten, von einem Neubeginn. »Noch amol« stammt aus den Eisbärtagen, den frühen Vierzigern, und ist angeblich Ausdruck von Dankbarkeit für eine abermalige, wunderbare Rettung: noch einmal. Heutzutage vernehmen die Juden des Distrikts Sitka eher den ironischen Unterton, den das Lied schon immer besaß.

»Hab ’ne Menge jüdischer Schachspieler gekannt, die Smack genommen haben«, sagt Tenenboym.

»Dito«, sagt Landsman und schaut auf den Verstorbenen hinab. Er stellt fest, dass er den Jid schon mal im Zamenhof gesehen hat. Ein Vögelchen von einem Mann. Waches Auge, kurzer Schnabel. Wangen und Hals leicht gerötet, könnte Kupferrose sein. Kein richtig harter Bursche, kein Schuft, keine völlig verlorene Seele. Ein Jid, vielleicht gar nicht so anders als Landsman selbst, abgesehen von der Wahl der Droge. Saubere Fingernägel. Immer mit Krawatte und Hut. Las einmal ein Buch mit Fußnoten. Jetzt liegt Lasker mit dem Gesicht zur Wand bäuchlings auf dem Schrankbett, lediglich mit der obligaten weißen Unterhose bekleidet. Rotes Haar, rote Sommersprossen und auf den Wangen ein goldener Dreitagebart. Der Anflug eines Doppelkinns, das Landsman auf ein Leben als dickes Kind zurückführt. In blutdunklen Höhlen geschwollene Augen. Auf dem Hinterkopf ein kleines verbranntes Loch, ein Blutstropfen. Keine Anzeichen eines Kampfes. Nichts weist darauf hin, dass Lasker es kommen sah oder es zumindest erkannte, als es so weit war. Dem Bett, stellt Landsman fest, fehlt das Kopfkissen. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihm vielleicht mal die ein oder andere Partie vorgeschlagen.«

»Ich wusste nicht, dass Sie Schach spielen.«

»Nicht sehr gut«, sagt Landsman. Auf dem Veloursteppich vom medizinischen Gelbgrün einer Halspastille entdeckt er eine einsame, winzige weiße Feder vor dem Einbauschrank. Landsman reißt die Schranktür auf, und darin liegt das Kopfkissen, durchschossen, um das Geräusch explodierender Gase in einer Patrone zu dämpfen. »Ich habe kein Gespür fürs Mittelspiel.«

»Meiner Erfahrung nach, Detective«, sagt Tenenboym, »gehört eigentlich alles zum Mittelspiel.«

»Da sagen Sie was«, erwidert Landsman.

Er weckt seinen Kollegen, Berko Shemets.

»Detective Shemets«, spricht Landsman in sein Handy, ein polizeieigenes Shoyfer AT. »Ich bin’s, dein Kollege.«

»Ich habe dich doch gebeten, damit aufzuhören, Meyer«, sagt Berko. Versteht sich von selbst, dass auch ihm noch acht Stunden bis zur nächsten Schicht bleiben.

»Du hast allen Grund, sauer zu sein«, sagt Landsman. »Ich dachte nur, du bist vielleicht noch wach.«

»Ich war wach.«

Anders als Landsman hat Berko Shemets seine Ehe und sein Privatleben nicht in den Sand gesetzt. Jede Nacht schläft er in den Armen seiner wunderbaren Angetrauten, deren Liebe er sich verdient hat und die von ihm vergolten und gewürdigt wird — ein unerschütterlicher Mann, der seiner Frau niemals Anlass zu Kummer oder Besorgnis gibt.

»Einen Fluch auf deinen Kopf, Meyer«, sagt Berko, und dann auf Englisch: »God damn it.«

»Ich habe scheinbar einen Mord hier bei mir im Hotel«, sagt Landsman. »Ein Gast. Schuss in den Hinterkopf. Kopfkissen als Schalldämpfer. Sehr sauber.«

»Ein Auftragsmord.«

»Nur deshalb störe ich dich überhaupt. Wegen der ungewöhnlichen Vorgehens weise.«

Sitka mit seinen 3,2 Millionen Einwohnern kommt im langen, zerklüfteten Streifen des Großstadtbereichs auf ein Jahresmittel von fünfundsiebzig Morden. Einige sind auf Bandenkriminalität zurückzuführen: russische Schtarker, die sich gegenseitig im Freistil erledigen. Die übrigen Morde in Sitka sind sogenannte »Verbrechen aus Leidenschaft«, die stenographierte Kurzfassung für das mathematische Produkt aus Alkohol und Schusswaffen. Kaltblütige Exekutionen sind ebenso selten wie mühselig von der großen Weißwandtafel im Dienstzimmer zu tilgen, wo das Kerbholz der offenen Fälle aufbewahrt wird.

»Du bist nicht im Dienst, Meyer. Ruf auf dem Revier an! Gib die Sache an Tabatchnik und Karpas weiter.«

Tabatchnik und Karpas, die anderen beiden Kollegen, bilden die B-Mannschaft bei der Mordkommission der Distriktpolizei, Präsidium Sitka. Sie haben in diesem Monat Nachtschicht. Landsman muss zugeben, dass die Vorstellung einen gewissen Reiz hat, diese Taube auf ihre Filzhüte scheißen zu lassen.

»Würde ich ja machen«, sagt Landsman. »Nur ist das hier mein Wohnsitz.«

»Hast du ihn gekannt?«, fragt Berko, und sein Ton wird ein wenig weicher.

»Nein«, sagt Landsman. »Ich habe den Jid nicht gekannt.«

Er wendet den Blick von der blassen, sommersprossigen Gestalt des Toten ab, der ausgestreckt auf dem Schrankbett liegt. Manchmal kann Landsman nicht anders, als Mitleid für das Opfer zu empfinden, auch wenn es besser wäre, sich das nicht anzugewöhnen.

»Hör mal«, sagt Landsman, »geh einfach wieder ins Bett. Wir können morgen drüber sprechen. Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe. Gute Nacht. Sag Ester-Malke, dass es mir leidtut.«

»Du hörst dich an, als wärst du ein bisschen neben der Kappe, Meyer«, sagt Berko. »Ist alles in Ordnung?«

In den vergangenen Monaten hat Landsman des Öfteren zu fragwürdigen Nachtstunden Anrufe bei seinem Kollegen getätigt und dann im alkoholischen Dialekt des Grams geschwafelt und schwadroniert. Zwei Jahre zuvor entließ sich Landsman selbst aus seiner Ehe, und im vergangenen April flog seine kleine Schwester mit ihrer Piper Super Cub in die Flanke von Mount Dunkelblum, oben in der Wildnis. Doch jetzt denkt Landsman weder an Naomis Tod noch an seine schmachvolle Scheidung. Gerade trifft ihn eine Vision wie ein Sandsack: Er sitzt in der schmutzigen Lobby des Hotels Zamenhof auf einer ehemals weißen Couch und spielt Schach mit Emanuel Lasker, oder wie auch immer der Mann mit richtigem Namen hieß. Sie beleuchten einander mit ihrem verglühenden Licht und lauschen dem süßen Klirren der Glassplitter in sich. Dass Landsman das Schachspiel verabscheut, macht das Bild nicht weniger ergreifend.

»Der Typ hat Schach gespielt, Berko. Das hab ich nicht gewusst. Das ist alles.«

»Bitte«, sagt Berko, »bitte, Meyer, ich flehe dich an, fang nicht wieder an zu heulen.«

»Mir geht’s gut«, sagt Landsman. »Gute Nacht.«

Landsman ruft die Leitstelle an, um sich selbst zum obersten Ermittler im Lasker-Fall zu machen. So ein beschissener Mord kann seiner Aufklärungsquote nicht sonderlich schaden. Nicht dass es etwas ändern würde. Am ersten Januar wird die Landeshoheit über den gesamten föderalen Distrikt Sitka, eine gekrümmte Klammer felsiger Küste am Westufer von Baranof und Chichagof Island, an den Bundesstaat Alaska zurückfallen. Die Distriktpolizei, der Landsman sich seit zwanzig Jahren mit Haut, Haar und Seele verschrieben hat, wird aufgelöst werden. Es ist alles andere als klar, ob Landsman, Berko Shemets oder sonst jemand seine Stellung behalten wird. Überhaupt nichts ist klar, was die bevorstehende Reversion angeht, und aus diesem Grund sind es seltsame Zeiten für Juden.

2.

Während Landsmann darauf wartet, dass der Latke von der Streife auftaucht, klopft er an Türen. Die meisten Bewohner des Zamenhof sind körperlich oder geistig nicht zugegen, und nach dem, was er aus den übrigen herausbekommt, hätte er genauso gut an die Türen der Taubstummenschule Hirshkovits klopfen können. Es ist ein unruhiger, halb verwirrter, widerlich-wunderlicher Haufen Jids, die Bewohner des Hotels Zamenhof, aber keiner von ihnen scheint sich in dieser Nacht über Gebühr gestört zu fühlen. Und keiner von ihnen kommt Landsman wie der Typ vor, der einem Mann eine großkalibrige Handfeuerwaffe an die Schädelbasis hält und kaltblütig abdrückt.

»Ich verschwende nur meine Zeit mit diesen Büffeln«, sagt Landsman zu Tenenboym. »Und Sie, Tenenboym, haben Sie auch wirklich nichts außer der Reihe gesehen oder gehört?«

»Tut mir leid, Detective.«

»Sie sind auch ein Büffel, Tenenboym.«

»Dagegen habe ich nichts einzuwenden.«

»Was ist mit dem Dienstboteneingang?«

»Wurde von Dealern benutzt«, sagt Tenenboym. »Wir mussten eine Alarmanlage einbauen. Hätte ich gehört.«

Landsman weist Tenenboym an, den Tages- und den Wochenendportier anzurufen, die gemütlich zu Hause im Bett liegen. Die Herren pflichten Tenenboym bei, ihres Wissens habe nie jemand den Toten besucht oder nach ihm gefragt. Niemals. Während der gesamten Dauer seines Aufenthalts im Zamenhof. Keine Besucher, keine Freunde, nicht mal der Lieferservice von Pearl of Manila. Dann gibt es doch einen Unterschied zwischen ihm und Lasker, denkt Landsman: Er bekommt nämlich gelegentlich Besuch vom Botenjungen Romel, der ihm eine braune Papiertüte mit Lumpia bringt.

»Ich überprüfe mal das Dach«, sagt Landsman. »Lassen Sie niemanden nach draußen und rufen Sie mich, wenn der Latke endlich auftaucht.«

Mit dem Elevatoro fährt Landsman in den sechsten Stock und poltert eine mit Stahlkanten versehene Betontreppe zum Dach des Zamenhof empor. Er läuft am Rand entlang und schaut über die Max Nordau Street auf das Dach des Blackpool. Er späht über das nördliche, östliche und südliche Gesims auf die niedrigeren Gebäude der Umgebung, fünf oder sechs Stockwerke tiefer. Die Nacht über Sitka ist ein orangefarbener Schmierfleck, eine Mischung aus Nebel und dem Licht der Natriumdampflampen in den Straßenlaternen. Sie ist so lichtdurchlässig wie in Hühnerfett gedünstete Zwiebeln. Die Lichter der Juden erstrecken sich vom Hang des Mount Edgecumbe im Westen über die zweiundsiebzig Inseln im Sund, über Shvartser-Yam, Halibut Point, Süd-Sitka und das Nachtasyl, über Harkavy und die Untershtot, ehe sie im Osten von der Baranof-Kette gelöscht werden. Auf Oysshtelung Island blinkt das Leuchtfeuer oben auf dem Safety Pin — das einzige Relikt der Weltausstellung — seine Warnung an Flugzeuge oder Jids. Landsman riecht den Fischabfall der Konservenfabriken, das Fett in den Frittierwannen von Pearl of Manila, er riecht den Auswurf von Taxen und das betörende Aroma frischer Hüte aus Grinspoons Filzfabrik zwei Querstraßen weiter.

»Schön da oben«, sagt Landsman, als er zurückkehrt in die Lobby mit ihrem Aschenbechercharme, den vergilbenden Sofas, vernarbten Sesseln und Tischen, an denen hin und wieder ein paar Hotelgäste mit einem Spiel Binokel eine Stunde totschlagen. »Sollte öfter mal hochgehen.«

»Was ist mit dem Keller?«, fragt Tenenboym. »Sehen Sie da auch nach?«

»Im Keller«, sagt Landsman, und das Herz in seiner Brust macht einen unvorhergesehenen Rösselsprung. »Ist wohl besser.«

Landsman ist ein harter Kerl, auf seine Weise, er neigt dazu, es einfach drauf ankommen zu lassen. Er wurde schon abgebrüht und tollkühn genannt, ein Mamser, ein verrückter Hurensohn. Er hat sich mit Schtarkern und Psychopathen angelegt, wurde beschossen, geschlagen, verkühlt, verbrannt. Er hat Verdächtige zwischen den funkenschlagenden Mauern städtischer Schießereien und tief bis ins Land der Bären verfolgt. Höhen, Menschenansammlungen, Schlangen, brennende Häuser, auf Polizisten abgerichtete Hunde — all das hat er entweder mit einem Achselzucken abgetan oder trotzig einfach weitergemacht. Doch wenn Meyer Landsman sich in einem lichtlosen oder engen Raum befindet, zieht sich etwas in seinem animalischen Mark zusammen. Niemand außer seiner Exfrau weiß es, aber Detective Meyer Landsman hat Angst im Dunkeln.

»Soll ich mitkommen?«, fragt Tenenboym, und es klingt beiläufig, aber bei so einem feinfühligen alten Fischweib wie Tenenboym weiß man nie.

Landsman tut, als verschmähe er das Angebot.

»Geben Sie mir einfach eine Taschenlampe!«, sagt er.

Der Keller verströmt den Odem von Kampfer, Heizöl und kaltem Staub. Landsman zerrt an einer Kordel, die eine nackte Glühbirne zum Leuchten bringt, hält die Luft an und verschwindet in der Versenkung.

Vom Fuße der Treppe aus durchquert er den Raum mit den Fundsachen, gesäumt von Stecktafeln und möbliert mit Regalen und Fächern, die Tausende von verlassenen oder vergessenen Gegenständen beherbergen. Einzelne Schuhe, Pelzhüte, eine Trompete, ein Zeppelin zum Aufziehen. Eine Sammlung wächserner Grammophonwalzen mit der gesamten aufgezeichneten Produktion des Orfeon-Orchesters aus Istanbul. Eine Holzfälleraxt, zwei Fahrräder, ein Gebiss in einem Hotelglas. Perücken, Gehstöcke, ein Glasauge, von einem Schaufensterpuppenvertreter zurückgelassene Handmodelle. Gebetbücher, Gebetsschals in ihren samtenen Reißverschlusshüllen, ein fremdartiger Götze mit dem Körper eines dicken Kindes und dem Kopf eines Elefanten. Es gibt einen hölzernen Limonadenkasten voller Schlüssel und einen anderen mit dem gesamten Sortiment von Friseurutensilien, vom Glätteisen bis zur Wimpernzange. Gerahmte Familienfotografien aus besseren Zeiten. Ein verdrehtes Gummiband, das ein Sexspielzeug, ein Verhütungsmittel oder das patentierte Geheimnis eines Mieders sein könnte. Irgendein Jid ließ sogar einen ausgestopften Marder zurück, glänzend und grienend, das Glasauge ein harter Tintentropfen.

Mit einem Stift stochert Landsman im Schlüsselkasten herum. Er schaut in jeden Hut, tastet die Regale hinter den verlassenen Taschenbüchern ab. Er kann sein eigenes Herz hören und seinen Aldehyd-Atem riechen, und nach einigen Minuten in der Stille erinnert ihn das Rauschen des Blutes in seinen Ohren an jemanden, der spricht. Er sieht hinter den Warmwassertanks nach, die mit Stahlbändern aneinandergekettet sind wie Gefährten in einem verhängnisvollen Abenteuer.

Als Nächstes ist der Waschkeller an der Reihe. Landsman zieht an der Lampenschnur, doch es tut sich nichts. Es ist hier noch zehnmal dunkler, aber es gibt nichts zu sehen außer leeren Wänden, gekappten Anschlüssen und Abflüssen im Boden. Seit Jahren macht das Zamenhof die Wäsche nicht mehr selbst. Landsman schaut in die Abflüsse, in die schwere, ölige Dunkelheit. Er verspürt ein Krümmen, einen Wurm in seinem Bauch. Er spreizt die Hände und knackt mit den Halswirbeln. Am hinteren Ende des Waschkellers ist eine niedrige Öffnung, verschlossen von einer aus drei Brettern bestehenden Tür, die diagonal durch ein viertes zusammengenagelt ist. Als Riegel hat die Holztür eine Seilschlaufe, die über einem Haken liegt.

Ein Kriechkeller. Schon das Wort allein macht Landsman Angst.

Er berechnet die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Sorte Mörder, kein Profi, kein blutiger Anfänger, schon gar kein normaler Irrer, sich in dem Kriechkeller verstecken könnte. Möglich, aber reichlich schwierig für den Freak, von innen die Schlaufe über den Haken zu legen. Eigentlich reicht Landsman schon diese Logik, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass er sich nicht um den Kriechkeller kümmern muss. Schließlich geht er zurück in den Raum mit den Fundsachen und treibt eine kleine Taschenlampe auf. Nur um sich selbst zu ärgern — denn sich zu ärgern, andere zu ärgern, die Welt zu ärgern, ist die Lieblingsbeschäftigung und das alleinige Erbe von Landsman und seinem Volk. Er knipst die Taschenlampe an und klemmt sie sich zwischen die Zähne. Er krempelt die Hosenbeine hoch und lässt sich auf die Knie nieder. Mit einer Hand holt er seine große kleine S & W aus dem Holster, mit der anderen fingert er an der Schlaufe herum. Dann reißt er die Tür zum Kriechkeller auf.

»Komm raus!«, sagt er mit trockenen Lippen und keucht wie ein schissiger alter Knacker.

Die Hochstimmung, die er auf dem Dach empfand, ist abgekühlt wie ein gerissener Glühfaden. Landsmans Nächte verstreichen ungenutzt, sein Privatleben und sein Beruf sind eine Aneinanderreihung von Fehlern, seine Stadt selbst ist eine Glühbirne, die in Kürze erlöschen wird.

Er schiebt seinen Oberkörper in den Kriechkeller. Die Luft ist kalt und hat den bitteren Geruch von Mausekötteln. Der Strahl der Taschenlampe tröpfelt über alles, verbirgt ebenso viel wie er offenbart. Wände aus Löschbeton, ein gestampfter Erdboden, die Decke ein widerliches Gewirr aus Drähten und Isolierschaum. Weiter hinten in der Mitte liegt eine Platte aus grobem Sperrholz in einem runden, im Boden eingelassenen Metallrahmen. Landsman hält den Atem an und schwimmt durch seine Panik zum Loch im Boden, fest entschlossen, so lange wie möglich unten zu bleiben. Die Erde um den Rahmen ist unberührt. Eine gleichmäßige Staubschicht liegt über Holz und Metall, keine Abdrücke, keine Spuren. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht haben könnte. Landsman schiebt die Fingernägel zwischen Sperrholz und Rahmen und hievt die schlichte Klappe heraus. Die Taschenlampe beleuchtet ein gewundenes, in die Erde geschraubtes Aluminiumrohr mit Stahlklampen als Stufen. Landsman sieht, dass der Rand des Rohres selbst den Rahmen bildet. Gerade breit genug für einen ausgewachsenen Psychopathen. Oder einen jüdischen Polizisten mit weniger Phobien als Landsman. Er klammert sich an seine Scholem wie an einen Griff, ringt mit dem irren Bedürfnis, der Dunkelheit in die Kehle zu schießen. Mit einem Klappern lässt er die Sperrholzscheibe zurück in den Rahmen fallen. Auf gar keinen Fall geht er da runter.

Die Dunkelheit folgt ihm den ganzen Weg zurück die Treppe hinauf bis in die Lobby, greift nach seinem Kragen, zupft an seinem Ärmel.

»Nichts«, sagt er mit großer Selbstbeherrschung zu Tenenboym. Er sagt es betont fröhlich. Es könnte eine Prophezeiung dessen sein, was seine Ermittlung im Mordfall Emanuel Lasker zwangsläufig hervorbringen wird, eine Feststellung, für was Lasker seiner Meinung nach lebte und starb, eine Erkenntnis, was nach der Reversion von Landsmans Heimatstadt zurückbleiben wird. »Nichts.«

»Sie wissen ja, was Kohn meint«, sagt Tenenboym. »Kohn meint, wir hätten einen Hausgeist.« Kohn ist der Tagesportier. »Der Sachen entwendet oder umstellt. Kohn glaubt, es ist der Geist von Professor Zamenhof.«

»Wenn so eine Absteige nach mir benannt würde«, sagt Landsman, »würde ich da auch rumspuken.«

»Man kann nie wissen«, bemerkt Tenenboym. »Besonders heutzutage.«

Heutzutage weiß man nie. Draußen in Povorotny paarte sich eine Katze mit einem Kaninchen und brachte entzückende Missgeburten zur Welt, deren Fotos das Titelblatt der Sitka Tog zierten. Im vergangenen Februar schworen fünfhundert Zeugen quer durch den ganzen Distrikt, dass sie zwei Nächte in Folge im Schimmer des Nordlichts den Umriss eines Gesichts mit Bart und Schläfenlocken erkannt hätten. Heftige Dispute über die Identität des bärtigen Weisen am Himmel brachen aus, ob das Gesicht gelächelt habe oder nicht (oder lediglich unter leichten Blähungen litt), sowie über die Bedeutung der sonderbaren Erscheinung. Und just in der letzten Woche wehrte sich im koscheren Schlachthaus auf der Zhitlovsky Avenue inmitten des panischen Federgeflatters ein Huhn gegen den Schochet, als der gerade das rituelle Messer hob, und verkündete auf Aramäisch die nah bevorstehende Ankunft von Messias. Nach Angaben der Tog äußerte das wundersame Huhn eine Anzahl verblüffender Prophezeiungen, auch wenn es die Suppe zu erwähnen unterließ, in der es später, abermals verstummt wie Gott daselbst, die Hauptrolle spielen sollte. Schon die flüchtigste Durchsicht der Archive, denkt Landsman, würde zeigen, dass seltsame Zeiten für Juden fast immer auch seltsame Zeiten für Hühner waren.

3.

Auf der Strasse fegt der Wind den Regen von den Mantelaufschlägen. Landsman duckt sich in den Hoteleingang. Zwei Männer, einer mit einem auf den Rücken geschnallten Cellokasten, der andere mit einer Geige oder Bratsche im Arm, kämpfen sich durch das Wetter zur Tür von Pearl of Manila auf der anderen Straßenseite. Die Konzerthalle ist zehn Häuserblocks und eine ganze Welt entfernt von diesem Ende der Max Nordau Street, doch das Verlangen eines Juden nach Schweinefleisch, insbesondere frittiertem, ist stärker als die Nacht oder die Entfernung oder der kalte Wind vom Golf von Alaska. Landsman selbst kämpft gegen den Drang, zu seiner Flasche Sliwowitz und seinem Souvenirglas von der Weltausstellung in Zimmer 505 zurückzukehren.

Stattdessen zündet er sich eine Papiros an. Nach einem Jahrzehnt der Enthaltsamkeit hat Landsman vor knapp drei Jahren erneut mit dem Rauchen begonnen. Seine Exfrau war damals schwanger. Es war eine kontrovers diskutierte und in manchen Stadtteilen heißersehnte Schwangerschaft — ihre erste —, aber keine geplante. Wie bei vielen Schwangerschaften, die zu lange diskutiert werden, hatte der zukünftige Vater zuvor eine zwiespältige Einstellung gehabt. Nach siebzehn Wochen und einem Tag — der Tag, an dem Landsman nach zehn Jahren seine erste Schachtel Broadways kaufte — bekamen sie ein schlechtes Testergebnis. Viele, wenn auch nicht alle Zellen, aus denen der Fötus mit Decknamen Django bestand, besaßen ein zusätzliches Chromosom auf dem zwanzigsten Paar. Mosaizismus nennt man das. Es kann schwere Anomalien hervorrufen. Oder überhaupt keine Folgen haben. In der verfügbaren Literatur mochte ein gläubiger Mensch Zuspruch finden, ein ungläubiger reichlich Grund zur Verzweiflung. Landsmans Sicht der Dinge — zwiegespalten, verzweifelt und ohne jeglichen Glauben — setzte sich durch. Ein Arzt mit einem halben Dutzend Laminaria brach das Siegel des Lebens von Django Landsman. Drei Monate später zog Landsman mit seinen Zigaretten aus dem Haus auf Tshemovits Island aus, in dem Bina und er fast die gesamten fünfzehn Jahre ihrer Ehe verbracht hatten. Es lag nicht daran, dass er nicht mit dem Schuldgefühl leben konnte. Er konnte nur nicht mit ihm und Bina leben.

Ein alter Mann, der sich selbst voranschiebt wie einen klapprigen Handkarren, kommt in Zickzacklinie auf den Hoteleingang zu. Er ist ein kleiner Mann, keine eins fünfzig, und zieht einen großen Koffer hinter sich her. Landsman mustert den offenen, langen weißen Mantel über dem weißen Anzug mit Weste und den tief in die Stirn gezogenen, breitkrempigen weißen Hut. Weißer Bart und weiße Schläfenlocken, fedrig und schwer zugleich. Der Koffer — ein altes Monstrum aus fleckigem Brokat und zerkratztem Leder. Die rechte Körperhälfte des kleinen Mannes ist um fünf Grad tiefer als die linke, hinabgezogen vom Koffer, der offenbar die komplette Bleibarrensammlung des alten Herrn enthält. Das Kerlchen hält inne und hebt einen Finger, als habe es Landsman eine Frage zu stellen. Der Wind spielt mit seinem Barthaar und der Hutkrempe. Von seinem Bart, seinen Achselhöhlen, seinem Atem und seiner Haut weht der Wind den schweren Geruch von altem Tabak, feuchtem Flanell und vom Schweiß eines auf der Straße lebenden Mannes herüber. Landsman fällt die Farbe der spitzen, antiquierten Stiefel ins Auge: Sie sind gelblich elfenbeinfarben wie der Bart des Alten und werden seitlich geknöpft.

Landsman erinnert sich, dass er diesen komischen Kauz früher öfter gesehen hat, als er Tenenboym mehrfach wegen leichten Diebstahls und Drogenbesitzes verhaftete. Damals war der Jid nicht jünger, jetzt ist er nicht älter. Er wurde Elija genannt, weil er an allen unmöglichen Orten mit seiner Puschke und dieser unerklärlichen Art auftauchte, als habe er etwas Wichtiges zu sagen.

»Liebchen«, sagt er zu Landsman. »Das ist das Hotel Zamenhof, nein?«

Sein Jiddisch klingt ein wenig exotisch in Landsmans Ohren, gewürzt mit Niederländisch oder vielleicht Niederdeutsch. Der Alte ist schwach auf den Beinen und hat einen krummen Rücken, aber abgesehen von den Krähenfüßen um die blauen Augen wirkt sein Gesicht jugendlich und faltenlos. In seinen Augen selbst glüht ein flammender Eifer, der Landsman verblüfft. Die Aussicht auf eine Nacht im Zamenhof gibt nicht vielen Menschen Anlass zu solcher Vorfreude.

»Genau.« Landsman bietet dem Propheten Elija eine Broadway an, und der kleine Mann nimmt zwei, von denen er eine in den dunklen Reliquienschrein seiner Brusttasche schiebt. »Kaltes und warmes Wasser. Schammes mit Dienstmarke direkt im Haus.«

»Sind Sie der Manager, mein Schejner?«

Darüber muss Landsman lächeln. Er tritt zur Seite und weist auf den Eingang.

»Der Manager ist da drin«, sagt er.

Aber der kleine alte Mann bleibt einfach stehen und lässt sich beregnen. Sein Bart flattert wie ein Waffenstillstandsangebot. Er schaut an der gesichtslosen Fassade des Zamenhof empor, grau im trüben Laternenschein. Das Gebäude, ein schmaler Turm schmutzig weißer Ziegel mit Fensterschlitzen, drei oder vier Häuserblocks vom geschmacklosesten Abschnitt der Monastir Street entfernt, besitzt die Attraktivität eines Luftentfeuchters. Sein blinkendes Neonschild quält die Träume der Verlierer im Blackpool auf der anderen Straßenseite.

»Das Zamenhof«, sagt der alte Mann und blinzelt wie die Leuchtröhren der Neonreklame. »Nicht das Zamenhof. Das Zamenhof.«

Da kommt der Latke angelaufen, ein Neuling namens Netsky, eine Hand auf seiner flachen, runden, breitkrempigen Streifendienstmütze.

»Detective«, sagt der Latke atemlos, blinzelt dem Alten zu und nickt, »’n Abend, Väterchen. Also, ähm, Detective, tut mir leid, ich habe den Anruf gerade erst erhalten, bin kurz aufgehalten worden.« Netsky hat Kaffee im Atem und Puderzucker auf dem rechten Ärmelaufschlag seines blauen Mantels. »Wo ist der tote Jid?«

»In zwei null acht«, sagt Landsman und öffnet dem Latke die Tür. Dann wendet er sich wieder dem Alten zu. »Auch hinein, Väterchen?«

»Nein«, sagt der kleine Mann mit dem Anflug einer Gemütsregung, die Landsman nicht recht deuten kann. Es könnte Bedauern oder Erleichterung sein oder aber die grimmige Genugtuung eines Mannes, der eine Schwäche für Enttäuschungen hat.

Das Flackern in seinen Augen ist einem Tränenfilm gewichen. »Ich war nur neugierig. Danke, Officer Landsman.«

»Ich bin jetzt Detective«, sagt Landsman, überrascht, woher der Alte seinen Namen kennt. »Können Sie sich an mich erinnern, Väterchen?«

»Ich erinnere mich an alles, Liebchen.« Dann greift Elija in eine Tasche seines bleichgelben Mantels und holt seine Puschke hervor, ein schwarz angemaltes Holzkästchen, ungefähr von der Größe eines Karteikartenkastens. Darauf steht in hebräischen Buchstaben geschrieben: L’ERETZ JISROEL. Im Deckel ist ein schmaler Schlitz für Münzen und gefaltete Dollarnoten.

»Eine kleine Gabe?«, fragt Elija.

Noch nie war das Heilige Land jemandem ferner und unerreichbarer als einem Juden aus Sitka. Es liegt auf der anderen Seite des Planeten, ein elender Ort, regiert von Menschen, die lediglich ihre Entschlossenheit eint, außer einer erschöpften, unbedeutenden Handvoll alle anderen Juden auszuschließen. Ein halbes Jahrhundert haben arabische Potentaten und muslimische Partisanen, Perser und Ägypter, Sozialisten, Nationalisten und Monarchisten, Panarabisten und Panislamisten, Traditionalisten und Schiiten, haben sie alle ihre Zähne in Eretz Jisroel geschlagen und es bis auf Knochen und Knorpel abgenagt. Jerusalem ist eine Stadt des Bluts, der Parolen an Hauswänden, eine Stadt der abgetrennten Köpfe auf Telefonmasten. Gläubige Juden auf der ganzen Welt haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, eines Tages im Lande Zion zu leben. Aber bisher sind die Juden dreimal rausgeworfen worden: 586 vor Christus, 70 nach Christus und 1948 mit wütender Entschlossenheit. Selbst den Gläubigen fällt es schwer, hinsichtlich ihrer Chancen, noch einmal einen Fuß in die Tür zu schieben, nicht eine gewisse Mutlosigkeit aufkommen zu lassen.

Landsman holt seine Brieftasche hervor und steckt einen gefalteten Zwanziger in Elijas Puschke.

»Viel Glück«, sagt Landsman.

Der kleine Mann hievt seinen schweren Koffer hoch und will davonschlurfen. Landsman hält ihn am Ärmel fest, eine Frage formt sich in seinem Herzen, eine Kinderfrage über den alten Wunsch seines Volks nach einer Heimat. Mit geübt wachsamem Blick dreht sich Elija um. Vielleicht ist Landsman ja irgendein Aufwiegler. Landsman spürt, dass die Frage abebbt wie das Nikotin in seinem Blut.

»Was haben Sie da in der Tasche, Väterchen?«, sagt er. »Sieht schwer aus.«

»Ein Buch.«

»Ein einziges?«

»Es ist sehr groß.«

»Lange Geschichte?«

»Sehr lang.«

»Wovon handelt sie?«

»Von Messias«, sagt der kleine Mann. »Und jetzt nehmen Sie bitte Ihre Hand fort.«

Landsman lässt los. Der Alte drückt den Rücken durch und hebt den Kopf. Auf seiner Stirn ziehen schwere Wolken auf, und er sieht zornig aus, hochmütig und nicht im Geringsten alt.

»Messias kommt«, sagt er. Es ist keine richtige Warnung, doch als Erlösungsversprechen fehlt es dem Satz an der gewissen Wärme.

»Das trifft sich gut«, sagt Landsman und weist mit dem Daumen in Richtung Hotellobby. »Seit heute haben wir nämlich ein Zimmer frei.«

Elija ist verletzt, vielleicht auch nur empört. Er öffnet das kleine schwarze Kästchen und schaut hinein. Dann holt er den Zwanzigdollarschein hervor, den Landsman gespendet hat, und gibt ihn zurück. Er hebt seinen Koffer an, zieht seinen weißen Schlapphut tief in die Stirn und trottet im Regen davon.

Landsman zerknüllt den Zwanziger und lässt ihn in seine Gesäßtasche gleiten. Er tritt die Papiros unter dem Schuh aus und geht ins Hotel.

»Was war denn das für ein Spinner?«, fragt Netsky.

»Wird Elija genannt. Harmlos«, sagt Tenenboym hinter dem Metallgeflecht des Rezeptionsfensters. »Früher hat man ihn öfter mal gesehen. Immer schick gemacht für Messias.« Tenenboym klackert mit einem goldenen Zahnstocher gegen seine Backenzähne. »Hören Sie, Detective, eigentlich muss ich ja nichts sagen. Aber ich kann’s Ihnen genauso gut erzählen. Morgen kommt ein Brief vom Hotel.«

»Da bin ich aber gespannt«, sagt Landsman.

»Es wurde an einen Konzern aus Kansas City verkauft.«

»Wir werden rausgeworfen.«

»Kann sein«, sagt Tenenboym. »Kann auch nicht sein. Bei keinem hier ist der Status klar. Aber möglich ist es schon, dass Sie eventuell ausziehen müssen.«

»Und das steht in diesem Brief?«

Tenenboym zuckt mit den Achseln. »Der Brief ist in Fachchinesisch geschrieben.«

Landsman stellt Netsky, den Latke, am Eingang ab.

»Erzählen Sie den Leuten nicht, was sie gehört oder gesehen haben«, schärft er ihm ein. »Und setzen Sie ihnen nicht so stark zu, auch wenn sie aussehen, als könnten sie es gebrauchen.«

Vom prasselnden Regen wird Menashe Shpringer, der Ermittler aus der Nachtschicht, in die Lobby geweht. Er trägt einen schwarzen Mantel und eine Pelzmütze, in einer Hand hält er einen tropfenden Regenschirm. Mit der anderen zieht er einen Chromcaddy hinter sich her, auf den mit einer Gummistrippe sein schwarzer Kunststoffwerkzeugkasten und ein Plastikeimer mit Löchern zum Hineingreifen gezurrt sind. Shpringer ist ein Hydrant, er hat kurze O-Beine und affenartige Arme, die ohne vorteilhafte Schultern direkt vom Hals abgehen. Sein Gesicht besteht fast nur aus Wangen, und seine gefurchte Stirn sieht aus wie jene kuppelförmigen Bienenkörbe, die auf mittelalterlichen Holzschnitten den Fleiß symbolisieren. Auf dem Plastikeimer prangt mit blauen Buchstaben das Wort BEWEISMITTEL.

»Verlassen Sie die Stadt?«, fragt Shpringer. Das ist in diesen Tagen keine ungewöhnliche Begrüßung. In den vergangenen zwei Jahren haben viele Menschen die Stadt verlassen, sind aus dem Distrikt zu den wenigen Orten geflohen, wo sie freundlich empfangen werden oder wo man es satthat, nur aus zweiter Hand von Pogromen zu hören, und hofft, selbst mal eins zu veranstalten. Landsman sagt, soweit er wisse, gehe er nirgends hin. Die meisten Städte, die Juden aufnehmen, machen zur Bedingung, dass schon ein naher Verwandter dort lebt. Alle nahen Verwandten von Landsman sind entweder tot oder selbst von der Reversion betroffen.

»Dann möchte ich mich jetzt für immer von Ihnen verabschieden«, sagt Shpringer. »Morgen Abend um diese Zeit schwitze ich schon in der warmen Sonne von Saskatchewan.«

»In Saskatoon?«, rät Landsman.

»Null Grad waren es da heute«, sagt Shpringer. »Tageshöchsttemperatur.«

»Sehen Sie es mal anders«, sagt Landsman. »Sie könnten auch in diesem Rattenloch leben.«

»Im Zamenhof.« Shpringer zieht in Gedanken Landsmans Akte hervor und runzelt die Stirn ob ihres Inhalts. »Stimmt. Home sweet home, was?«

»Passt zu meinem gegenwärtigen Lebensstil.«

Shpringer zeigt ein schmales Lächeln, das so gut wie frei von Mitleid ist.

»Wo geht’s zu dem Toten?«, fragt er.

4.

Als Erstes dreht Shpringer alle Birnen herein, die Lasker herausgeschraubt hat. Dann klappt er seine Sicherheitsbrille herunter und macht sich an die Arbeit. Er verpasst Lasker eine Maniküre und eine Pediküre und sucht in seinem Mund nach einem abgetrennten Finger oder einer Bronzedublone. Mit Kohlenstaub und Pinsel nimmt er Fingerabdrücke. Er macht dreihundertsiebzehn Polaroidfotos. Er macht Aufnahmen von der Leiche, dem Zimmer, dem perforierten Kopfkissen, den abgenommenen Fingerabdrücken. Er macht ein Bild vom Schachbrett.

»Noch eins für mich«, sagt Landsman. Shpringer schießt ein zweites Foto von dem Spiel, das der Mörder Lasker nicht zu Ende spielen ließ. Mit erhobener Augenbraue reicht er es Landsman.

»Wichtiges Indiz«, sagt Landsman.

Stück für Stück löst Shpringer die nimzo-kroatische Verteidigung des Toten auf, oder was auch immer er gerade spielte. Jede Figur kommt in ein kleines Tütchen.

»Warum sind Sie so schmutzig?«, fragt er, ohne Landsman anzusehen.

Landsman registriert den hellbraunen Staub, der an seinen Schuhspitzen, an den Aufschlägen und Knien seiner Hose haftet.

»Ich war im Keller. Da unten ist eine große … keine Ahnung … eine Art Versorgungsrohr.« Er spürt, wie das Blut in seine Wangen schießt. »Musste ich überprüfen.«

»Ein Warschauer Tunnel«, sagt Shpringer. »Die ziehen sich überall durch diesen Teil der Untershtot.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht!«

»Als die Grünlinge herkamen, nach dem Krieg. Die im Warschauer Ghetto gewesen waren. Oder in Bialystok. Die Widerstandskämpfer. Ich glaube, manche trauten den Amerikanern nicht so recht. Deshalb bauten sie Tunnel. Für den Fall, dass sie irgendwann wieder kämpfen müssten. Das ist der wahre Grund, warum es Untershtot heißt.«

»Ein Gerücht, Shpringer. Ein Großstadtmythos. Das da unten ist bloß ein Versorgungsrohr.«

Shpringer brummt. Er tütet Badelaken, Handtuch und ein abgenutztes Stück Seife ein. Er zählt die auf der Toilettenbrille klebenden rotblonden Schamhaare und verpackt jedes einzeln.

»Apropos Gerücht«, sagt er. »Haben Sie was von Felsenfeld gehört?«

»Was soll das heißen, ob ich was von ihm gehört habe?« Gemeint ist Inspector Felsenfeld, der Leiter des Dezernats. »Ich hab ihn heute Nachmittag noch gesehen«, sagt Landsman. »Gehört habe ich nichts von ihm. Der Mann hat seit zehn Jahren keine drei zusammenhängenden Wörter rausgebracht. Was ist das für eine Frage? Was für ein Gerücht?«

»Ich meinte nur.«

Shpringer fährt mit seinen latexbehandschuhten Fingern über die sommersprossige Haut von Laskers linkem Arm. Er sieht Einstichwunden und die schwachen Abdrücke der Aderpresse, mit der sich der Verstorbene abband.

»Felsenfeld lief den ganzen Tag mit der Hand auf dem Bauch herum«, sagt Landsman nachdenklich. »Ich meine gehört zu haben, dass er ›Sodbrennen‹ sagte.« Dann: »Was sehen Sie?«

Mit gerunzelter Stirn betrachtet Shpringer die Haut über Laskers Ellenbogen, wo sich die Abdrücke der Aderpresse mehren.

»Sieht aus, als hätte er einen Gürtel benutzt«, sagt Shpringer. »Nur ist sein Gürtel zu breit für diese Abdrücke.«

Laskers Gürtel hat er bereits in eine braune Papiertüte gesteckt, genauso wie zwei graue Hosen und zwei blaue Sakkos.

»Sein Besteck ist in der Schublade, in einem schwarzen Etui«, sagt Landsman. »Ich hab nicht so genau hingeguckt.«

Shpringer öffnet die Lade von Laskers Nachttisch und holt eine schwarze Kulturtasche hervor. Er zieht den Reißverschluss auf und gibt einen seltsam kehligen Laut von sich. Zuerst kann Landsman nicht erkennen, was Shpringers Interesse geweckt hat.

»Was wissen Sie über diesen Lasker?«, fragt Shpringer.

»Ich wage die Vermutung, dass er gelegentlich Schach gespielt hat«, sagt Landsman. Eins der drei Bücher im Zimmer ist eine abgegriffene Taschenbuchausgabe mit brüchigem Rücken von Siegbert Tarraschs 300 Schachpartien. Innen auf dem hinteren Umschlag klebt eine Papiertasche mit einer Karte, der zu entnehmen ist, dass es in der Öffentlichen Zentralbibliothek von Sitka letztmals im Juli 1986 ausgeliehen wurde. Landsman muss daran denken, dass er im Juli 1986 zum ersten Mal mit seiner damals zukünftigen Exfrau schlief. Bina war zwanzig, Landsman dreiundzwanzig, es war der Höhepunkt des nordischen Sommers. Juli 1986 ist ein Datum, das auf die Karte in der Tasche von Landsmans Illusionen gedruckt ist. Die anderen beiden Bücher sind billige jiddische Thriller. »Davon abgesehen, weiß ich Ziegendreck.«

Wie Shpringer aus den Abdrücken auf Laskers Arm folgert, war die vom Verstorbenen gewählte Aderpresse offenbar ein schwarzer Lederriemen, ungefähr anderthalb Zentimeter breit. Shpringer zieht ihn aus der Kulturtasche und hält ihn mit zwei Fingern hoch, als könnte er beißen. In der Mitte des Riemens befindet sich eine kleine Lederkapsel für das Pergament, auf das ein Schriftgelehrter mit Tinte und Feder vier Abschnitte der Thora geschrieben hat. Jeden Morgen wickelt sich ein frommer Jude so ein Ding um den linken Arm, ein zweites hält er sich an die Stirn und bittet dann darum, diesen Gott zu verstehen, der Menschen zwingt, so etwas an jedem verdammten Tag ihres Lebens zu tun. Doch die kleine Kapsel von Emanuel Laskers Gebetsriemen ist leer. Er war lediglich das Instrument seiner Wahl, um die Venen in seinem Arm zu erweitern.

»Das ist mal was Neues«, sagt Shpringer. »Sich mit Tefillin abbinden.«

»Jetzt, wo ich drüber nachdenke«, sagt Landsman. »Er hatte so was. Als wäre er früher vielleicht mal ein Schwarzhut gewesen. Die bekommen so einen … weiß nicht. Sie sehen so geschoren aus.«

Landsman zieht einen Handschuh über, umfasst Laskers Kinn und dreht den Kopf des Toten, diese geschwollene Maske von Blutgefäßen, von einer Seite zur anderen.

»Falls er mal einen Bart getragen hat, muss das länger her sein«, sagt Landsman. »Seine Gesichtsfarbe ist gleichmäßig.«

Er lässt Laskers Kopf los und tritt von der Leiche zurück. Es wäre nicht ganz zutreffend zu behaupten, dass er Lasker für einen ehemaligen Schwarzhut hält. Doch Landsman meint, dass Lasker mit seinem pummeligen Kinn und seiner selbstzerstörerischen Aura einmal mehr gewesen sein muss als ein strumpfloser Junkie in einer billigen Absteige. Er seufzt.

»Was würde ich dafür geben«, sagt Landsman, »jetzt am sonnigen Strand von Saskatoon zu liegen.«

Auf dem Flur tut sich etwas, Metall und Gurte klirren, kurz darauf kommen zwei Mitarbeiter des Leichenschauhauses mit einer Klapptrage herein. Shpringer weist sie an, ihm den Eimer mit den Beweismitteln und die von ihm gefüllten Tüten anzureichen, dann rumpelt er nach draußen. Ein Reifen seiner kleinen Sackkarre quietscht.

»Ein Haufen Scheiße«, erklärt Landsman den Männern aus der Leichenhalle und meint damit den Fall, nicht das Opfer. Sein Urteil scheint sie weder zu überraschen noch eine Neuigkeit für sie zu sein. Landsman steigt wieder hoch zu seinem Zimmer, um sich zu seiner Flasche Sliwowitz und dem Weltausstellungsglas zu gesellen, das seine Zuneigung gewonnen hat. Er setzt sich auf den Stuhl neben dem Sperrholztisch, ein schmutziges Hemd als Sitzkissen. Er holt das Polaroid aus der Tasche und studiert Laskers hinterlassene Partie, versucht herauszufinden, ob Weiß oder Schwarz dran war und was jeweils der nächste Zug gewesen sein könnte. Aber es sind zu viele Figuren, und es ist zu schwer, die Züge im Kopf zu behalten, und Landsman besitzt nichts, was einem Schachbrett gleichkommt, auf dem er die Partie nachstellen könnte. Nach einigen Minuten merkt er, dass er in den Schlaf abgleitet. Nein, das wird er nicht tun, nicht wenn er weiß, dass lediglich abgedroschene Escherträume, wirre Schachbrettmuster und gewaltige Türme mit phallischen Schatten auf ihn warten.

Er zieht sich aus, stellt sich unter die Dusche und legt sich dann mit weit aufgerissenen Augen hin und kramt Erinnerungen — seine kleine Schwester in ihrer Super Cub, Bina im Sommer 1986 — aus kleinen Plastiktüten. Er betrachtet sie, als seien sie Notationen vergangener Schachmatts oder Meisterzüge in einem verstaubten, aus der Bibliothek entwendeten Buch. Nach einer halben Stunde dieser sinnvollen Betätigung steht er auf, zieht ein sauberes Hemd und eine Krawatte an und macht sich auf zur Dienststelle, um den Tatortbericht zu verfassen.

5.

Landsman lernte das Schachspiel durch seinen Vater und seinen Onkel Hertz hassen. Die beiden Schwager waren Freunde aus Kindertagen in Lodz, wo sie dem Jugendschachclub Makkabi angehörten. Landsman weiß noch, wie sie sich über jenen Tag im Sommer 1939 unterhielten, als der große Tartakower den Jungs von Makkabi einen Besuch abstattete, um ihnen eine Kostprobe seines Könnens zu geben. Savielly Tartakower war polnischer Staatsbürger, internationaler Großmeister und ein Original, berühmt für seinen Ausspruch: »Fehler sind da, um gemacht zu werden.« Auf dem Rückweg von Paris, wo er für eine französische Schachzeitschrift von einem Turnier berichtet hatte, besuchte er den Leiter des Jugendschachclubs Makkabi, einen alten Kameraden aus seiner Zeit an der russischen Front in Franz Josefs Armee. Auf Drängen des Leiters bot Tartakower nun dem besten jungen Spieler des Clubs, Isidor Landsman, eine Partie an.

Gemeinsam nahmen sie Platz, der stramme Kriegsveteran in seinem Maßanzug mit der schroffen guten Laune und der stammelnde Fünfzehnjährige mit dem nach außen schielenden Auge, dem zurückweichenden Haaransatz und einem Schnurrbart, der oft fälschlicherweise für einen rußigen Daumenabdruck gehalten wurde. Tartakower wählte Schwarz. Landsmans Vater entschied sich für die Englische Eröffnung. In der ersten Stunde spielte Tartakower unaufmerksam, ja autonom. Er ließ seinen berühmten Schachmotor im Leerlauf brummen und verrichtete Dienst nach Vorschrift. Nach vierunddreißig Zügen bot Tartakower Landsmans Vater freundlich spöttelnd ein Remis an. Landsmans Vater musste dringend pinkeln, seine Ohren summten, er schob das Unvermeidliche nur vor sich her. Doch wies er das Angebot zurück. Sein Spiel basierte nun lediglich auf Instinkt und Verzweiflung. Er reagierte, lehnte jeden Austausch ab, sein Vorteil bestand einzig und allein in seiner Sturheit und dem animalischen Gespür für das Brett. Nach siebzig Zügen, vier Stunden und zehn Minuten wiederholte Tartakower sein früheres Angebot, nicht mehr ganz so freundlich. Gequält vom Tinnitus und kurz davor, sich in die Hose zu machen, nahm Landsmans Vater an. In späteren Jahren erzählte er manchmal, dass sein Hirn, dieses sonderbare Organ, sich nie so recht von jener Tortur erholt hätte. Doch sollten natürlich noch schlimmere Torturen kommen.

»Das war alles andere als vergnüglich«, soll Tartakower zu Landsmans Vater gesagt haben, als er sich vom Stuhl erhob. Der junge Hertz Shemets mit seinem untrüglichen Blick für die Schwächen anderer Menschen hatte ein Zittern in Tartakowers Hand bemerkt, die ein eilig herbeigeholtes Glas Tokajer hielt. Dann zeigte Tartakower auf den Schädel von Isidor Landsman. »Aber es ist sicher angenehmer, als darin leben zu müssen.«

Keine zwei Jahre später trafen Hertz Shemets, seine Mutter und seine kleine Schwester Freydl mit der ersten Welle Galizianer Siedler auf Baranof Island in Alaska ein. Sie kamen mit der berüchtigten Diamond, einem Truppentransporter aus dem Ersten Weltkrieg, den Innenminister Ickes hatte entmotten lassen und, so will es die Legende, zur zweifelhaften Ehre des verstorbenen Anthony Dimond umtaufen lassen, dem nicht abstimmungsberechtigten Abgeordneten des Territoriums Alaska im Repräsentantenhaus. (Der Abgeordnete Dimond hatte vorgehabt, das Gesetz zur Besiedlung Alaskas im Ausschuss zu kippen, doch dann hatte auf einer Kreuzung in Washington, D. C., ein betrunkener, taxifahrender Schlemiel namens Denny Lanning interveniert und war so zum ewigen Helden der Juden von Sitka geworden.) Dünn, blass, verwirrt ging Hertz Shemets von Bord der Diamond, stieg aus der Dunkelheit und dem Muff von Suppe und rostigen Pfützen in die saubere, kühle Würze der Kiefern von Sitka. Zusammen mit seiner Familie und seinem Volk wurde er gemäß den Bestimmungen des Siedlungsgesetzes von 1940 wie ein Zugvogel nummeriert, geimpft, entlaust und etikettiert. In einer Pappschachtel trug er seinen »Ickes-Pass« mit sich herum, ein besonderes Behelfsvisum aus besonders verschmierter Tinte auf besonders dünnem Papier.

Er konnte nirgends anders hin. So stand es in großen Buchstaben vorne auf dem Ickes-Pass. Ihm war nicht gestattet, nach Seattle oder San Francisco zu reisen, nicht einmal nach Juneau oder Ketchikan. Die bisherigen Quoten für jüdische Einwanderer in die Vereinigten Staaten blieben weiterhin gültig. Selbst nach dem frühzeitigen Ableben Dimonds konnte das Gesetz dem amerikanischen Staatskörper nur mit einem gewissen Druck und unter Zuhilfenahme von Schmiermitteln aufgezwungen werden, und zu dieser Vereinbarung gehörte die Einschränkung jüdischer Bewegungsfreiheit.

Unmittelbar nach den Juden aus Deutschland und Österreich wurden die Shemets-Familie und die übrigen Galizianer nach Camp Slattery abgeschoben, ein Lager in einem Sumpfgebiet, zehn Meilen entfernt von der leidgeprüften, halb verfallenen Stadt Sitka, Hauptstadt der alten Kolonie Russisch-Alaska. In zugigen Blechhütten und Baracken durchlitten die Siedler eine gründliche sechsmonatige Eingewöhnungsphase unter dem Elitekommando von fünfzehn Milliarden Mücken, bestellt vom amerikanischen Innenministerium. Hertz wurde zum Straßenbau zwangsverpflichtet und dann der Kolonne zugewiesen, die den Flughafen von Sitka baute. Er verlor zwei Backenzähne, als er in einem Senkkasten tief im Hafenschlamm von Sitka arbeitete und von einer Schaufel getroffen wurde. Wann immer man in späteren Jahren mit ihm über die Tshernovits-Brücke fuhr, rieb er sich den Kiefer, und die strengen Augen in seinem scharf geschnittenen Gesicht bekamen einen wehmütigen Ausdruck. Freydl wurde in eine eiskalte Scheune zur Schule geschickt, auf deren Dach unentwegt Regen prasselte. Der Mutter wurden die Grundlagen der Landwirtschaft beigebracht, der Einsatz von Pflug, Düngemittel und Bewässerungsschläuchen. In Broschüren und auf Plakaten wurde die knappe Wachstumsperiode in Alaska als Allegorie auf die kurze Dauer ihres Aufenthalts dargestellt. Mrs. Shemets sollte sich die Ansiedlung in Sitka wie einen Keller oder ein Gewächshaus vorstellen, in dem sie und ihre Kinder, Blumenzwiebeln gleich, den Winter über untergebracht waren, bis die Heimaterde so weit aufgetaut war, dass sie dorthin verpflanzt werden konnten. Niemand vermochte sich vorzustellen, dass der Boden Europas so dick mit Salz und Asche bedeckt sein würde.

Trotz der landwirtschaftlichen Bemühungen wurden die von der Siedlungsvereinigung Sitka angeregten bescheidenen Gehöfte und Bauernhof-Kooperativen niemals Wirklichkeit. Japan griff Pearl Harbor an. Die Aufmerksamkeit des Innenministeriums verlagerte sich auf dringendere strategische Probleme wie Ölreserven und Bergbau. Zum Abschluss des Halbjahres am »Ickes-College« bekam die Familie Shemets wie die meisten ihrer Mitflüchtlinge einen Tritt versetzt, sie sollten sich nun allein durchs Leben schlagen. Genau wie der Abgeordnete Dimond vorausgesagt hatte, zogen sie nach Norden in die schroffe, neuerdings florierende Stadt Sitka. Hertz studierte Strafrecht am neuen Technischen Institut Sitka und wurde nach seinem Abschluss 1948 als Fachkraft von der ersten großen amerikanischen Kanzlei angestellt, die in Sitka eine Zweigstelle eröffnete. Seine Schwester Freydl, die Mutter von Landsman, gehörte zu den ersten Pfadfinderinnen der Siedlung.

1948: seltsame Zeiten für Juden. Im August brach die Verteidigung von Jerusalem zusammen, und die zahlenmäßig unterlegenen Juden der drei Monate alten Republik Israel wurden verjagt, massakriert und ins Meer getrieben. Als Hertz seine Stelle bei Foehn Harmattan & Buran antrat, begann der Ausschuss für Territorien und Inselfragen des Weißen Hauses mit einer lange hinausgezögerten Überprüfung des Status, die das Siedlungsgesetz von Sitka vorschrieb. Wie der Rest des Kongresses, wie die meisten Amerikaner, war der Ausschuss erschüttert angesichts der grausamen Enthüllungen über das Abschlachten von zwei Millionen europäischer Juden, von der Unmenschlichkeit der zionistischen Zerstörung, von der Not der Flüchtlinge aus Palästina und Europa. Zugleich war man praktisch veranlagt. Die Bevölkerung der Siedlung Sitka war bereits auf zwei Millionen angewachsen. Dem Gesetz zuwiderhandelnd, hatten sich Juden an der gesamten Westküste von Baranof Island bis nach Kruzof und hoch bis nach West Chichagof Island ausgebreitet. Die Wirtschaft florierte. Und die amerikanischen Juden betrieben immense Lobbyarbeit. Schließlich gestand der Kongress der Siedlung Sitka einen »Interimsstatus« als Bundesdistrikt zu. Eine Anwartschaft auf staatliche Souveränität wurde ausdrücklich ausgeschlossen. GESETZGEBER VERSPRICHT: KEIN JUDALASKA lautete die Schlagzeile im Pioneer von Anchorage. Die Betonung lag immer auf dem Wort »Interim«. Nach sechzig Jahren würde der Status aufgehoben werden, und die Juden von Sitka würden wieder auf sich selbst gestellt sein.

An einem warmen Septembernachmittag, nicht lange nach dem Distrikt-Tag, überzog Hertz Shemets seine Mittagspause und ging die Seward Street entlang, als er zufällig seinen alten Kumpel aus Lodz, Isidor Landsman, traf. Landsmans Vater war gerade in Sitka eingetroffen, allein, an Bord der Williwaw, frisch von einer Tour durch die Todes- und Flüchtlingslager Europas. Er war fünfundzwanzig, kahlköpfig und hatte fast keine Zähne mehr. Bei einer Körpergröße von einem Meter achtzig wog er siebenundfünfzig Kilo. Er roch komisch, redete wirr und hatte als Einziger seiner Familie überlebt. Er war unempfänglich für den sprühenden Pioniergeist im Zentrum von Sitka, für die Arbeitskolonnen junger Jüdinnen mit blauen Kopftüchern, die Negerspirituals mit Sprüchen von Lincoln und Marx auf Jiddisch sangen. Der kernige Geruch von Fisch, gefällten Bäumen und umgegrabener Erde, das Rumoren von Baggern, die Anhöhen ebneten und den Sund von Sitka füllten, das alles schien ihn nicht zu berühren. Er ging gesenkten Kopfes und mit hochgezogenen Schultern, als grabe er sich auf seinem unerklärlichen Weg durch diese Welt lediglich von einer unbekannten Dimension in die nächste. Nichts drang in den dunklen Tunnel seiner Reise, nichts spendete ihm Licht. Doch als Isidor Landsman merkte, dass der grinsende Mann mit dem öligen Haar und den glänzenden Schuhen, dieser Mann, der nach Cheeseburger mit gerösteten Zwiebeln roch, just verspeist an der Imbisstheke von Woolworth, sein alter Freund Hertz Shemets vom Jugendschachclub Makkabi war, hob er den Blick. Die ewige Verspannung wich aus seinen Schultern. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, sprachlos vor Scham, Freude und Staunen. Dann brach er in Tränen aus.

Hertz nahm Landsmans Vater mit zu Woolworth, kaufte ihm etwas zu essen (ein Eiersandwich, seinen ersten Milchshake, anständige Gewürzgurken) und führte ihn dann die Lincoln Street hinunter zum neuen Hotel Einstein, in dessen Café die großen Verbannten der jüdischen Schachwelt sich Tag für Tag trafen, um sich herz- und erbarmungslos zu vernichten. Landsmans Vater, zu jenem Zeitpunkt halb irre durch das frisch zugeführte Fett, den Zucker und die schleichenden bösen Folgen von Typhus, machte kurzen Prozess. Er nahm es mit jedem Ankömmling auf und schickte jeden Einzelnen so vernichtend geschlagen aus dem Einstein, dass ein oder zwei seiner Gegner ihm niemals verziehen.

Schon damals legte er die düstere, gequälte Spielweise an den Tag, die dazu beitrug, Landsman den Sport bereits als Kind zu vergällen. »Dein Vater spielte Schach«, sagte Hertz Shemets einmal, »als hätte er gleichzeitig Zahnschmerzen, Hämorrhoiden und Blähungen.« Er seufzte, er stöhnte. Wie von Sinnen zog er an den stoppeligen Resten seines braunen Haars oder jagte es mit der Hand kreuz und quer über seinen Schädel wie ein Bäckermeister, der Mehl auf einer Marmorplatte verstreut. Die Fehler seiner Gegner verursachten ihm Magenkrämpfe. Seine eigenen Züge, so wagemutig, überraschend, originell und klug sie auch waren, trafen ihn wie furchtbare Nachrichten, sodass er bei ihrem Anblick die Hand vor den Mund schlug und die Augen verdrehte.

Onkel Hertz’ Stil war ein völlig anderer. Er spielte ruhig, strahlte Gleichgültigkeit aus, hielt den Körper in einem Winkel zum Brett, als erwarte er in Kürze eine Mahlzeit auf dem Tisch vor sich oder ein hübsches Mädchen auf seinem Schoß. Aber seinen Augen entging nichts, so wie sie auch das verräterische Zittern in Tartakowers Hand an jenem Tag im Makkabi-Club bemerkt hatten. Mit stoischer Ruhe nahm er seine Niederlagen hin, seine Chancen mit leichter Belustigung. Eine Broadway nach der anderen rauchend, beobachtete er, wie sein alter Freund sich durch die versammelten Genies des Einstein wand und murmelte. Als der Raum schließlich völlig brachlag, machte Hertz den entscheidenden Zug. Er lud Isidor Landsman zu sich nach Hause ein.

Im Sommer 1948 lebte die Familie Shemets in einer Zweizimmerwohnung in einem brandneuen Gebäude auf einer brandneuen Insel. Das Gebäude war die Heimat von zwei Dutzend Familien, allesamt »Eisbären«, wie sich die erste Welle der Flüchtlinge nannte. Die Mutter schlief im Schlafzimmer, Freydl auf dem Sofa, und Hertz richtete sich ein Bett auf dem Fußboden. Inzwischen waren sie alle gestandene Alaska-Juden, das heißt: sie waren Utopisten, das heißt: sie sahen Unzulänglichkeiten, wohin sie auch blickten. Es war eine spitzzüngige, streitsüchtige Familie, insbesondere Freydl Shemets, die mit vierzehn schon einen Meter siebzig maß und einhundertzehn Kilo wog. Sie warf nur einen Blick auf Landsmans Vater, der unschlüssig zögernd in der Wohnungstür stand, und diagnostizierte zutreffend, dass er ebenso wenig kulturfähig und zugänglich wie die Wildnis sei, die sie zusehends als ihre Heimat betrachtete. Es war Liebe auf den ersten Blick.

In späteren Jahren war es schwer für Landsman, aus seinem Vater herauszubekommen, was er in Freydl Shemets gesehen hatte. Mit ihren ägyptischen Augen und der olivbraunen Haut war sie kein hässliches Mädchen. Ihre kurze Hose, die Wanderstiefel und die aufgerollten Ärmel ihres karierten Hemdes verströmten den alten Geist der Makkabi-Bewegung von mens sana in corpore sano. Sie bedauerte Isidor Landsman unendlich für den Verlust seiner Familie, für sein Leiden in den Lagern. Aber sie gehörte zu den Kindern der Eisbären, und die verarbeiteten ihre Schuldgefühle, dem Dreck, dem Hunger, den Gräben und Todesfabriken entkommen zu sein, indem sie den Überlebenden einen unablässigen Schwall von Ratschlägen, Informationen und als Ermunterung getarnte Kritik angedeihen ließen. Als könne die erstickende, tief hängende schwarze Rauchwolke der Vernichtung nur von einem überzeugten Kibitzer vertrieben werden.

In jener ersten Nacht schlief Landsmans Vater mit Hertz auf dem Boden der Shemets-Wohnung. Am nächsten Tag ging Freydl mit ihm Kleidung kaufen und bezahlte alles von dem für ihre Bat Mitzwa gesparten Geld. Sie half ihm, bei einem jüngst verwitweten Mann ein Zimmer zu mieten.

In dem Glauben, sein Haar würde nachwachsen, rieb sie seine Glatze mit Zwiebeln ein. Sie verwöhnte ihn mit Kalbsleber für sein träges Blut. In den folgenden fünf Jahren bedrängte und piesackte und plagte sie ihn, bis er gerade saß, beim Sprechen seinem Gegenüber in die Augen schaute, amerikanisches Englisch lernte und ein Gebiss trug. Sie heiratete ihn einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag und bekam eine Stelle bei der Tog von Sitka, wo sie sich über die Frauenseite zur Kulturredakteurin hocharbeitete. Sie schuftete an fünf Tagen in der Woche sechzig bis fünfundsiebzig Stunden, bis sie an Krebs starb. Da war Landsman auf dem College. In derselben Zeit beeindruckte Hertz Shemets die amerikanischen Anwälte von Foehn Harmattan so sehr, dass sie Spenden sammelten und an den Fäden zogen, die gezogen werden mussten, um ihn zum Jurastudium nach Seattle zu schicken. Später wurde er der erste Jude, der beim FBI in Sitka angestellt wurde, dann der erste Distriktleiter, und schließlich führte er, Hoover ins Auge gefallen, die lokale Spionageabwehr des FBI.

Landsmans Vater spielte Schach.

Jeden Morgen, bei Regen, Schnee oder Nebel, ging er zu Fuß die zwei Meilen zum Café des Hotel Einstein, setzte sich weit hinten an einen aluminiumbeschichteten Tisch mit Blick auf die Tür und holte ein kleines Schachspiel mit Figuren aus Ahorn und Kirschholz hervor, ein Geschenk seines Schwagers. Abends saß er auf seiner Bank hinter dem kleinen Haus auf der Adler Street in Halibut Point, in dem Landsman aufwuchs, und pflegte die acht oder neun Briefpartien, die er gleichzeitig spielte. Er verfasste Artikel für die Chess Review. Er überarbeitete eine Biographie von Tartakower, eine Arbeit, die er nie ganz abschloss, aber auch nicht aufgab. Er bekam eine Rente von der deutschen Regierung. Und mit Unterstützung seines Schwagers lehrte er seinen Sohn, das von ihm geliebte Spiel zu hassen.

»Das willst du doch nicht tun«, redete Landsmans Vater auf seinen Sohn ein, wenn der mit blutleeren Fingern seinen König oder Bauern einem Schicksal übergab, das immer wieder überraschend für Landsman kam, egal, wie intensiv er das Schachspiel studierte, übte oder praktizierte. »Glaub’s mir.«

»Tu ich doch.«

»Tust du nicht.«

Doch im Dienste seines eigenen kleinen Elends konnte auch Landsman stur sein. Befriedigt und brennend vor Scham sah er dann zu, wie das grausame Schicksal seinen Lauf nahm, das er nicht hatte vorausahnen können. Landsmans Vater erlegte seinen Sohn, nahm ihn aus und sezierte ihn, während er ihn von der baufälligen Veranda seines Gesichts aus beobachtete.

Nach einigen Jahren dieses Sports setzte sich Landsman an die Schreibmaschine seiner Mutter und tippte einen Brief an seinen Vater, in dem er ihm seinen Hass auf das Schachspiel beichtete und bat, nicht länger zum Spielen gezwungen zu werden. Eine Woche lang trug Landsman diesen Brief in seinem Tornister mit sich umher, erlitt drei weitere blutige Niederlagen und schickte ihn dann vom Postamt in der Untershtot aus ab. Zwei Tage später beging Isidor Landsman im Raum 21 des Hotel Einstein Selbstmord mit einer Überdosis Nembutal.

Danach bekam Landsman einige Probleme. Er nässte ins Bett, wurde dick, sprach nicht mehr. Seine Mutter schickte ihn zu einer Therapie bei einem bemerkenswert sanften und erfolglosen Arzt namens Melamed. Erst dreiundzwanzig Jahre nach dem Tod seines Vaters sollte Landsman den verhängnisvollen Brief in einer Kiste wiederfinden, in der auch eine Reinschrift der unvollendeten Biographie von Tartakower lag. Es stellte sich heraus, dass Landsmans Vater den Brief seines Sohnes niemals geöffnet, geschweige denn gelesen hatte. Als der Postbote ihn zustellte, war Landsmans Vater bereits tot.

6.

Auf dem Weg zu Berko hängt Landsman den Erinnerungen an jene alten schachspielenden Jids nach, die vornübergebeugt in der hintersten Ecke des Café Einstein saßen. Es ist Viertel nach sechs in der Früh, auf seiner Uhr. Nach dem Himmel, der leeren Hauptverkehrsstraße und dem Knoten der Furcht in seinem Magen zu urteilen, ist es mitten in der Nacht. So dicht am Polarkreis und an der Wintersonnenwende dauert es noch mindestens zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang.

Landsman sitzt am Steuer eines Chevrolet Chevelle Super Sport von 1971, den er vor zehn Jahren in einem Anflug von nostalgischem Optimismus gekauft hat und seitdem fährt, auch wenn die unsichtbaren Mängel des Wagens nicht mehr von seinen eigenen zu unterscheiden sind. Beim ’71er-Modell wurden die beiden Scheinwerferpaare durch ein einziges Paar ersetzt. Eine der Birnen ist durchgebrannt. Wie ein Zyklop tastet sich Landsman die Promenade entlang. Vor ihm erheben sich die Apartmenttürme der Shvartser-Yam auf ihrer künstlich angelegten Landzunge inmitten des Sitka-Sunds, sie kauern in der Dunkelheit wie von einem Wasserwerfer zusammengetriebene Gefangene.

Mitte der Achtzigerjahre, in den euphorischen Anfangstagen des legalen Casinobetriebs, bauten russische Schtarker Shvartser-Yam auf potenziellem Erdbebengelände. Time-share-Apartments, Ferienunterkünfte und Junggesellenwohnungen, das war die Idee, dazu im Zentrum des Geschehens das Grand-Yalta-Casino mit seinen überfüllten Tischen. Doch das legale Glücksspiel ist passe, es wurde vom Gesetz zur Erhaltung traditioneller Werte verboten, und das Casinogebäude beherbergt heute einen KosherMart, ein Walgreens und ein Outlet-Center von Big Macher. Die Schtarker finanzieren wieder illegale Lotterien, Wettstuben und Würfelspiele. Die Urlauber und lockeren Typen sind einer Bevölkerung aus zwielichtigen Gestalten der höheren Klasse, russischen Immigranten, einer Prise ultraorthodoxer Juden und einer Gruppe bürgerlicher Semikünstler gewichen, denen die Atmosphäre ruinierter Festlichkeit gefällt, die auf dieser Gegend liegt wie ein Streifen Lametta über dem Zweig einer nackten Tanne.

Die Familie Taytsh-Shemets wohnt im dreiundzwanzigsten Stock des Dnyeper. Das Dnyeper ist so rund wie ein Stapel Pastetendosen. Viele Bewohner verschmähen den schönen Blick auf den eingestürzten Kegel von Mt. Edgecumbe, den leuchtenden Safety Pin und die Lichter der Untershtot, denn sie haben ihre geschwungenen Balkone mit Sturmglas und Jalousien versehen, um einen zusätzlichen Raum zu gewinnen. So auch die Taytsh-Shemets, als das Kind kam — das erste. Jetzt schlafen die beiden kleinen Taytsh-Shemets dort draußen, verstaut auf dem Balkon wie ausrangierte Skier.

Landsman stellt seinen Super Sport hinter dem Müllcontainer in der Parklücke ab, die er inzwischen als seine betrachtet, auch wenn er vermutet, dass ein Mann besser keine zärtlichen Gefühle für eine Parklücke hegen sollte. Für das Auto einen Platz zu haben, der dreiundzwanzig Stockwerke unter einer immer gültigen Einladung zum Frühstück liegt, sollte im Herzen eines Mannes nie als Heimkehr gelten.

Er ist einige Minuten vor halb sieben da, und obwohl er ziemlich sicher ist, dass im Haushalt Taytsh-Shemets bereits alle auf den Beinen sind, entscheidet er sich für die Treppe. Das Treppenhaus des Dnyeper stinkt nach Seeluft, Kohl und kaltem Beton. Oben angekommen, zündet Landsman eine Papiros an, um sich für seinen Fleiß zu belohnen, bleibt auf der Fußmatte der Taytsh-Shemets’ stehen und leistet der Mesusa Gesellschaft. Einen Lungenflügel hat er bereits herausgehustet, der zweite ist unterwegs, als Ester-Malke Taytsh die Tür öffnet. In der Hand hält sie einen Schwangerschaftsteststreifen mit einem Tropfen Flüssigkeit auf der ausschlaggebenden Stelle. Das muss Urin sein. Als sie merkt, dass Landsman den Streifen registriert, lässt sie ihn kühl in der Tasche ihres Bademantels verschwinden.

»Du weißt, dass wir eine Klingel haben, oder?«, sagt ihre Stimme hinter einem wirren Vorhang ziegelbraunen Haars, das zu fein ist für die Bobfrisur, die sie immer trägt. Es hat die Angewohnheit, sich über ihr Gesicht zu ergießen, besonders wenn sie schlaue Sprüche von sich gibt. »Ich meine, husten geht natürlich auch.«

Sie lässt die Tür offen und Landsman auf der dicken Kokosmatte mit der Aufschrift »HAU AB« stehen. Beim Eintreten berührt Landsman die Mesusa mit zwei Fingern und küsst sie mechanisch. So macht man es, wenn man gläubig ist wie Berko oder ein sarkastisches Arschloch wie Landsman. Er hängt seinen Hut und den Mantel an ein Elchgeweih neben der Wohnungstür. Dann folgt er Ester-Malkes dürrem Hintern im weißen Baumwollbademantel durch den Flur in die Küche. Die Küche ist schmal und wie eine Kombüse eingerichtet: Herd, Spüle und Kühlschrank an der einen, die Schränke an der anderen Seite. Eine Frühstückstheke mit zwei Hockern bildet den Übergang zum Wohnesszimmer. Dampf ringelt sich in Comic-Eisenbahn-Wölkchen aus einem Waffeleisen auf der Arbeitsplatte. Die Kaffeemaschine hustet und spuckt wie ein angeschlagener jüdischer Polizist nach zehn Treppen.

Landsman nähert sich seinem Lieblingshocker und bleibt daneben stehen. Aus der Tasche seines Tweedsakkos holt er ein Miniaturschachspiel und packt es aus. Er hat es im 24-Stunden-Drugstore am Korczak-Platz gekauft.

»Der große Dicke noch im Schlafanzug?«, fragt er.

»Zieht sich an.«

»Der kleine Dicke?«

»Sucht ’ne Krawatte aus.«

»Und der andere, wie heißt er nochmal?« Nach der jüngsten Mode, Nachnamen zu Vornamen umzuschmieden, heißt der kleine Spross Feingold Taytsh-Shemets. Genannt wird er Goldy. Vor vier Jahren hatte Landsman die Ehre, Goldys kleine Beinchen festzuhalten, während sich ein uralter Jude mit einem Messer auf seine Vorhaut stürzte. »Seine Majestät.«

Als Antwort nickt Ester-Malke in Richtung Wohnesszimmer.

»Immer noch krank?«, fragt Landsman.

»Schon besser heute.«

Landsman geht um die Frühstückstheke herum und vorbei an der Glasplatte des Esstischs zur großen weißen Couchkombination, um sich anzusehen, was das Fernsehen mit seinem Patenkind anstellt.

»Guck mal, wer hier ist«, sagt er.

Goldy trägt seinen Eisbär-Schlafanzug — absolut angesagter Retrochic für jedes jüdische Kind in Alaska. Eisbären, Schneeflocken, Iglus und die übrige nordische Metaphorik, die in Landsmans Kindertagen so allgegenwärtig war — das alles ist wieder hochmodern. Nur scheint es diesmal ironisch gemeint zu sein. Schneeflocken, ja, die fanden die Juden hier vor, doch dank der Treibhausgase gibt es davon nun messbar weniger als in den alten Zeiten. Eisbären hingegen gar keine. Keine Iglus. Keine Rentiere. Eigentlich nur viele zornige Indianer, Nebel und Regen und ein fünfzig Jahre anhaltendes Gefühl, fehl am Platz zu sein, so durchdringend, so tief in den Organismus der Juden getrieben, dass es überall auftaucht, selbst auf den Pyjamas der Kinder.

»Gehst du heute zur Arbeit, Goldele?«, fragt Landsman. Er drückt den Handrücken gegen die Stirn des Jungen. Sie ist angenehm kühl. Goldys Jarmulke mit Shnapish, dem Hund, sitzt schief, Landsman streicht sie glatt und rückt die Haarklemme zurecht. »Geht’s auf Verbrecherjagd?«

»Klar, Onkel Meyer.«

Landsman hält dem Jungen die Hand hin, und ohne aufzusehen, schiebt Goldy sein trockenes kleines Pfötchen hinein. Ein blaues Rechteck schwimmt auf dem feuchten Film seiner dunkelbraunen Augen. Landsman hat die Sendung aus dem Schulfernsehen schon einmal zusammen mit seinem Patenkind geschaut. Wie neunzig Prozent aller Sendungen kommt sie aus dem Süden und wird jiddisch synchronisiert. Sie handelt von den Abenteuern zweier Kinder mit jüdischen Namen, die offensichtlich keine Eltern haben und aussehen, als wären sie halbe Indianer. Sie besitzen die magische Schuppe eines Drachens aus Kristall, mit der sie sich wünschen können, in das Land der Pastelldrachen zu reisen, die sich nur durch ihre Farbe und ihr Maß an Blödheit voneinander unterscheiden. Es dauert nicht lange, da verbringen die Kinder immer mehr Zeit mit der magischen Drachenschuppe, bis sie eines Tages in das Land der Regenbogenidiotie reisen und nicht mehr zurückkehren. Ihre Leichen werden vom Nachtportier einer billigen Unterkunft gefunden, jedes Kind hat eine Kugel im Hinterkopf. Vielleicht, denkt Landsman, geht durch die Übersetzung doch etwas verloren.

»Willst du immer noch ein Nos werden, wenn du einmal groß bist?«, fragt Landsman. »So wie dein Papa und Onkel Meyer?«

»Ja«, sagt Goldy, ohne Begeisterung. »Auf jeden Fall.«

»Guter Junge!«

Sie geben sich erneut die Hand. Dieses Gespräch ist für Landsman das Gegenstück zum Küssen der Mesusa: Anfangs macht man es aus Spaß, am Ende ist es ein Band, an dem man festhält.

»Fängst du mit Schach an?«, fragt Ester-Malke, als er in die Küche zurückkehrt.

»Gott bewahre!«, sagt Landsman. Er klettert auf den Hocker und plagt sich mit den winzigen Bauern, Springern und Königen seines Reisesets ab, arrangiert sie wie auf dem Brett, das der sogenannte Emanuel Lasker zurückließ. Landsman hat Schwierigkeiten, die Figuren auseinanderzuhalten, und immer wenn er sich eine vors Gesicht hält, um sie besser zu erkennen, lässt er sie fallen.

»Guck mich nicht so an!«, sagt er versuchsweise zu Ester-Malke, ohne sie anzusehen. »Das kann ich nicht leiden.«

»Verdammt, Meyer«, sagt sie mit Blick auf seine Hände. »Du bist ganz schön tatterig.«

»Hab die ganze Nacht nicht geschlafen.«

»Aha.«

Die Sache mit Ester-Malke ist die, dass sie, bevor sie wieder zur Schule ging, dann Sozialarbeiterin wurde und Berko heiratete, sich eines kurzen, aber beachtlichen Werdegangs als Versagerin aus Süd-Sitka erfreute. Zu ihrer Vergangenheit gehören ein paar Schmalspurganoven, eine bereute Tätowierung auf dem Bauch und eine Brücke im Kiefer als Souvenir des letzten Mannes, der sie misshandelte. Landsman kennt Ester-Malke länger als Berko, denn er lochte sie wegen Vandalismus ein, als sie noch zur Highschool ging. Aus Intuition und Gewohnheit weiß Ester-Malke, wie man einen Versager behandelt, doch spart sie sich das Vorwurfsvolle, das in ihr hochkommt, wenn sie ihre eigene vergeudete Jugend betrachtet. Sie geht zum Kühlschrank und holt eine Flasche Bruner Adler heraus, ploppt sie auf und reicht sie Landsman. Er rollt sie über seine schlaflosen Schläfen und nimmt einen großen Schluck.

»Und?«, sagt er, sich augenblicklich besser fühlend. »Bist du drüber?«

Sie setzt eine halb theatralische, schuldbewusste Miene auf, fühlt nach dem Schwangerschaftsteststreifen, lässt dann aber die Hand in der Tasche und umfasst den Streifen, ohne ihn herauszuholen. Da Ester-Malke das Thema ein- oder zweimal angeschnitten hat, weiß Landsman, dass sie besorgt ist, er könne sie und Berko wegen ihres erfolgreichen Zuchtprogramms und ihrer beiden hübschen Söhne beneiden. Das tut Landsman tatsächlich, manchmal voller Bitterkeit. Aber wenn sie davon spricht, bemüht er sich normalerweise, es zu leugnen.

»Scheiße«, sagt er, als ein Läufer unter den Barhocker hopst und unterm Schrank verschwindet.

»War das ein schwarzer oder ein weißer?«

»Ein schwarzer. Ein Läufer. Scheiße. Jetzt ist er weg.«

Ester-Malke geht zum Gewürzregal, schnürt den Bademantel enger und wägt ihre Möglichkeiten ab.

»Hier«, sagt sie. Sie holt ein Glas mit Schokoladenstücken heraus, dreht es auf, schüttet ein Stück auf ihre Handfläche und reicht es Landsman. »Nimm das.«

Landsman kniet unter der Frühstückstheke. Er findet den fehlenden Läufer und schafft es, ihn in das Loch bei h6 zu stecken. Ester-Malke stellt das Glas wieder in den Schrank und kehrt mit der rechten Hand zum Geheimnis in ihrer Bademanteltasche zurück. Landsman isst die Schokolade.

»Weiß Berko Bescheid?«, fragt er.

Ester-Malke schüttelt den Kopf, versteckt sich hinter ihrem Haar.

»Ist nichts«, sagt sie.

»Offiziell nichts?«

Sie zuckt mit den Achseln.

»Hast du noch nicht draufgeguckt?«

»Hab Angst.«

»Wovor hast du Angst?«, fragt Berko und erscheint mit dem kleinen Pinchas Taytsh-Shemets — unweigerlich Pinky genannt — in der rechten Armbeuge in der Küchentür. Vor einem Monat wurde der Kleine mit einem Kuchen und einer Kerze gefeiert. Das heißt, errechnet Landsman, dass der dritte Taytsh-Shemets ungefähr einundzwanzig, zweiundzwanzig Monate nach dem zweiten eintreffen müsste. Und sieben Monate nach der Reversion. Nach sieben Monaten in der unbekannten kommenden Welt. Ein weiterer kleiner Gefangener von Geschichte und Schicksal, ein weiterer potenzieller Messias — denn Messias, sagen die Experten, wird in jede Generation geboren —, der die Segel der wild gewordenen Karavelle der Träume des Propheten Elija füllen soll. Ester-Malkes Hand kommt aus der Tasche, ohne Schwangerschaftstest. Mit erhobener Augenbraue gibt sie Landsman ein Süd-Sitka-Zeichen.

»Sie hat Angst zu hören, was ich gestern gegessen habe«, sagt Landsman. Als Ablenkungsmanöver holt er Laskers Exemplar der 300 Schachpartien aus der anderen Seitentasche seines Sakkos und legt es neben das Schachspiel auf die Theke.

»Geht es um deinen toten Junkie?«, fragt Berko und beäugt das Brett.

»Emanuel Lasker«, sagt Landsman. »Aber das war nur der Name auf dem Meldezettel des Hotels. Wir haben keinerlei Ausweispapiere bei ihm gefunden. Wir wissen noch nicht, wer er wirklich war.«

»Emanuel Lasker. Der Name kommt mir bekannt vor.«

In Anzughose und Hemdsärmeln quetscht sich Berko seitlich in die Küche. Seine Hose ist aus grauer Merinowolle mit Bundfalten vorne und hinten, das Hemd reinweiß. An seinem Hals hängt, hübsch gebunden, eine dunkelblaue Krawatte mit orangefarbenen Tupfen. Die Krawatte ist extralang, die Hose ist weit und wird von dunkelblauen Hosenträgern gehalten, gedehnt durch Umfang und Wölbung seines Bauches. Unter dem Hemd trägt Berko das mit Fäden verzierte Vier-Ecken, und eine schmucke blaue Jarmulke thront auf dem schwarz glänzenden Ginster seines Hinterkopfs, doch auf seinen Wangen will einfach kein Barthaar sprießen. Auf der Gesichtshaut der Männer seiner Familie mütterlicherseits ist kein Barthaar zu finden, zweifellos schon seit der Zeit, als der Rabe alles erschuf (außer der Sonne, die stahl er). Berko ist gläubig, aber auf seine eigene Weise und aus ganz privaten Gründen. Berko Shemets ist ein Minotaurus, und die Welt der Juden ist sein Labyrinth.

Zu den Landsmans im Haus auf der Adler Street kam er an einem Spätfrühlingstag im Jahr 1981, ein watschelndes Riesenbaby, im Sea Monster House des Raben-Clans vom Langhaarstamm bekannt als Johnny Bear, der Jude. In seinen Mukluks brachte er es an jenem Nachmittag auf einen Meter dreiundsiebzig, dreizehn Jahre alt und nur zweieinhalb Zentimeter kleiner als der achtzehnjährige Landsman. Bis zu jenem Augenblick hatte niemand gegenüber Landsman und seiner kleinen Schwester diesen Jungen erwähnt. Jetzt sollte das Kind in dem Zimmer schlafen, das einst Meyers und Naomis Vater als Klein-Flasche für die Endlosschleifen seiner Schlaflosigkeit gedient hatte.

»Wer bist du überhaupt?«, fragte Landsman den Jungen, der sich seitlich ins Wohnzimmer stahl. Er drehte eine Schirmmütze in den Händen und registrierte die Umgebung mit seinem dunklen, alles verzehrenden Blick. Hertz und Freydl standen draußen auf dem Bürgersteig und schrien sich an. Offenbar hatte Landsmans Onkel seiner Schwester gegenüber zu erwähnen versäumt, dass sein Sohn zu ihr ins Haus kommen würde.

»Ich heiße Johnny Bear«, sagte Berko. »Ich gehöre zur Shemets-Kollektion.«

Bis heute ist Hertz Shemets ein bekannter Fachmann für die Kunst- und Gebrauchsgegenstände der Tlingit. Einmal führte ihn dieses Hobby oder dieser Zeitvertreib auf einer Wanderung tiefer und weiter in das Indianerland, als je ein Jude seiner Generation gekommen war. Ja, doch, seine Beschäftigung mit der Kultur der Eingeborenen, seine Reisen in das Indianerland waren eine Trotzreaktion auf seine Tätigkeit bei der Spionageabwehr in den Sechzigern. Aber sie waren mehr als das. Hertz Shemets fühlte sich vom indianischen Leben angezogen. Er lernte, einen Seehund mit einem Stahlhaken durch das Auge zu töten, einen Bär zu schlachten und zu pökeln und den Geschmack von Kerzenfischfett genauso zu lieben wie den von Schmalz. Und er zeugte ein Kind mit Miss Laurie Jo Bear aus Hoonah. Als sie beim sogenannten Synagogen-Aufstand getötet wurde, rief ihr halbjüdischer Sohn, Objekt von Verachtung und Schikane innerhalb des Raben-Clans, seinen ihm kaum bekannten Vater um Hilfe an. Es war ein Zwischenzug, ein überraschendes Manöver in der erwartbaren Entwicklung eines Spiels. Es erwischte Onkel Hertz auf dem falschen Fuß.

»Was hast du vor, willst du ihn etwa wegschicken?«, schrie er Landsmans Mutter an. »Die machen ihm das Leben da oben zur Hölle. Seine Mutter ist tot. Von Juden ermordet.«

Tatsächlich wurden elf Ureinwohner Alaskas bei den Krawallen getötet, die auf die Bombardierung eines Gebetshauses folgten, das eine Gruppe von Juden auf umstrittenem Land erbaut hatte. Auf jenen kleinen Inseln gibt es Bereiche, wo die von Harold Ickes gezeichnete Landkarte zögert und sich auf gepunktete Linien beschränkt. Die meisten Ecken sind zu abgelegen oder gebirgig, um bewohnt zu sein, sie sind das ganze Jahr über gefroren oder überflutet. Aber einige dieser schraffierten Flecken, erlesen, eben und mild, sollten für die Juden in ihrer großen Zahl über die Jahre unwiderstehlich werden. Juden wollen Platz zum Leben. In den Siebzigern begannen einige von ihnen, hauptsächlich Angehörige kleiner orthodoxer Sekten, ihn sich zu nehmen.

Als eine Splittergruppe der Splittergruppe einer Sekte aus Lisianski ein Gebetshaus in St. Cyril erbaute, war das für viele Ureinwohner der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es folgten Demonstrationen, Kundgebungen, Anwälte und dumpfes Gepolter im Kongress, die frechen Juden oben im Norden hätten sich neuerlich über Frieden und Gleichheit hinweggesetzt. Zwei Tage vor der Einsegnung warf jemand — niemand erklärte sich je dafür verantwortlich oder wurde angezeigt — einen doppelten Molotowcocktail durchs Fenster, sodass das Gebetshaus bis auf die Grundmauern niederbrannte. Die Gemeinde und ihre Befürworter schwärmten nach St. Cyril aus, zerstörten Krabbenkörbe, warfen die Fenster des Versammlungssaals der Alaska Native Brotherhood ein und steckten spektakulär einen Schuppen voller Feuerwerkskörper in Brand. Der Fahrer einer Wagenladung zorniger Jids verlor die Kontrolle über sein Auto und raste in das Lebensmittelgeschäft, in dem Laurie Jo an der Kasse saß. Sie war auf der Stelle tot. Der Synagogen-Aufstand bleibt das übelste Kapitel in der bitteren, unrühmlichen Geschichte der Beziehungen zwischen Tlingit und Juden.

»Ist das vielleicht meine Schuld? Ist das mein Problem?«, schrie Landsmans Mutter zurück. »Ein Indianer in meinem Haus, so was kann ich nicht gebrauchen!«

Eine Weile hörten die Kinder zu. Johnny Bear stand in der Tür und trat mit den Turnschuhen gegen seinen Matchbeutel.

»Gut, dass du kein Jiddisch kannst«, sagte Landsman zu Johnny.

»Brauch ich gar nicht, du Blödmann«, sagte Johnny der Jude. »Diesen Scheiß höre ich schon mein Leben lang.«

Nachdem die Sache geklärt war — und sie war im Grunde schon geklärt, bevor Landsmans Mutter mit dem Geschrei begann —, kam Hertz herein, um sich zu verabschieden. Sein Sohn war fünf Zentimeter größer als er. Als er den Jungen kurz und unbeholfen an sich drückte, sah es aus, als würde ein Stuhl eine Couch umarmen. Dann trat er zurück.

»Es tut mir leid, John«, sagte er. Er packte seinen Sohn an den Ohren und hielt sie fest. Er überflog das Gesicht des Jungen wie ein Telegramm. »Ist mir wichtig, dass du das weißt. Ich möchte nicht, dass du mich irgendwann ansiehst und denkst, es täte mir nicht unglaublich leid.«

»Ich möchte bei dir wohnen«, sagte der Junge ausdruckslos.

»Das hast du schon gesagt.« Die Worte waren grob und gefühllos, doch plötzlich — es jagte Landsman einen Mordsschreck ein — glänzten Tränen in Onkel Hertz’ Augen. »Ich bin als absoluter Hurensohn bekannt, John. Bei mir wärst du schlimmer dran als auf der Straße.« Er betrachtete das Wohnzimmer seiner Schwester, die Plastikschonbezüge auf den Möbeln, die stacheldrahtähnliche Kunst, die abstrakte Menora. »Gott weiß, was sie hier aus dir machen.«

»Einen Juden«, sagte Johnny Bear, und es war schwer einzuschätzen, ob er damit prahlte oder seinen eigenen Untergang vorhersagte. »So einen wie dich.«

»Das scheint mir unwahrscheinlich«, sagte Hertz. »Möchte sehen, wie sie das schaffen. Auf Wiedersehen, John.«

Er tätschelte den Kopf der kleinen Naomi. Kurz bevor er ging, hielt er inne, um Landsman die Hand zu reichen.

»Hilf deinem Cousin, Meyerle, er kann’s gebrauchen.«

»Er sieht aus, als könne er sich selbst helfen.«

»Das stimmt, nicht?«, sagte Onkel Hertz. »Das immerhin hat er von mir.«

Heute lebt Ber Shemets, wie er sich mit der Zeit anreden ließ, wie ein Jude und trägt Jarmulke und Vier-Ecken wie ein Jude. Er argumentiert wie ein Jude, betet wie ein Jude, zeugt wie ein Jude, liebt seine Frau wie ein Jude und dient dem Gemeinwohl wie ein Jude. Er entwirft Theorien mit den Händen, lebt koscher und trägt einen diagonal beschnittenen Penis (dafür hatte sein Vater gesorgt, bevor er Baby-Bär zurückließ). Aber äußerlich ist er ein waschechter Tlingit. Tartarenaugen, dichtes schwarzes Haar, ein breites, zur Freude bestimmtes, doch auch in der Kunst des Leidens geübtes Gesicht. Die Bears sind große Menschen, in Socken bringt es Berko auf zwei Meter und wiegt einhundertzehn Kilo. Er hat einen großen Kopf, große Füße, einen großen Bauch und große Hände. Alles an Berko ist groß, außer dem Kind auf seinem Arm, das Landsman scheu anlächelt. Es hat einen Schopf schwarzen Pferdehaars, das wie magnetisierte Eisenspäne absteht. Zuckersüß ist der Kleine, Landsman wäre der Erste, der das zugeben würde, aber selbst nach einem Jahr drückt der Anblick von Pinky eine Delle in die weiche Stelle hinter Landsmans Brustbein. Pinky wurde genau zwei Jahre nach Djangos errechnetem Termin geboren: am 22. September.

»Emanuel Lasker war ein berühmter Schachspieler«, informiert Landsman Berko, der von Ester-Malke einen Becher Kaffee entgegennimmt und mit gerunzelter Stirn in den Dampf blickt. »Ein deutscher Jude. Bis in die Zwanzigerjahre.« Landsman hat in der Zeit zwischen fünf und sechs an seinem Computer im leeren Dienstzimmer gesessen und versucht, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. »Mathematiker. Verlor gegen Capablanca, wie damals alle. Das Buch war in seinem Zimmer. Und ein Schachbrett, mit dieser Aufstellung.«

Berko hat schwere, seelenvolle, violett schimmernde Augenlider, aber wenn er sie über seine großen Augen senkt, dann ist es, als würde der Strahl einer Taschenlampe durch einen Schlitz fallen. Sein Blick ist so kalt und skeptisch, dass er einen Unschuldigen dazu bringen kann, sein eigenes Alibi zu bezweifeln.

»Und du hast das Gefühl«, sagt er mit einem bedeutungsschweren Seitenblick auf die Flasche Bier in Landsmans Hand, »dass die Anordnung der Figuren auf dem Brett … was?« Der Schlitz wird schmaler, der Strahl leuchtet heller. »Den Namen des Mörders verrät?«

»Im Alphabet von Atlantis«, sagt Landsman.

»Hm, hm.«

»Der Jude spielte Schach. Und band sich mit einem Tefillin den Arm ab. Er wurde mit großer Sorgfalt und Diskretion umgebracht. Keine Ahnung. Vielleicht ist das mit dem Schach völlig unwichtig. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich bin das ganze Buch durchgegangen, aber ich hab nicht herausbekommen, welche Partie er spielte. Vielleicht gar keine aus diesem Buch. Diese kleinen Zeichnungen, weiß nicht, ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich sie nur ansehe. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich nur das Brett sehe. Einen Fluch darauf.«

Landsmans Stimme klingt ebenso hohl und hoffnungslos, wie er sich fühlt, was alles andere als beabsichtigt ist. Berko schaut über Pinkys Kopf zu seiner Frau hinüber, um zu erfahren, ob er sich wirklich Sorgen um Landsman machen muss.

»Hör mal zu, Meyer. Wenn du das Bier wegstellst«, sagt Berko in dem misslungenen Versuch, nicht wie ein Polizist zu klingen, »dann darfst du dieses süße Baby halten. Wie wär’s? Guck dir den Kleinen doch mal an! Diese strammen Beinchen! Da will man doch reinkneifen. Stell das Bier zur Seite, ja? Und halt mal kurz dieses süße Baby.«

»Er ist wirklich ein Süßer«, sagt Landsman. Er saugt zwei weitere Zentimeter Bier aus der Flasche. Dann stellt er sie ab, wappnet sich, nimmt das Baby, riecht es und reißt die alte Wunde in seinem Herzen wieder auf. Pinky duftet nach Joghurt und Waschpulver. Dazu ein Hauch Piment von seinem Vater. Landsman trägt das Baby bis zur Küchentür und versucht nicht zu atmen, er beobachtet, wie Ester-Malke eine Waffel aus dem Eisen löst. Es ist ein altes Westinghouse mit Bakelitgriffen, die die Form von Blättern haben. Es kann bis zu vier knusprige Waffeln gleichzeitig backen.

»Buttermilch?«, fragt Berko und studiert das Schachbrett, fährt sich mit dem Finger über seine schwere Oberlippe.

»Was sonst?«, fragt Ester-Malke.

»Richtige oder Milch mit Essig?«

»Wir haben einen Blindtest gemacht, Berko.« Ester-Malke reicht Landsman einen Teller Waffeln im Austausch gegen ihren jüngeren Sohn, und obwohl Landsman nicht nach Essen zumute ist, lässt er sich nur zu gerne auf den Handel ein. »Du schmeckst den Unterschied gar nicht, schon vergessen?«

»Er kann ja auch nicht Schach spielen«, sagt Landsman. »Aber guck dir an, wie er so tut.«

»Leck mich, Meyer«, sagt Berko. »Also, jetzt mal im Ernst: Welche Figur ist das Schlachtschiff?«

Die Schachversessenheit der Familie war bereits verklungen oder in andere Bahnen gelenkt, als Berko zu Landsman und seiner Mutter kam. Isidor Landsman war sechs Jahre tot, und Hertz Shemets hatte sein Talent im Täuschen und Angreifen auf ein weitaus größeres Schachbrett verlagert. Daher gab es niemanden außer Landsman, der Berko das Spiel hätte beibringen können, eine Aufgabe, die er geflissentlich ignorierte.

»Butter?«, fragt Ester-Malke. Sie schöpft neuen Teig in die Waben des Waffeleisens, und Pinky sitzt auf ihrer Hüfte und erteilt unaufgeforderte Ratschläge.

»Keine Butter.«

»Sirup?«

»Keinen Sirup.«

»Du willst gar keine Waffel, Meyer, stimmt’s?«, sagt Berko. Er tut nicht länger so, als würde er das Schachbrett betrachten, sondern nimmt sich das Buch von Siegbert Tarrasch vor, als würde er daraus schlau werden.

»Ehrlich gesagt, nein«, sagt Landsman. »Aber ich weiß, dass es eigentlich besser wäre.«

Ester-Malke drückt den Deckel des Waffeleisens auf das Teiggitter.

»Ich bin schwanger«, sagt sie mit sanfter Stimme.

»Was?«, ruft Berko und schaut von dem Buch der geordneten Überraschungen auf. »Fuck!« Englisch ist die von Berko bevorzugte Sprache für Flüche und Schimpfwörter. Er beginnt, den kleinen Streifen imaginären Kaugummis zu bearbeiten, der immer in seinem Mund auftaucht, wenn er kurz vorm Platzen steht. »Super, Es! Einfach klasse! Echt! Weil in dieser beschissenen Wohnung ja gerade noch eine Schublade frei ist, wo kein Blag drinliegt!«

Dann hebt er 300 Schachpartien über den Kopf und holt theatralisch aus, um das Buch über die Frühstückstheke ins Wohnesszimmer zu schleudern. Es ist der Shemets in ihm, der da herauskommt. Auch Landsmans Mutter war dafür bekannt, im Zorn mit Gegenständen zu werfen, und die theatralischen Darbietungen von Onkel Hertz, jenem kühlen Genossen, sind selten, aber legendär.

»Beweismittel«, erinnert Landsman ihn. Berko hebt das Buch noch etwas höher, und Landsman sagt: »Das ist ein Beweismittel, verdammt!«, und dann wirft Berko tatsächlich. Das Buch wirbelt durch die Luft, die Seiten flattern, es streift etwas Klirrendes, wahrscheinlich die silberne Gewürzdose auf dem gläsernen Esstisch. Das Baby schiebt die Unterlippe vor, schiebt sie noch weiter vor, zögert, blickt von seiner Mutter zum Vater. Dann bricht es in trostloses Schluchzen aus. Böse sieht Berko Pinky an, als habe er ihn verraten. Er geht um die Theke herum, um das misshandelte Beweismittel aufzuheben.

»Was macht Papa da nur?«, sagt Ester-Malke zum Baby, küsst es auf die Wange und funkelt zornig das große schwarzumrandete Loch in der Luft an, das Berko hinterlassen hat. »Hat der böse Kommissar Supersperma ein dummes altes Buch weggeworfen?«

»Lecker!«, sagt Landsman und stellt seinen unberührten Teller ab. Er hebt die Stimme. »He, Berko, ich, ähm, ich glaube, ich warte lieber unten im Wagen auf dich.« Er streift Ester-Malkes Wangen mit den Lippen. »Sag Wie-heißt-er-noch-gleich tschüss von Onkel Meyerle.«

Landsman geht nach draußen zum Aufzug, durch dessen Schacht der Wind pfeift. Fried, der Nachbar, kommt in seinem langen schwarzen Mantel aus der Wohnung, das weiße Haar ist zurückgekämmt und lockt sich über dem Kragen. Fried ist Opernsänger, und die Taytsh-Shemets haben das Gefühl, er behandle sie herablassend. Aber das glauben sie nur, weil Fried ihnen gesagt hat, er sei besser als sie. Im Allgemeinen bemühen sich die Sitkaner, auf dieser Beurteilung ihrer Nachbarn zu beharren, insbesondere wenn es Indianer sind oder sie weiter südlich leben. Fried und Landsman nehmen gemeinsam den Aufzug. Fried fragt Landsman, ob er in letzter Zeit irgendwelche Leichen gefunden habe, und Landsman fragt Fried, ob sich in letzter Zeit irgendein toter Komponist seinetwegen im Grabe umgedreht hätte, danach sagen sie nicht mehr viel. Landsman geht nach draußen zu seinem Wagen und steigt ein. Er lässt den Motor an und wartet in der hereingeblasenen Wärme. Mit Pinkys Geruch am Kragen und dem kühlen, trockenen Geist von Goldys kleiner Hand in seiner großen spielt er den Torwart, während eine Mannschaft sinnloser Reuegefühle einen Angriff auf seine Fähigkeit aufbaut, den Tag zu überstehen, ohne irgendetwas zu fühlen. Landsman steigt aus und raucht eine Papiros im Regen. Er blickt nach Norden, über den Hafen, zum gewundenen Aluminiumstift auf der windgepeitschten Insel. Wieder verspürt er stechende Sehnsucht nach der Weltausstellung, nach der heldenhaften jüdischen Ingenieurskunst des Safety Pin (offiziell trägt der Leuchtturm die Bezeichnung »Ort der Zuflucht«, aber so nennt ihn niemand) und nach dem Ausschnitt jener uniformierten Dame, die damals die Eintrittskarten für die Aufzugfahrt ins Restaurant in der Spitze des Safety Pins abriss. Dann setzt sich Landsman wieder in den Wagen. Einige Minuten später kommt Berko aus dem Haus und wälzt sich wie eine Basstrommel in den Super Sport. Er hält das Buch und das Schachspiel in einer Hand und balanciert beides auf dem linken Oberschenkel.

»Tut mir leid mit eben«, sagt er. »Total dämlich, hm?«

»Schon gut.«

»Wir müssen uns einfach was Größeres suchen.«

»Genau.«

»Irgendwo.«

»Das ist der Punkt.«

»Es ist ein Geschenk.«

»Klar! Masel-tow, Berko.«

Landsmans Glückwünsche sind so ironisch, dass sie schon wieder von Herzen kommen, sie kommen aus so tiefem Herzen, dass sie nur unehrlich klingen können, und so sitzen er und sein Kollege eine Weile im Auto, fahren nirgends hin und lauschen, wie die Glückwünsche gerinnen.

»Ester-Malke meint, sie ist ständig so müde, dass sie sich nicht mal daran erinnern kann, mit mir geschlafen zu haben«, sagt Berko mit einem tiefen Seufzer.

»Vielleicht habt ihr ja gar nicht.«

»Du meinst, es ist ein Wunder. Wie das sprechende Huhn beim Schlachter.«

»Hm.«

»Ein warnendes Zeichen und Sinnbild.«

»So kann man es auch sehen.«

»Apropos Zeichen«, sagt Berko. Er schlägt das in der öffentlichen Bibliothek von Sitka seit Langem vermisste Exemplar von 300 Schachpartien auf der Innenseite des Rückumschlags auf und schiebt die Rückgabekarte aus ihrer Tasche. Hinter der Karte, erkennt Landsman, steckt ein Foto, eine Farbaufnahme, 8 x 12 Zentimeter, Hochglanz, mit weißem Rand. Es zeigt ein Schild, ein Rechteck aus schwarzem Plastik, in das drei weiße römische Buchstaben gedruckt sind, darunter deutet ein weißer Pfeil nach links. Mit zwei schwachen Ketten ist das Schild an einer schmutzigweißen quadratischen Schallschluckplatte befestigt.

»Pie«, liest Landsman.

»Sieht aus, als ob es bei meiner energischen Untersuchung des Beweismittels herausgefallen wäre«, sagt Berko. »Ich nehme an, es war tief in die Tasche geschoben, sonst hättest du es mit deinem scharfen Schammes-Blick nicht übersehen. Erkennst du es?«

»Ja«, sagt Landsman. »Ich erkenne es wieder.«

Am Flugplatz der nördlich gelegenen, rauen Stadt Yakovy — von wo aus man, wenn man als Jude auf ein bescheidenes Abenteuer aus ist, in den bescheidenen Urwald des Distrikts aufbricht — liegt, versteckt am hinteren Ende des Hauptgebäudes, ein bescheidener Laden, der Pie verkauft, nichts anderes, nur Obstkuchen amerikanischer Art. Der Laden besteht aus kaum mehr als einem Fenster, das den Blick auf eine Backstube mit fünf glänzenden Öfen freigibt. Neben dem Fenster hängt eine weiße Tafel, auf die die Inhaber — ein feindseliges Ehepaar aus Klondike und seine geheimnisvolle Tochter — jeden Tag eine Liste des aktuellen Angebots schreiben: Brombeer, Apfel-Rhabarber, Pfirsich, Banane-Sahne. Der Kuchen ist gut, auf bescheidene Weise sogar berühmt. Jeder, der schon einmal am Flugplatz von Yakovy war, kennt ihn, und man erzählt von Menschen, die von Juneau oder Fairbanks oder von noch weiter angeflogen kommen, um ihn zu essen. Landsmans tote Schwester war ein besonders großer Fan von Kokos-Sahne.

»Und, nu«, sagt Berko. »Was denkst du?«

»Ich wusste es«, sagt Landsman. »In dem Moment, als ich in das Zimmer kam und Lasker da liegen sah, da sagte ich zu mir: Landsman, in diesem Fall wird es auf den Kuchen ankommen.«

»Du meinst also, es hat nichts zu bedeuten.«

»Nichts hat nichts zu bedeuten«, sagt Landsman, und plötzlich bekommt er keine Luft mehr, sein Hals ist geschwollen, Tränen brennen ihm in den Augen. Vielleicht ist es der Schlafmangel oder dass er zu viel Zeit in Gesellschaft seines Schnapsglases verbracht hat. Oder vielleicht ist es das unerwartete Bild von Naomi, die sich an die Wand neben dem namenlosen, unerklärbaren Kuchenladen lehnt, mit einer Plastikgabel ein Stück Kokos-Sahne-Kuchen von einem Pappteller spießt, die Augen schließt, die Lippen spitzt und kräuselt und mit animalischer Intensität den Mundvoll Creme und Krokant genießt. »Verdammt nochmal, Berko. Ich hab jetzt Lust auf so ein Stück Kuchen.«

»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagt Berko.

7.

Siebenundzwanzig Jahre lang war die Dienststelle Sitka Central provisorisch in elf Fertigbaumodulen auf einem leer stehenden Grundstück hinter dem alten russischen Waisenhaus untergebracht. Man munkelt, dass die Module in Slidell, Louisiana, ihr Leben als Bibelschule begannen. Sie haben keine Fenster, niedrige Decken, sind zugig und eng. Im Modul der Mordkommission findet der Besucher einen Empfangsbereich, jeweils ein Büro für die zwei Detective Inspectors, einen Duschraum mit Toilette und Waschbecken, ein Großraumbüro (vier Arbeitsplätze, vier Stühle, vier Telefone, eine Tafel und eine Reihe Postfächer), eine Vernehmungskammer mit heißem Stuhl und einen Pausenraum. Der Pausenraum ist ausgestattet mit einer Kaffeemaschine und einem kleinen Kühlschrank. Außerdem beherbergte das Zimmer lange Zeit eine blühende Sporenkolonie, die irgendwann in grauer Vorzeit spontan Form und Erscheinungsbild eines Sofas angenommen hatte. Doch als Landsman und Berko auf den Schotterparkplatz der Mordkommission einbiegen, schleppen zwei philippinische Wächter den monströsen Pilz gerade nach draußen.

»Er bewegt sich«, sagt Berko.

Seit Jahren wird damit gedroht, den Zweisitzer rauszuwerfen, und doch ist es ein Schock für Landsman, ihn nun letztlich ausgemustert zu sehen. Der Schock ist so groß, dass er ein, zwei Sekunden braucht, um die Frau wahrzunehmen, die neben der Treppe steht. Sie hält einen schwarzen Regenschirm in der Hand und trägt einen Parka in grellem Orange mit einem leuchtend grün gefärbten Kunstpelzbesatz. Ihr rechter Arm ist erhoben, ihr Zeigefinger weist auf die Müllcontainer, das Ganze gleicht einem Gemälde vom Erzengel Michael, der Adam und Eva aus dem Paradies vertreibt. Eine Korkenzieherlocke roten Haares hat sich aus dem grünen Pelz befreit und hängt der Frau ins Gesicht. Das ist für sie ein ständiges Problem. Wenn sie sich hinkniet, um am Tatort einen suspekten Fleck auf dem Boden zu untersuchen, oder wenn sie ein Foto mit einer Lupe studiert, muss sie diese Locke mit einem gereizten, scharfen Atemstoß zur Seite pusten.

Jetzt blickt sie finster zum Super Sport hinüber, während Landsman den Motor ausstellt. Sie lässt die alles verbannende Hand sinken. Aus der Entfernung hat Landsman den Eindruck, als könnte die Lady drei oder vier Tassen starken Kaffees vertragen und als wäre ihr heute Morgen schon eine Laus über die Leber gelaufen, vielleicht sogar zwei. Landsman war zwölf Jahre mit dieser Dame verheiratet und hat fünf Jahre mit ihr in derselben Mordkommission gearbeitet. Er kennt ihre kleinen Launen nur zu gut.

»Sag mir, dass du nichts davon gewusst hast«, sagt er zu Berko.

»Ich weiß noch immer nichts davon«, sagt Berko. »Ich hoffe, wenn ich kurz die Augen zu- und dann wieder aufmache, ist sie verschwunden.«

Landsman versucht es.

»Keine Chance«, sagt er mit Bedauern und steigt aus dem Wagen. »Gib mir eine Minute.«

»Bitte, so lange du willst.«

Landsman braucht zehn Sekunden, um den Schotterparkplatz zu überqueren. In den ersten drei Sekunden wirkt Bina froh, ihn zu sehen, dann folgen zwei, in denen sie ängstlich und liebenswürdig aussieht. In den letzten fünf Sekunden setzt sie eine Miene auf, als sei sie bereit, sich mit Landsman anzulegen, wenn er es so haben will.

»Was soll der Scheiß?«, sagt Landsman; er enttäuscht sie nur ungern.

»Zwei Monate Exfrau«, sagt Bina. »Was dann kommt, weiß keiner.«

Direkt nach dem Scheidungsurteil ging Bina für ein Jahr in den Süden, wo sie ein Ausbildungsprogramm für weibliche Polizeibeamte zur Führungskraft absolvierte. Bei ihrer Rückkehr trat sie den stolzen Posten eines Detective Inspectors bei der Mordkommission von Yakovy an. Dort als leitende Ermittlerin die Todesfälle arbeitsloser Lachsfischer zu untersuchen, die in den Abwasserkanälen im Venedig von Northwest Chichagof Island an Unterkühlung gestorben waren, fand sie stimulierend und erfüllend. Seit der Beerdigung seiner Schwester hat Landsman Bina nicht mehr gesehen, und ihrem mitleidigen Blick auf sein altes Fahrgestell entnimmt er, dass es in den Monaten danach mit ihm noch weiter abwärtsgegangen ist.

»Freust du dich nicht, mich zu sehen, Meyer?«, fragt sie. »Was sagst du zu meinem neuen Parka?«

»Er ist unglaublich orange«, sagt Landsman.

»Hier oben muss man gut sichtbar sein«, sagt sie. »In den Wäldern. Sonst denken sie, du bist ein Bär, und erschießen dich.«

»Die Farbe steht dir«, hört Landsman sich herausbringen. »Passt zu deinen Augen.«

Bina nimmt das Kompliment an wie eine Limonadendose, von der sie glaubt, dass er sie vorher geschüttelt hat.

»Du bist also überrascht«, sagt sie.

»Ich bin überrascht.«

»Hast du nichts von Felsenfeld gehört?«

»Typisch Felsenfeld. Was sollte ich von ihm hören?« Landsman fällt ein, dass Shpringer ihm in der Nacht dieselbe Frage gestellt hat, und jetzt überfällt ihn die Erkenntnis mit einem Scharfsinn, die des Mannes würdig ist, der den Krankenhauskiller Podolsky fasste. »Felsenfeld hat die Biege gemacht.«

»Hat vor zwei Tagen seine Marke abgegeben. Gestern Abend nach Melbourne geflogen. Die Schwester seiner Frau wohnt da.«

»Und jetzt muss ich für dich arbeiten?« Er weiß, dass das nicht Binas Idee gewesen sein kann. Die neue Stelle ist zweifellos ein Aufstieg für sie, wenn auch nur für zwei Monate. Aber irgendwie kann er nicht glauben, dass sie so etwas zulassen konnte — dass sie glaubt, es aushalten zu können. »Das ist unmöglich.«

»Heutzutage ist alles möglich«, sagt Bina. »Hab ich in der Zeitung gelesen.«

Und auf einmal sind die Konturen ihres Gesichts geglättet, und er sieht, wie anstrengend es für sie immer noch ist, in seiner Nähe zu sein, wie erleichtert sie ist, als Berko Shemets näher kommt.

»Da sind wir ja alle!«, sagt sie.

Als Landsman sich umdreht, steht sein Kollege direkt hinter ihm. Berko besitzt ein bemerkenswertes Talent für Tarnung, das er natürlich auf seine indianischen Ahnen zurückführt. Landsman schreibt es gerne den mächtigen Kräften der Oberflächenspannung zu, wenn Berkos gewaltige Schneeschuhfüße den Boden eindrücken.

»So, so, so«, sagt Berko herzlich. Seitdem Landsman Bina das erste Mal mit nach Hause gebracht hat, teilt sie mit Berko ein Wissen über, einen Blick auf, ein Lächeln für Landsman, den lustigen kleinen Giftzwerg auf dem letzten Bild des Comicstrips, in dessen Visage die schwarze Lilie einer explodierten Zigarre welkt. Bina hält ihm die Hand hin, sie begrüßen sich.

»Herzlich willkommen, Detective Landsman«, sagt Berko, ein wenig verlegen.

»Inspector«, sagt sie, »und jetzt wieder Gelbfish.«

Gewissenhaft sortiert Berko das Blatt von Tatsachen, das sie ihm gerade ausgeteilt hat.

»Mein Fehler«, sagt er. »Wie war’s in Yakovy?«

»Ganz in Ordnung.«

»Nette Stadt?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Niemanden kennengelernt?«

Bina schüttelt den Kopf, wird rot und bei der Erkenntnis, rot geworden zu sein, noch roter.

»Ich habe nur gearbeitet«, sagt sie. »Du kennst mich ja.«

Die klebrige rosa Masse des alten Sofas verschwindet um die Ecke des Moduls, und Landsman widerfährt ein zweiter Moment der Erkenntnis.

»Die Beerdigungsgesellschaft ist im Anmarsch«, sagt er. Er meint die Spezialeinheit des amerikanischen Innenministeriums für den Übergangszeitraum, die Vorhut der Reversion, die die Leiche bewacht und sie zur Beisetzung im Grab der Geschichte vorbereitet. Seit ungefähr einem Jahr murmelt sie ihr bürokratisches Kaddisch über jedes Detail der Distriktbürokratie, erstellt Register und gibt Empfehlungen ab. Sie legt den Grundstock dafür, so nimmt Landsman an, dass man die Schuld, wenn später irgendetwas schief- oder in die Brüche geht, glaubhaft den Juden anlasten kann.

»Ein Herr namens Spade«, sagt sie. »Kommt irgendwann am Montag, spätestens Dienstag.«

»Felsenfeld« y sagt Landsman voller Verachtung. Typisch, dass sich der Mann verdrückt, drei Tage bevor ein Schomer von der Beerdigungsgesellschaft kommen soll. »Ein schwarzes Jahr auf ihn!«

Zwei weitere Wächter poltern jetzt aus dem Wohncontainer, sie tragen die Pornosammlung der Abteilung und ein lebensgroßes Pappstandbild des amerikanischen Präsidenten mit seiner Kinnspalte, seiner Golferbräune, seiner überstrapazierten, selbstgefälligen Quarterback-Attitüde nach draußen. Die Polizisten haben dem Papppräsidenten gerne Spitzenunterwäsche angezogen oder ihn mit Klumpen nassen Toilettenpapiers beworfen.

»Wird Zeit, die Maße fürs Totenhemd von Sitka Central zu nehmen«, sagt Berko und schaut der Pappfigur nach.

»Ihr kapiert das nicht mal ansatzweise«, sagt Bina, und sofort erkennt Landsman an dem düsteren Unterton in ihrer Stimme, dass sie mühsam versucht, eine Vielzahl sehr schlechter Nachrichten im Zaum zu halten. Dann sagt Bina: »Ab ins Haus, Jungs«, und klingt wie jeder Vorgesetzte, dem Landsman je zu gehorchen verpflichtet war. Vor einem Moment noch schien die Vorstellung, auch nur für zwei Monate unter seiner Exfrau zu arbeiten, absolut undenkbar, aber so, wie sie jetzt mit dem Kinn Richtung Modul weist und die Männer hineinbeordert, besteht für Landsman Anlass zur Hoffnung, dass seine Gefühle für sie — nicht dass er überhaupt noch welche hätte — sich ins universelle Grau der Disziplin umfärben könnten.

In klassischer Flüchtlingsmanier sieht das Büro so aus, wie Felsenfeld es verlassen hat: Fotos, halbtote Topfpflanzen, auf dem Aktenschrank Wasserflaschen neben der Familienpackung Kautabletten gegen Sodbrennen.

»Setzt euch«, sagt Bina, geht um den Tisch herum zum gummierten Metallschreibtischstuhl und nimmt mit achtloser Entschlossenheit Platz. Sie legt den orangefarbenen Parka ab, und ein staubbrauner Hosenanzug mit einer weißen Oxfordbluse kommt zum Vorschein, ein Outfit, das sich viel eher mit Landsmans Vorstellung deckt, wie Bina über Kleidung denkt. Vergeblich versucht er zu übersehen, wie ihre schweren Brüste, deren Leberflecke und Sommersprossen er noch immer wie Sternbilder im Planetarium seiner Phantasie projizieren kann, die Taschen und Laschen ihrer Bluse spannen. Landsman und Berko hängen ihre Mäntel an die Haken hinter der Tür und behalten die Hüte in der Hand. Jeder nimmt einen freien Stuhl in Beschlag. Felsenfelds Frau auf dem einen Foto und seine Kinder auf dem anderen sind seit dem letzten Mal, als Landsman sie betrachtete, nicht reizvoller geworden. Der Lachs und der Heilbutt staunen immer noch, tot an Felsenfelds Angel zu hängen.

»Gut, hört zu, Jungs«, sagt Bina. Sie ist eine Frau, die der Katze die Schelle umhängt und den Stier bei den Hörnern packt. »Wir alle sind uns dieser unangenehmen Situation bewusst. Es wäre schon seltsam genug, wenn ich einfach nur eure Kollegin wäre. Dass ich mit einem von euch verheiratet war und der andere mein, ähm, Cousin war, hm, Shit.« Das letzte Wort sagt sie in tadellosem Englisch, wie auch die nächsten vier. »Know what I’m saying?«

Sie hält inne, scheint auf eine Reaktion zu warten. Landsman sieht Berko an.

»Der Cousin, das warst du, oder?«

Bina lächelt, um Landsman zu zeigen, dass sie ihn nicht für besonders witzig hält. Sie greift hinter sich und zieht einen Stapel hellblauer Mappen vom Aktenschrank, jede mindestens anderthalb Zentimeter dick, alle markiert mit einem Reiter aus hustensaftrotem Plastik. Der Anblick lässt Landsmans Herz tiefer rutschen, so wie jedes Mal, wenn er durch einen unglücklichen Zufall auf sein Ebenbild im Spiegel trifft.

»Seht ihr die hier?«

»Ja, Inspector Gelbfish«, sagt Berko, und es klingt sonderbar unehrlich. »Ich sehe sie.«

»Wisst ihr, was das ist?«

»Das können nicht unsere offenen Fälle sein«, sagt Landsman. »Die können nicht aufgestapelt auf deinem Schreibtisch liegen.«

»Wisst ihr, was gut war an Yakovy?«, fragt Bina.

Die beiden warten auf den Reisebericht ihrer Vorgesetzten. Sie sagt: »Der Regen. Fünfhundert Zentimeter pro Jahr. Da vergehen einem die flotten Sprüche. Selbst einem Jid.«

»Das ist ’ne Menge«, sagt Berko.

»Jetzt hört mir zu. Und hört bitte gut zu, weil ich nämlich Schwachsinn erzähle. In zwei Monaten wird ein US-Marshall im Billiganzug mit seinem Sonntagsschulgelaber in diesen gottverlassenen Container schreiten und verlangen, dass ich ihm die Schlüssel zu dem Abnormitätenkabinett aushändige, das hier unter der Bezeichnung ›Aktenschrank der B-Mannschaft‹ firmiert, die zu leiten ich seit heute Morgen die Ehre habe.« Es sind Schwätzer, die Gelbfishs, Redner und Neunmalkluge und Könige im Schmeicheln. Beinahe hätte Binas Vater Landsman überzeugt, seine eigene Tochter nicht zu heiraten. Am Abend vor der Hochzeit. »Und ehrlich, ich meine das ganz ernst: Ihr beiden wisst, dass ich mir den Arsch aufgerissen habe, solange ich hier gearbeitet habe, weil ich gehofft hatte, irgendwann das Glück zu haben, ihn mir auf diesem Stuhl breitsitzen zu können, hinter diesem Schreibtisch, und die große Tradition von Sitka Central aufrechtzuerhalten, dass wir hin und wieder mal einen Mörder erwischen und ins Gefängnis bringen. Und jetzt sitze ich hier. Bis zum ersten Januar.«

»Uns geht es genauso, Bina«, sagt Berko, und diesmal klingt er ehrlicher. »Abnormitätenkabinett und so.«

Landsman sagt, für ihn gelte das doppelt.

»Das weiß ich zu schätzen«, sagt Bina. »Und ich weiß, wie sehr euch das hier … zu schaffen macht.«

Und sie legt ihre lange, sommersprossige Hand auf den Aktenstapel. Korrekt erfasst müssten es elf Mappen sein, die älteste über zwei Jahre alt. In der Mordkommission arbeiten noch drei weitere Kollegenpaare, doch keines kann mit einem so hübschen hohen Stapel ungelöster Fälle aufwarten.

»Beim Feytel sind wir nah dran«, sagt Berko. »Da warten wir nur noch auf den Bezirksstaatsanwalt. Und bei Pinsky. Und bei der Sache mit Zilberblat. Zilberblats Mutter —«

Bina hebt die Hand, unterbricht Berko. Landsman sagt nichts. Er schämt sich zu sehr. Was ihn betrifft, ist der Aktenstapel ein Denkmal seines jüngsten Niedergangs. Dass er nicht noch zwanzig Zentimeter höher ist, zeugt lediglich von der Standhaftigkeit, mit der sein kleiner großer Cousin Berko ihn stützt.

»Hör auf«, sagt Bina. »Hör auf damit. Und pass gut auf, denn jetzt kommt der Teil, wo meine schnelle Auffassungsgabe für Schwachsinn aufblitzt.«

Sie greift hinter sich und zieht ein Blatt Papier aus ihrem Eingangskörbchen, dann noch eine deutlich dünnere blaue Akte, die Landsman sofort erkennt, da er sie selbst um halb fünf am Morgen angelegt hat. Bina greift in die Brusttasche ihres Hosenanzugs und zieht eine Halbbrille hervor, die Landsman noch nie zuvor gesehen hat. Sie wird alt, und er wird alt, ganz nach Plan, und doch sind sie, während der Zahn der Zeit an ihnen nagt, sonderbarerweise nicht mehr miteinander verheiratet.

»Die weisen Juden, die unser Schicksal als Polizeibeamte des Distrikts Sitka verfolgen, haben eine Richtlinie erlassen«, beginnt Bina. Sie überfliegt das Blatt Papier mit einer gewissen Unruhe, ja mit Entsetzen. »Diese Richtlinie basiert auf der großartigen Annahme, dass es schön für alle wäre — ganz zu schweigen von der anschließenden adäquaten Berichterstattung —, wenn es bei der Übergabe der Befehlsgewalt an den US-Marshall von Sitka keine offenen Fälle mehr gäbe.«

»Give me a fucking break, Bina«, sagt Berko. Er hat sofort begriffen, worauf Inspector Gelbfish hinauswill. Landsman braucht eine Minute länger.

»Keine offenen Fälle«, wiederholt er mit idiotischer Ruhe.

»Diese Richtlinie«, sagt Bina, »hat den eingängigen Namen ›effektive Lösung‹ bekommen. Im Grunde genommen bedeutet es, dass ihr genauso viel Zeit in die Lösung eurer offenen Fälle investieren müsst, wie noch Arbeitstage übrig sind als Beamte der Mordkommission mit der Marke dieses Distrikts. Also ungefähr neun Wochen. Ihr habt elf offene Fälle. Ihr könnt sie aufteilen, wie ihr wollt, schon klar. Wie auch immer ihr’s machen wollt, ich bin einverstanden.«

»Einfach abwickeln?«, sagt Berko. »Du meinst —«

»Du weißt, was ich meine, Detective«, sagt Bina. Jetzt ist keinerlei Gefühl in ihrer Stimme und kein erkennbarer Ausdruck in ihrem Gesicht. »Hängt sie irgendwelchen Leuten an, die ihr finden könnt. Wenn ihr sie keinem anhängen könnt, nehmt ein bisschen Klebstoff. Den Rest« — ihre Stimme stockt ganz leicht — »steckt ihr einfach mit einem schwarzen Reiter versehen in Schrank 9.«

In Schrank 9 werden die unaufgeklärten Fälle verwahrt. Einen Fall in Schrank 9 abzulegen, spart Platz, aber ist so, als würde man die Akte in Brand setzen und mit der Asche bei stürmischem Wind spazieren gehen.

»Wir sollen sie versenken«, sagt Berko und kurbelt den Satz am Ende zu einer Frage hoch.

»Bemüht euch redlich innerhalb der Grenzen dieser neuen Richtlinie mit dem klangvollen Namen, und wenn das nicht hilft, bemüht euch unredlich.« Bina starrt auf den kuppelförmigen Briefbeschwerer auf Felsenfelds Tisch. Die Kuppel enthält ein winziges Modell der Silhouette von Sitka, eine Karikatur aus billigem Plastik. Ein Wirrwarr von Hochhäusern in einer Traube um den Safety Pin, jenen einsamen Finger, der wie anklagend gen Himmel weist. »Und dann pappt einen schwarzen Reiter drauf.«

»Du sprachst von elf«, sagt Landsman.

»Das ist dir aufgefallen.«

»Aber nach gestern Abend haben wir, bei allem Respekt, Inspector, und so peinlich das auch ist … ähm, es sind zwölf. Nicht elf. Zwölf offene Fälle bei Shemets und Landsman.«

Bina greift zu dem schmalen blauen Ordner, den Landsman in der letzten Nacht zur Welt gebracht hat.

»Der hier?« Sie schlägt ihn auf und studiert vorgeblich oder tatsächlich Landsmans Bericht über die augenscheinlich aus kürzester Entfernung erfolgte Hinrichtung des Mannes, der sich Emanuel Lasker nannte. »Ja. Gut. So, jetzt möchte ich, dass ihr zuguckt, wie das geht.«

Sie zieht die oberste Schublade von Felsenfelds Schreibtisch auf, der, zumindest in den nächsten zwei Monaten, ihr gehören wird. Sie wühlt darin herum und zieht eine Grimasse, als wären darin ganz viele benutzte Schaumstoffohrstöpsel, was beim letzten Mal, als Landsman hineinschaute, tatsächlich der Fall war. Bina holt einen Plastikreiter zur Kennzeichnung von Akten hervor. Einen schwarzen. Sie fummelt den roten Reiter ab, den Landsman früh am Morgen auf die Lasker-Akte gedrückt hat, und tauscht ihn gegen den schwarzen aus, dabei atmet sie durch die Nase, so als würde man eine schwärende Wunde säubern oder etwas Ekelerregendes vom Teppich wischen. In den zehn Sekunden, die sie für den Wechsel braucht, altert sie um zehn Jahre, findet Landsman. Dann hält sie den jüngsten ungeklärten Fall von sich weg, zwischen zwei Fingern wie mit einer Pinzette.

»Effektive Lösung«, sagt sie.

8.

Das Nos ist, wie der Name schon sagt, eine Kneipe für Gesetzesvertreter, geschwängert mit nosigen Klagen und Klatsch, die von zwei ehemaligen Nos geführt wird. Das Nos hat nie geschlossen, und nie gehen der Kneipe die dienstfreien Gesetzesvertreter aus, die die große Eichentheke vorm Umfallen bewahren. Das Nos ist der richtige Ort, wenn man seiner Wut über das jüngste Meisterwerk von Schwachsinn Ausdruck verleihen möchte, das von den Abteilungsleitern nach unten durchgereicht wurde. Deshalb meiden Landsman und Berko den Laden. Sie gehen am Pearl of Manila vorbei, obwohl sie von den chinesischen Donuts nach Filipino-Art, glitzernde, zuckerbestäubte Zeichen einer besseren Existenz, angelockt werden. Sie meiden Feter Shnayer und Karlinsky’s, dann das Inside Passage und den Nyu-Yorker Grill. So früh am Morgen sind die meisten Läden eh noch geschlossen, und wer geöffnet hat, bedient Bullen, Feuerwehrleute oder Sanitäter.

Landsman und Berko, der große Mann und der kleine, ziehen die Schultern hoch gegen die Kälte und hasten aneinanderstoßend voran. Ihr Atem steigt in Schwaden auf, die sich umeinander winden und dann vom großen Nebel verschluckt werden, der über der Untershtot liegt. Dunstwolken ziehen durch die Straßen, lassen Scheinwerfer und Neonlichter verschwimmen, verhüllen den Hafen und hinterlassen einen Film ölig-silbriger Perlen auf Mantelaufschlägen und Hüten.

»Ins Nyu-Yorker geht keiner«, sagt Berko. »Da könnten wir hin.«

»Ich hab Tabatchnik mal da gesehen.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Tabatchnik niemals die Entwürfe für deine Geheimwaffe stehlen würde, Meyer.«

Landsman wünscht, er wäre im Besitz von Entwürfen für phantasievolle Todesstrahlen oder Gedankenkontrolllampen, irgendetwas, das die Korridore der Macht erschüttert. Das den Amerikanern mal richtig Angst vor Gott einjagt. Das, wenn auch nur für ein Jahr, ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert, die Gezeiten des jüdischen Exils aufhält.

Gerade wollen sie es mit dem düsteren Front Page aufnehmen, wo die Milch geronnen ist und der Kaffee kurz zuvor noch als Bariumklistier im Krankenhaus von Sitka diente, da entdeckt Landsman, wie der alte Dennis Brennan mit seinem Khaki-Arsch auf einen schwankenden Hocker am Tresen klettert. Schon seit das Blat vor Jahren dichtmachte und die Tog ihre Büros in ein neues Gebäude draußen am Flughafen verlegte, geht die Presse nicht mehr ins Front Page. Aber es ist schon eine Weile her, dass Brennan Sitka auf der Suche nach Glück und Gloria verließ. Er muss gerade wieder zurück in die Stadt geschneit sein. Offenbar hat ihm keiner erzählt, dass das Front Page tot ist.

»Zu spät«, sagt Berko. »Bastard hat uns gesehen.«

Im ersten Moment ist Landsman nicht sicher, ob das stimmt. Brennan sitzt mit dem Rücken zur Tür und studiert den Börsenteil jener berühmten amerikanischen Zeitung, deren Zweigstelle er bildete, bevor er seine große Chance bekam. Landsman greift nach Berkos Mantel und will den Kollegen die Straße hinunterziehen. Er sucht den perfekten Ort zum Reden, wo man vielleicht einen Bissen essen kann, ohne belauscht zu werden.

»Detective Shemets! Moment mal!«

»Zu spät«, räumt Landsman ein.

Er dreht sich um, und da steht Brennan, der Mann mit dem gewaltigen Kopf, hut- und mantellos, die Krawatte über die Schulter geweht, ein Penny im linken Slipper, den Bankrott im rechten. Flicken an den Ellenbogen seines Tweedsakkos im praktischen Farbton von Soßenflecken. Seine Wangen könnten eine Rasur vertragen, sein Schädel eine Wachspolitur. Vielleicht lief es doch nicht so prächtig für Dennis Brennan damals, als er groß rauskommen wollte.

»Guck dir den Kopf von dem Schejgetz an, der hat eine eigene Atmosphäre«, sagt Landsman. »Vereiste Polkappen.«

»Der Mann hat wirklich einen sehr großen Kopf.«

»Wenn ich ihn sehe, tun mir Hälse immer so leid.«

»Vielleicht sollte ich die Hände um seinen Hals legen. Zur Unterstützung.«

Brennan hebt seine weißen Larvenfinger und blinzelt mit den Äuglein. Sie sind vom farblosen Blau entrahmter Milch. Er setzt ein einstudiertes, reumütiges Lächeln auf, aber Landsman merkt, dass er gute eins zwanzig Ben Maymon Street Abstand zu ihm und Berko hält.

»Es besteht kein Bedarf, die unbesonnenen Drohungen von ehedem zu wiederholen, Detective Shemets, das versichere ich Ihnen«, sagt der Journalist in seinem flinken, grotesken Jiddisch. »Sie bleiben immergrün und kraftstrotzend im Saft ihrer ursprünglichen Gewalt.«

Brennan studierte Deutsch auf dem College und lernte Jiddisch bei einem aufgeblasenen alten Deutschen am Institut. Daher spricht er, so bemerkte einmal jemand, »wie ein Wurstrezept mit Fußnoten«. Ein starker Trinker, vom Temperament her inkompatibel mit langer Dämmerung und Regen. Legt die falsche Fährte aus, dumpf und schwer von Begriff zu sein, in gewisser Weise üblich unter Polizisten und Reportern. Dennoch ein Schlemiel. Niemand wunderte sich mehr über das Aufsehen, das Dennis Brennan in Sitka erregte, als Brennan selbst.

»Ich möchte Ihnen im Voraus versichern, dass ich Ihren Zorn fürchte, Detective. Und dass ich gerade vorgab, Sie an diesem trostlosen Loch unbemerkt vorbeigehen zu lassen, für das einzig und allein die völlige Abwesenheit von Zeitungsreportern spricht sowie die Tatsache, dass der Wirt in der langen Zeit meiner Abwesenheit meinen Schuldenstand vergessen hat. Mir ist jedoch bewusst, dass eine derartige Strategie sich bei meinem Glück bald wenden und mir in den Arsch beißen wird.«

»So viel Hunger hat keiner«, sagt Landsman. »Da hätten Sie wahrscheinlich nichts zu befürchten.«

Brennan wirkt verletzt. Eine empfindsame Seele ist er, dieser makrozephale Nichtjude, er labt sich an Kränkungen und ist resistent gegenüber Neckereien und Ironie. Seine gedrechselte Sprechweise lässt alles aus seinem Mund wie einen Scherz klingen, was nur das Bedürfnis dieses Mannes steigert, ernst genommen zu werden.

»Dennis J. Brennan«, sagt Berko. »Wieder unterwegs in Sitka?«

»Ich bin gestraft, Detective Shemets, ich bin gestraft.«

Das versteht sich von selbst. Eine Versetzung in die Sitkaer Zweigstelle jeder beliebigen amerikanischen Zeitung oder Fernsehstation, die überhaupt noch eine aufrechterhält, ist eine sprichwörtliche Bestrafung für Unfähigkeit oder Versagen. Brennans Rückversetzung hierher muss die Folge eines ganz kolossal verbockten Mists sein.

»Ich dachte, deshalb hätte man Sie weggeschickt, Brennan«, sagt Berko, und jetzt macht er keine Witze. Sein Blick wird leer, und er kaut den imaginären Streifen Doublemint oder Seehundfett oder den knorpeligen Klumpen von Brennans Herz. »Als Strafe für Ihre Sünden.«

»Meine Motivation, eine Tasse furchtbaren Kaffees stehenzulassen, Detective, und ein geplatztes Treffen mit einem Informanten, dem sowieso alles abgeht, was Informationen ähnelt, ist, hier herauszukommen und Ihren etwaigen Zorn in Kauf zu nehmen.«

»Brennan, Mensch, sprechen Sie Englisch!«, sagt Berko. »Was wollen Sie, verfluchter Dreck?«

»Ich will eine Story«, sagt Brennan. »Was sonst? Und ich weiß, dass ich keine von Ihnen bekomme, bevor ich nicht reinen Tisch gemacht habe. Also. Fürs Protokoll.« Wieder kettet er sich ans Ruder der Fliegenden-Holländer-Version seiner Muttersprache. »Mir fehlt die Absicht, etwas zurückzunehmen oder ungeschehen zu machen. Fügt diesem meinem ungeheuerlich vergrößerten Kopf ein Leid zu, bitte, aber ich stehe zu dem, was ich geschrieben habe, zu jedem Wort, bis zum heutigen Tage. Es war zutreffend, bewiesen und begründet. Und dennoch sage ich Ihnen gerne, dass die ganze traurige Angelegenheit einen schlechten Nachgeschmack in meinem Mund hinterließ —«

»Vielleicht der Geschmack Ihres Arsches?«, schlägt Landsman munter vor. »Vielleicht haben Sie sich in denselben gebissen.«

Doch Brennan segelt einfach weiter, wie ein Irrer. Landsman bekommt das Gefühl, dass der Goj schon längere Zeit darauf wartet, diese Platte abzuspielen. Kann sein, dass er mehr von Berko will als nur eine Story.

»Für meine Karriere, meine sogenannte, war es sicherlich nützlich. Einige Jahre lang. Es hat mich aus der Provinz, wenn Sie den Ausdruck verzeihen, nach L. A., Salt Lake, Kansas City gebracht.« Bei der Aufzählung der Stationen seines Niedergangs wird Brennans Stimme leiser und weicher. »Nach Spokane. Aber ich weiß, dass es schmerzhaft für Sie und Ihre Familie war, Detective. Daher würde ich gerne, wenn Sie es mir denn gestatten, um Entschuldigung für die von mir verursachten Verletzungen bitten.«

Kurz nach den Wahlen, die die jetzige Regierung in ihre erste Amtszeit trugen, verfasste Dennis J. Brennan eine Beitragsreihe für seine Zeitung. Er schilderte bis ins kleinste, verbissene Detail die schmutzige Geschichte von Korruption, Straftaten und verfassungswidriger Betrügerei, an der Hertz Shemets im Verlauf seiner vierzig Jahre beim FBI beteiligt war. Das Gegenspionageprogramm COINTEL-PRO wurde geschlossen, die Aufgaben wurden anderen Abteilungen übertragen, und Onkel Hertz wurde in einen schmachvollen Ruhestand gedrängt. Landsman, der damals durch nichts zu beeindrucken war, fiel es an den Tagen nach Erscheinen des ersten Artikels schwer, aus dem Bett zu kommen. Er hatte so gut wie alle anderen und besser als fast alle gewusst, dass sein Onkel sowohl als Mann wie auch als Beamter große Fehler hatte. Aber wenn man ergründen wollte, aus welchen Motiven ein Kind zum Nos wurde, lohnte es sich fast nie, an anderen Orten als ein oder zwei Ästchen höher im Stammbaum der Familie zu forschen. Fehler hin oder her, Onkel Hertz war für Landsman ein Held. Klug, hart, beharrlich, geduldig, methodisch, selbstsicher. Wenn seine schlechte Laune, seine Verschwiegenheit und seine Bereitschaft, Abkürzungen zu nehmen, ihn nicht zu einem Helden machten, so machten sie ihn auf jeden Fall zu einem Nos.

»Ich sage Ihnen das jetzt im Guten, Dennis«, sagt Berko. »Denn Sie sind ganz in Ordnung. Sie arbeiten hart, Sie schreiben anständig, und Sie sind der Einzige, neben dem mein Kollege wie ein Dressman aussieht: Leck mich am Arsch!«

Brennan nickt.

»Ich dachte mir, dass Sie so was sagen würden«, antwortet er traurig.

»Mein Vater ist ein verdammter Einsiedler geworden«, sagt Berko. »Ein Pilz. Er lebt mit Ohrenkneifern und solchen Krabbeltieren unter einem Baumstamm. Ganz egal, was für schändliches Zeug er im Schilde führte, er hat nur getan, was seiner Meinung nach gut für die Juden war, und wissen Sie, was die Scheiße an der Sache ist? Er hatte recht, denn gucken Sie sich mal die gequirlte Kacke an, in der wir ohne ihn stecken.«

»Herrje, Shemets, das höre ich nicht gerne. Und ich male mir nicht gerne aus, dass etwas aus meiner Feder irgendwas mit dem zu tun hat — dass es irgendwie zu dem … zu der misslichen Lage geführt hat, in der ihr Jids euch nun befindet … ah, Scheiße. Vergesst es.«

»Gut«, sagt Landsman. Er greift wieder nach Berkos Ärmel. »Komm!«

»Hey, ähm, ja. Wo wollt ihr denn hin? Was ist los?«

»Wir bekämpfen nur das Verbrechen«, sagt Landsman. »Genau wie beim letzten Mal, als Sie hier einflogen.«

Da Brennan nun sein Gewissen erleichtert hat, nimmt der Hund in ihm die Witterung von Berko und Landsman auf. Vielleicht hat er es schon aus einem Häuserblock Entfernung gerochen, konnte es durch die Fensterscheibe sehen, ein Rucken in Berkos wiegendem Gang, ein Kilo zusätzlicher Last auf Landsmans Schultern. Vielleicht sollte die ganze Entschuldigungsnummer von Anfang an nur in die Frage münden, die er nun in seiner Muttersprache hervorzerrt, nackt und schlicht:

»Wer ist tot?«

»Ein Jid, der Schwierigkeiten hatte«, sagt Berko. »Hund beißt Mensch.«

9.

Sie lassen Brennan vor dem Front Page stehen, seine Krawatte schlägt ihm auf die Stirn wie eine reumütige Hand, und sie gehen zur Ecke Seward, dann die Peretz hinunter und biegen direkt hinter dem Palatz-Theater im Windschatten von Baranof Hill ab zu einer schwarzen Tür in einer schwarzen Marmorfassade mit einem großen, schwarz gestrichenen Panoramafenster.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, sagt Berko.

»In den letzten fünfzehn Jahren hab ich keinen anderen Schammes im Vorsht gesehen.«

»Meyer, es ist Freitagmorgen, halb zehn. Da sind doch höchstens Ratten drin.«

»Stimmt nicht«, sagt Landsman. Er führt Berko zur Seitentür und legt die Fingerknöchel daran, klopft zweimal. »Ich fand immer, dies wäre der richtige Ort, um Missetaten zu planen, falls ich jemals Missetaten im Schilde führen würde, die geplant werden müssten.«

Mit einem Stöhnen schwingt eine schwere Stahltür auf und gibt den Blick frei auf Mrs. Kalushiner, die ein graues Kostüm und schwarze Pumps trägt, als wolle sie in Schul oder zur Arbeit bei der Bank gehen, das Haar auf rosa Schaumgummiwickler gedreht. In der Hand hält sie einen Pappbecher mit einer Flüssigkeit, die wie Kaffee oder vielleicht Pflaumensaft aussieht. Mrs. Kalushiner kaut Tabak. Der Becher ist ihr ständiger, wenn nicht einziger Begleiter.

»Aha«, sagt sie und macht ein Gesicht, als hätte sie gerade Ohrenschmalz vom Finger geleckt. Dann spuckt sie auf ihre kultivierte Art in den Becher. Mit der weisen Macht der Gewohnheit schaut sie gründlich die Gasse hoch und runter, um zu sehen, welchen Ärger die beiden mitgebracht haben. Kurz und unverhohlen mustert sie den riesigen jarmulketragenden Indianer, der im Begriff ist, ihr Etablissement zu betreten. Bisher waren alle Menschen, die Landsman zu dieser Tageszeit mitgebracht hat, nervöse, mausäugige Schtinker wie Benny »Shpilkes« Plotner und Zigmund Landau, der Heifetz der Informanten. Nie sah jemand weniger wie ein Schtinker aus als Berko Shemets. Und bei allem Respekt vor der Mütze und den Bommeln kann der Kerl vor ihr auf gar keinen Fall ein Mittelsmann sein, schon gar kein rangniederer Mafioso, nicht mit dieser Indianervisage. Als Mrs. Kalushiner Berko trotz gründlicher Überlegung nicht in ihre Systematik zwielichtiger Typen einordnen kann, spuckt sie in ihren Becher. Dann richtet sie den Blick wieder auf Landsman und seufzt. Einer gewissen Zählweise folgend, schuldet sie Landsman siebzehn Gefallen; nach einer anderen müsste sie ihm in die Magengrube schlagen. Sie tritt zur Seite und lässt die beiden herein.

Das Lokal ist so leer wie ein Innenstadtbus nach Dienstschluss und riecht doppelt so streng. Vor Kurzem muss jemand mit einem Eimer Bleiche hindurchgegangen sein, um einige Obertöne in den konstanten Basso continuo aus Schweiß und Pissoirgestank des Vorsht zu tupfen. Über oder unter allem nimmt die scharfe Nase den Mantelfuttergeruch von abgegriffenen Dollarscheinen wahr.

»Setzt euch da hin«, sagt Mrs. Kalushiner, ohne anzuzeigen, wo sie die Männer gerne sitzen sehen möchte. Die runden Tische auf der überfüllten Bühne tragen umgedrehte Stühle wie Geweihe. Landsman stellt zwei davon auf und nimmt mit Berko Platz, fern der Bühne, neben dem schwer verriegelten Eingang. Mrs. Kalushiner geht ins Hinterzimmer, und der Perlenvorhang klappert hinter ihr wie lose Zähne in einem Eimer.

»Das ist ’ne Puppe«, sagt Berko.

»Ein Schatz«, pflichtet Landsman ihm bei. »Sie ist nur morgens hier. So muss sie sich nicht mit der Kundschaft rumschlagen.« Das Vorsht ist der Laden, wo die Musiker von Sitka weitertrinken, wenn Theater und Clubs schließen. Weit nach Mitternacht drängen sie sich hinein, Schnee auf den Hüten, Regen in den Aufschlägen, und bevölkern die kleine Bühne, schlachten sich gegenseitig mit Klarinetten und Geigen. Wie gewöhnlich, wenn sich Engel treffen, besteht ihre Gefolgschaft aus Teufeln: Gangster, Gannefs und glücklose Frauen. »Sie macht sich nichts aus Musikern.«

»Aber ihr Mann war doch … Ah, verstehe.«

Nathan Kalushiner war bis zu seinem Tod Inhaber des Vorsht und der König der Sopranklarinette. Er war ein Spieler und ein Junkie und in vielerlei Hinsicht ein schlechter Mann, aber er spielte, als wohne ein Dibbuk in ihm, und Landsman, der Musikliebhaber, passte immer auf den verrückten kleinen Schejgetz auf und versuchte, Kalushiner aus den hässlichen Situationen zu helfen, in die sein schlechtes Urteilsvermögen und seine angenagte Seele ihn brachten. Eines Tages verschwand Kalushiner mit der Frau eines wohlbekannten russischen Schtarkers und hinterließ Mrs. Kalushiner nichts als das Vorsht und die gute Absicht seiner Gläubiger. Später wurden Teile von Nathan Kalushiner unter den Docks oben in Yakovy angespült, nicht aber seine Sopranklarinette.

»Und das ist der Hund von dem Typ?«, fragt Berko und weist auf die Bühne. An der Stelle, wo Kalushiner jeden Abend stand und spielte, sitzt ein kraushaariger Terriermischling, weiß mit braunen Flecken und einem schwarzen Ring ums Auge. Er hockt einfach mit gespitzten Ohren da, als lausche er dem Echo einer Stimme oder der Musik in seinem Kopf. Eine durchhängende Kette verbindet den Hund mit einem Stahlring in der Wand.

»Das ist Hershel«, sagt Landsman. Etwas an dem geduldigen Gesichtsausdruck des Hundes, an der stillen, hündischen Leidensfähigkeit, tut Landsman weh. Er wendet den Blick ab. »Seit fünf Jahren sitzt er da.«

»Rührend.«

»Kann schon sein. Aber ehrlich gesagt, läuft es mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich das Tier sehe.«

Mrs. Kalushiner kommt zurück mit einer Metallschüssel voll eingelegter Tomaten und Gurken, einem Korb mit Brötchen und einer Schale saurer Sahne. Alles schaukelt auf ihrem linken Arm. Die rechte Hand trägt natürlich den Pappspucknapf.

»Tolle Mixpickles«, versucht es Berko, und als er damit nichts erreicht: »Süßer Hund.«

Rührend findet Landsman die Mühe, die Berko Shemets immer bereit ist zu investieren, wenn er ein Gespräch mit jemandem beginnt. Je mehr sich der andere zurückzieht, desto entschlossener wird der alte Berko. Das war bei ihm schon als Kind so. Er besaß diesen Eifer, sich auf Menschen einzulassen, besonders auf seinen vakuumversiegelten Cousin Meyer.

»Ein Hund ist ein Hund«, sagt Mrs. Kalushiner.

Sie knallt die Mixpickles und die saure Sahne auf den Tisch, lässt den Korb mit den Mohnbrötchen fallen und zieht sich dann mit erneutem Perlengeklapper ins Hinterzimmer zurück.

»Ich müsste dich um einen Gefallen bitten«, sagt Landsman, den Blick auf den Hund gerichtet, der sich nun mit arthritischen Knien auf die Bühne gelegt und den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet hat. »Und ich hoffe sehr, dass du nein sagst.«

»Hat dieser Gefallen irgendwas mit einer ›effektiven Lösung‹ zu tun?«

»Machst du dich über die Richtlinie lustig?«

»Nicht nötig«, sagt Berko. »Das macht die Richtlinie schon selbst.« Er zupft eine eingelegte Tomate aus der Schale, tupft sie in die saure Sahne und schiebt sie sich mit dem Zeigefinger dezent in den Mund. Aus Freude an dem in seinem Mund spritzenden sauren Gemisch aus Fruchtfleisch und Lake verzieht er das Gesicht. »Bina sieht gut aus.«

»Hab ich auch gedacht.«

»Ein richtiger Kerl.«

»Hast du immer schon gesagt.«

»Bina, Bina.« Freudlos schüttelt Berko den Kopf, aber gleichzeitig gelingt es ihm irgendwie, liebevoll dreinzuschauen. »In ihrem letzten Leben muss sie eine Wetterfahne gewesen sein.«

»Das stimmt nicht«, sagt Landsman. »Es stimmt, aber es stimmt nicht.«

»Du meinst, Bina ist keine Karrierefrau?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Sie ist eine, Meyer, war sie schon immer. Das gehört zu den Dingen, die mir an ihr am besten gefallen. Bina ist ein kluges Köpfchen. Sie ist hartnäckig. Sie ist politisch. Sie wirkt loyal, in beide Richtungen, nach oben und nach unten, und das ist ganz schön schwierig. Sie hat das Zeug zum Inspector. Bei jeder Polizei, in jedem Land der Welt.«

»Sie war Klassenbeste«, sagt Landsman. »An der Akademie.«

»Aber du hattest mehr Punkte im Eignungstest.«

»Ja, schon«, sagt Landsman. »Stimmt. Habe ich das mal erzählt?«

»Selbst die US-Marshals sind so schlau, dass sie auf Bina Gelbfish aufmerksam werden«, sagt Berko. »Sie will doch nur sichergehen, dass es in Sitka auch nach der Reversion einen Platz für sie im Gesetzesvollzug gibt, und das werde ich ihr nicht zum Vorwurf machen.«

»So siehst du das also«, sagt Landsman. »Ich glaube das aber nicht. Das ist nicht der Grund, warum sie die Stelle angenommen hat. Oder nicht der einzige Grund.«

»Warum denn dann?«

Landsman zuckt mit den Schultern.

»Weiß ich nicht«, gibt er zu. »Vielleicht fiel ihr nichts Besseres ein, was sie sonst tun sollte.«

»Hoffentlich doch. Sonst ist sie plötzlich wieder mit dir zusammen.«

»Gottbewahre!«

»Horror!«

Landsman tut, als würde er dreimal über die Schulter nach hinten spucken. Und als er sich gerade fragt, ob diese Sitte etwas mit der Tradition des Tabakkauens zu tun hat, kehrt Mrs. Kalushiner zurück, die schwere Eisenkugel ihres Lebens hinter sich her ziehend.

»Ich habe hartgekochte Eier«, sagt sie drohend. »Ich habe Bagel. Ich habe Kalbsbeinsülze.«

»Nur eine Kleinigkeit zu trinken, Mrs. K.«, sagt Landsman. »Berko?«

»Sprudelwasser«, sagt Berko. »Mit einem Schnitz Zitrone.«

»Sie wollen essen«, sagt sie zu ihm. Es ist keine Frage.

»Warum nicht?«, sagt Berko. »Na gut, bringen Sie mir ein paar Eier.«

Mrs. Kalushiner wendet sich Landsman zu, und er spürt Berkos Augen auf sich. Sie fordern ihn heraus, sie rechnen damit, dass er einen Sliwowitz bestellt. Er spürt Berkos Erschöpfung, seine Ungeduld und seinen Überdruss mit Landsman und dessen Problemen. Es ist langsam an der Zeit, dass er sich zusammenreißt, oder? Dass er etwas findet, wofür es sich zu leben lohnt, und einfach weitermacht.

»Coca-Cola«, sagt Landsman. »Bitte.«

Es mag die erste Antwort sein, mit der Landsman oder jemand anders die Witwe von Nathan Kalushiner je überrascht hat. Sie hebt eine stahlgraue Augenbraue und wendet sich ab. Berko greift zu einer eingelegten Gurke und schüttelt die Pfefferkörner und Nelken ab, die ihre warzige grüne Haut sprenkeln. Er zermalmt die Gurke zwischen den Zähnen und runzelt glücklich die Stirn.

»Nur eine saure Frau macht gute Mixpickles«, sagt er, und dann beiläufig neckend: »Willst du auch bestimmt kein Bier?«

Liebend gerne würde Landsman ein Bier trinken. Er schmeckt das bittere Karamell hinten auf der Zunge. Der Inhalt von Ester-Malkes Flasche muss seinen Körper noch verlassen, aber Landsman erhält Signale, dass die Flüssigkeit ihre Siebensachen gepackt hat und abfahrbereit ist. Der Vorschlag oder der Appell, den er seinem Kollegen machen wollte, erscheint ihm jetzt als die vielleicht dümmste Idee, die er je gehabt hat, und alles andere als lebenswert. Aber es muss sein.

»Scheiße«, sagt er und erhebt sich vom Tisch. »Ich muss mal pinkeln.«

Auf dem Herrenklo findet Landsman den Körper eines E-Gitarristen. Oft hat Landsman von einem Tisch hinten im Vorsht diesen Jid und sein Spiel bewundert. Er war einer der Ersten, der die Technik und die Einstellung der amerikanischen und britischen Rockgitarristen in die Bulgars und Frejlechs der jüdischen Tanzmusik importierte. Er hat ungefähr dasselbe Alter und dieselbe Vergangenheit wie Landsman, wuchs wie er auf in Halibut Point, und in prahlerischen Momenten hat Landsman sich oder vielmehr seine Polizeiarbeit mit dem intuitiven, aufblitzenden Spiel dieses Mannes verglichen, der nun tot oder ohnmächtig im Klo liegt, die Geldhand in der Toilettenschüssel. Er trägt einen dreiteiligen Lederanzug und eine rote Stoffkrawatte. Seine gerühmten Finger sind ihrer Ringe beraubt, geisterhafte Einkerbungen sind zurückgeblieben. Auf dem gekachelten Boden liegt eine Brieftasche, sie wirkt leer und gedehnt.

Der Musiker schnarcht, einmal. Mit seinen intuitiven, aufblitzenden Fähigkeiten tastet Landsman die Halsschlagader des Mannes nach einem Puls ab. Er schlägt gleichmäßig. Die Luft um den Musiker summt fast bis zur Selbstentzündung vor Alkohol. Tatsächlich scheinen Bargeld und Ausweise aus der Brieftasche geplündert zu sein. Landsman klopft den Musiker ab und findet ein Fünftel kanadischen Wodkas in der linken Tasche des Ledersakkos. Die Knete haben sie ihm genommen, aber nicht den Schnaps. Landsman will nichts trinken. Ganz im Gegenteil: Bei der Vorstellung, diesen Dreck in seinen Magen zu kippen, geht sogar ein Ruck durch ihn, als würde sich so etwas wie ein moralischer Muskel zusammenziehen. Er wagt einen kurzen Blick in den spinnwebverhangenen Rübenkeller seiner Seele und kommt nicht umhin festzustellen, dass sein pulsierender Ekel vor der immer noch beliebten kanadischen Wodkamarke offenbar etwas mit seiner Exfrau zu tun hat, mit der Tatsache, dass sie wieder in Sitka ist und so stark und saftig und binamäßig aussieht. Ihr täglicher Anblick wird eine Qual sein, so wie Gott Moses jeden einzelnen Tag seines Lebens mit dem flüchtigen Blick auf Zion vom Gipfel des Berges Nebo quälte.

Landsman schraubt die Wodkaflasche auf und nimmt einen großen, langen Schluck. Er brennt wie eine Mischung aus Lösungsmittel und Lauge. Es bleiben noch einige Zentimeter in der Flasche, aber Landsman selbst ist vom Scheitel bis zur Sohle prall gefüllt mit purer, brennender Reue. Die alten Parallelen, die er einst selbstzufrieden zwischen dem Gitarristen und sich zog, wenden sich nun gegen ihn. Nach einer kurzen, aber heftigen Debatte beschließt Landsman, die Flasche nicht in den Müll zu werfen, wo sie keinem etwas nützt. Er verlegt sie in die gemütliche Seitentasche seines eigenen Niedergangs. Dann zerrt er den Musiker aus dem Klo und trocknet sorgfältig dessen rechte Hand. Zum Schluss pinkelt er, schließlich ist er deshalb hergekommen.

Die Musik von Landsmans Urin auf Porzellan und Wasser verlockt den Musiker, die Augen zu öffnen.

»Mir geht’s gut«, sagt er vom Boden aus zu Landsman.

»Na klar, mein Schejner«, sagt Landsman.

»Rufen Sie bitte nicht meine Frau an.«

»Tu ich nicht«, versichert Landsman ihm, doch da ist der Jid schon wieder weggetreten. Landsman schleppt den Musiker in den hinteren Gang und lässt ihn dort mit einem Telefonbuch als Kopfkissen liegen. Dann geht er zurück zum Tisch und zu Berko Shemets und trinkt einen artigen Schluck aus dem Glas mit kohlengesäuertem Zucker.

»Hmm«, sagt er. »Cola.«

»So«, sagt Berko. »Was für ein Gefallen?«

»Ja«, sagt Landsman. Das wiedererwachende Vertrauen in sich und seine Absichten, das er jetzt spürt, dieses Wohlgefühl, ist eine von einem billigen Schluck Wodka hervorgerufene Illusion. Das wird ihm nun klar, zusammen mit der Erkenntnis, dass aus der Sicht von, sagen wir mal, Gott jegliches menschliches Selbstvertrauen eine Illusion ist und jede Absicht ein Witz. »Einen ziemlich großen.«

Berko weiß, worauf Landsman hinauswill. Aber Landsman ist noch nicht so weit, den Schritt zu tun.

»Du und Ester-Malke«, sagt Landsman. »Ihr habt euch um das Wohnrecht beworben.«

»Ist das deine große Frage?«

»Nein, das ist nur die Einleitung.«

»Wir haben uns um Green Cards beworben. Jeder hier im Distrikt, der nicht nach Kanada oder Argentinien oder wer weiß wohin auswandert, hat sich um das Wohnrecht beworben. Herrgott, Meyer, du etwa nicht?«

»Ich weiß, dass ich es vorhatte«, sagt Landsman. »Vielleicht hab ich’s auch getan. Ich weiß es nicht mehr.«

Das ist zu schockierend für Berko, um es zu verarbeiten, aber es ist nicht das, weswegen Landsman mit ihm hergekommen ist.

»Doch, hab ich«, sagt Landsman. »Jetzt erinnere ich mich. Klar. Hab den I-999 und alles ausgefüllt.«

Berko nickt, als glaube er Landsmans Lüge.

»So«, sagt Landsman. »Ihr wollt also hierbleiben. In Sitka.«

»Vorausgesetzt, wir bekommen Ausweise.«

»Warum solltet ihr nicht?«

»Wegen der Begrenzung. Man sagt, nicht mal vierzig Prozent bekommen einen Ausweis.« Berko schüttelt den Kopf, momentan so ungefähr die nationale Reaktion, wenn das Gespräch auf die Frage kommt, wo andere Juden aus Sitka nach der Reversion hinwollen oder was sie vorhaben. Bisher hat es keine Zusicherungen gegeben — die Zahl von vierzig Prozent ist letztendlich auch nur ein Gerücht —, und es gibt Radikale, die mit wildem Blick behaupten, dass die Zahl der Juden, die nach Inkrafttreten der Reversion tatsächlich die Erlaubnis erhalten werden, als rechtmäßige Bürger im dann vergrößerten Staat Alaska zu leben, eher bei zehn bis fünfzehn Prozent liegen werde. Dieselben Personen laufen umher und rufen auf zu bewaffnetem Widerstand, Sezession, einer Unabhängigkeitserklärung und so weiter. Landsman hat diesen Debatten und Gerüchten um die wichtigste Frage in seinem kleinen Universum nur sehr wenig Beachtung geschenkt.

»Der Alte«, sagt Landsman. »Kann der nichts mehr reißen?«

Vierzig Jahre lang missbrauchte Hertz Shemets — wie Dennis Brennans Serie offenbarte — seine Stellung als Leiter des Überwachungsprogramms des FBI, um sein eigenes Spiel mit den Amerikanern zu treiben. Erstmals warb ihn die Behörde in den Fünfzigern an, um Kommunisten und die jiddische Linke zu bekämpfen, die zwar zerstritten, aber stark, hartgesotten, verbittert und misstrauisch gegenüber den Amerikanern war, und, im Fall der Zionisten, nicht besonders dankbar, in Sitka gelandet zu sein. Hertz Shemets’ Mandat bestand darin, die Roten vor Ort zu überwachen und zu unterwandern. Hertz rottete sie aus. Er verfütterte die Sozialisten an die Kommunisten, die Stalinisten an die Trotzkisten, die hebräischen Zionisten an die jiddischen Zionisten, und als die Fütterung vorbei war, wischte er allen Verbliebenen den Mund ab und verfütterte sie aneinander. Ende der Sechziger wurde Hertz auf die gerade entstehende radikale Bewegung unter den Tlingit losgelassen, und mit der Zeit hatte er auch ihr Zähne und Krallen gezogen.

Doch all diese Tätigkeiten waren, wie Brennan nachwies, nur eine Fassade für Hertz’ wahren Plan: Dem Distrikt den »dauerhaften Status« als jüdische Enklave zu sichern. Das, oder in seinen kühnsten Träumen sogar die staatliche Souveränität. »Schluss mit dem ewigen Wandern«, erinnert sich Landsman, sagte sein Onkel zu seinem Vater, dessen Seele sich bis zum Tag seines Todes eine Spur von romantischem Zionismus bewahrte. »Schluss mit Vertreibungen, mit dem Umherziehen und den Träumen von einer Zukunft im Land der Kamele. Es ist Zeit, dass wir nehmen, was wir bekommen können, und an Ort und Stelle bleiben.«

Jedes Jahr, stellte sich heraus, zweigte Onkel Hertz bis zur Hälfte des ihm zur Verfügung stehenden Budgets ab, um die Personen zu bestechen, von denen er bezahlt wurde. Er kaufte Senatoren und bohrte die Honigtöpfe des Kongresses an, doch vor allem fabulierte er reichen amerikanischen Juden etwas vor, da er ihren Einfluss für ausschlaggebend hielt. Dreimal wurden Gesetzesvorlagen zum dauerhaften Status eingereicht und abgeschmettert, zweimal im Ausschuss, einmal nach erbitterter, kontroverser Debatte erst im Plenum. Ein Jahr nach der Aussprache zog der jetzige Präsident Amerikas erfolgreich mit einer Fahne in den Wahlkampf, auf der die längst überfällige Durchsetzung der Reversion mit dem Slogan »Alaska den Ureinwohnern« versprochen wurde. Und Dennis Brennan scheuchte Hertz unter einen Baumstamm.

»Der Alte?«, sagt Berko. »Da unten in seinem indianischen Westentaschenreservat? Mit seiner Ziege? Und dem Elchfleisch in der Kühltruhe? Ja, der ist eine wahrhaft graue Eminenz in den Korridoren der Macht. Aber trotzdem, es sieht ganz gut aus.«

»Ja?«

»Ester-Malke und ich haben schon eine dreijährige Arbeitserlaubnis bekommen.«

»Das ist ein gutes Zeichen.«

»Sagt man.«

»Natürlich würdest du nichts tun, das euren Status irgendwie gefährden könnte.«

»Nein.«

»Befehle verweigern. Leute anpissen. Deine Pflicht vernachlässigen.«

»Niemals.«

»Schon gut.« Landsman greift in die Tasche seines Sakkos und holt das Schachspiel hervor. »Hab ich dir mal von dem Zettel erzählt, den mein Vater hinterließ, als er sich umbrachte?«

»Es soll ein Gedicht gewesen sein.«

»Eher ein Knittelvers«, sagt Landsman. »Sechs Zeilen in Jiddisch an eine unbenannte Frau.«

»Oho!«

»Nein, nein. Nichts Schlüpfriges. Es war, nun ja, er drückt darin sein Bedauern, seine Unzulänglichkeit aus. Seinen Verdruss über sein Versagen. Bekennt sich zu Hingabe und Respekt. Berührende Dankesworte für den Trost, den sie ihm spendete, und vor allem für das Vergessen, das ihre Gesellschaft ihm im langen, bitteren Lauf der Jahre schenkte.«

»Du kannst es auswendig.«

»Ja. Aber mir fiel etwas auf, das mich störte. Deshalb zwang ich mich, es zu vergessen.«

»Was fiel dir auf?«

Landsman geht nicht auf die Frage ein, weil Mrs. Kalushiner mit den Eiern kommt, sechs an der Zahl, gepellt und angerichtet auf einem kleinen Teller mit sechs runden Vertiefungen von der Größe eines breiten Eierpopos. Salz. Pfeffer. Ein Glas Senf.

»Wenn man ihm die Leine abnimmt«, sagt Berko und zeigt mit dem Daumen auf Hershel, »dann geht er vielleicht auf ein Sandwich oder so nach draußen.«

»Er mag die Leine«, sagt Mrs. Kalushiner. »Ohne schläft er nicht.«

Sie lässt die beiden erneut allein.

»Das nervt mich«, sagt Berko mit Blick auf Hershel.

»Ich weiß, was du meinst.«

Berko salzt ein Ei und beißt hinein. Seine Zähne hinterlassen Einkerbungen im gekochten Weiß.

»Also, dieses Gedicht«, sagt er. »Dieser Vers.«

»Natürlich ging jeder davon aus«, sagt Landsman, »dass meine Mutter die Adressatin von meines Vaters Strophe war. Zuallererst sie selbst.«

»Die Beschreibung passt auf sie.«

»Der Meinung waren alle. Deshalb habe ich nie jemandem erzählt, was ich entdeckte. In meinem ersten offiziellen Fall als Nachwuchs-Schammes.«

»Nämlich?«

»Nämlich dass sich aus den jeweils ersten Buchstaben der sechs Zeilen ein Name ergibt: Caissa.«

»Caissa? Was ist denn das für ein Name?«

»Ich glaube, das ist Latein«, sagt Landsman. »Caissa ist die Göttin der Schachspieler.«

Er öffnet den Deckel des Taschenschachspiels, das er im Drugstore am Korczak-Platz gekauft hat. Die Figuren stehen noch so wie am Morgen, als er sie in der Wohnung der Taytsh-Shemets’ aufstellte, und wie sie von dem Mann, der sich Emanuel Lasker nannte, hinterlassen wurden. Oder von seinem Mörder oder von der blassen Caissa, der Göttin der Schachspieler, die vorbeischaute, um wieder einem ihrer unglücklichen Jünger Lebewohl zu sagen. Schwarz hat nur noch drei Bauern, zwei Springer, einen Läufer und einen Turm. Weiß hält noch alle größeren und kleinen Figuren und zwei Bauern, von denen einer kurz vor der Umwandlung steht. Das Ganze wirkt sonderbar ungeordnet, als sei die Partie, die zu diesem Stand führte, sehr chaotisch gewesen.

»Wenn es irgendwas anderes wäre, Berko«, sagt Landsman mit entschuldigender Geste. »Ein Kartenspiel. Ein Kreuzworträtsel. Eine Bingokarte.«

»Ich verstehe«, sagt Berko.

»Aber nein, es musste eine verfluchte unterbrochene Schachpartie sein.«

Berko dreht das Brett herum und betrachtet es eine Weile, dann schaut er zu Landsman auf. Jetzt ist der Moment gekommen, mich zu fragen, sagt er mit seinen großen, dunklen Augen.

»Also, wie gesagt. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Nein«, sagt Berko, »musst du nicht.«

»Du hast die Lady gehört. Du hast gesehen, wie sie den schwarzen Aktenreiter draufgedrückt hat. Die Sache war von Anfang an ein Haufen Scheiße. Bina hat es nur offiziell gemacht.«

»Du siehst das anders.«

»Bitte, Berko, fang jetzt nicht plötzlich an, meine Meinung zu respektieren«, sagt Landsman. »Nicht nachdem ich mich so lange bemüht habe, das zu verhindern.«

Berko hat den Hund zunehmend starr beobachtet, jetzt erhebt er sich abrupt und geht zur Bühne. Er poltert die drei Holzstufen hoch und schaut auf Hershel. Dann hält er ihm die Hand zum Schnüffeln hin. Der Hund setzt sich auf und liest mit der Nase auf Berkos Handrücken die Abschrift von Babys, Waffeln und dem Innenraum eines 1971er Super Sport. Schwerfällig hockt sich Berko neben den Hund und hakt die Leine aus dem Halsband. Er nimmt den Kopf des Hundes in seine großen Hände und blickt in seine unheimlichen Augen.

»Genug schojn«, sagt er. »Er kommt nicht wieder.«

Der Hund blickt Berko an, als interessiere er sich aufrichtig für diese Nachricht. Dann springt er auf alle viere und humpelt zur Treppe, die er vorsichtig herunterstolpert. Mit klackernden Nägeln überquert er den Betonboden zu dem Tisch, an dem Landsman sitzt, und sieht zu ihm auf, als suche er Bestätigung.

»Das ist die reine Emmes, Hershel«, sagt Landsman zum Hund. »Mit Zahnabdrücken bewiesen.«

Der Hund scheint darüber nachzudenken; dann läuft er, zu Landsmans großer Überraschung, zur Eingangstür. Berko schaut Landsman vorwurfsvoll an: Was habe ich dir gesagt? Mit einem kurzen Blick zum Perlenvorhang schiebt er den Riegel zurück, dreht den Schlüssel und öffnet die Tür. Der Hund trottet nach draußen, als habe er etwas Wichtiges zu erledigen.

Berko kehrt mit einer Miene an den Tisch zurück, als hätte er gerade eine Seele vom ewigen Rad des Karma erlöst.

»Du hast gehört, was die Lady gesagt hat. Wir haben noch neun Wochen Zeit«, sagt er. »Mehr oder weniger. Wir können ein, zwei Tage lang so tun, als hätten wir eine Menge zu erledigen, und in der Zeit die Sache mit dem toten Junkie aus deinem Hotel untersuchen.«

»Ihr bekommt ein Kind«, sagt Landsman. »Ihr seid bald zu fünft.«

»Was meinst du damit?«

»Damit meine ich, dass es fünf Taytsh-Shemets sind, denen wir die Tour vermiesen, falls jemand nach Gründen sucht, euch die Aufenthaltsgenehmigung zu verweigern, wie man immer wieder hört, und falls einer der Gründe eine jüngst erfolgte Vorladung wäre, weil du dich den Anordnungen eines Vorgesetzten widersetzt hast, ganz zu schweigen von einer krassen Missachtung der Abteilungspolitik, wie dämlich und duckmäuserisch sie auch sein mag.«

Berko blinzelt, schiebt sich noch eine eingelegte Tomate in den Mund, kaut und seufzt.

»Ich hatte nie Geschwister«, sagt er. »Nur Cousins und Cousinen. Die meisten waren Indianer und wollten nichts von mir wissen. Zwei waren Juden. Einer von ihnen ist tot — möge ihr Name zum Segen sein. Bleibst nur noch du.«

»Das weiß ich zu schätzen, Berko«, sagt Landsman. »Das sollst du wissen.«

»Fuck that shit«, sagt Berko. »Wir gehen ins Einstein, stimmt’s?«

»Ja«, sagt Landsman. »Ich dachte, da sollten wir anfangen.«

Ehe sie aufstehen oder mit Mrs. Kalushiner abrechnen können, kratzt es an der Tür, dann folgt ein langes, tiefes Stöhnen. Das Geräusch ist menschlich und verzweifelt, Landsman stehen die Nackenhaare zu Berge. Er geht zur Tür und lässt den Hund herein. Der klettert zurück auf die Bühne, an den Platz, wo die Farbe auf den Dielenbrettern bereits fehlt, setzt sich mit gespitzten Ohren hin, um den Klang eines entschwundenen Horns zu erhaschen, und wartet geduldig auf das Einklinken der Leine.

10.

Das nördliche Ende der Peretz Street besteht aus Betonplatten und Stahlsäulen, aus aluminiumgerahmten Fenstern mit Thermopaneverglasung gegen die Kälte. Die Häuser in diesem Teil der Untershtot wurden in den frühen Fünfzigern errichtet, Schutzräume, von Überlebenden rasch zusammenmontiert, mit einer gewissen noblen Hässlichkeit. Jetzt verbreiten sie nur noch die Hässlichkeit von Alter und Leerstand. Geschlossene Ladenlokale, verklebte Scheiben. Im Schaufenster von Nr. 1911, wo Landsmans Vater an Treffen der Edelshtat-Gesellschaft teilnahm, bevor ein Outlet-Store für Pflegeprodukte einzog, hockt mit sardonischem Grinsen ein Stoffkänguruh und hält ein Pappschild hoch: »Australien oder Pleite«. Das Hotel Einstein mit der Hausnummer 1906 sehe aus, meinte ein Witzbold bei seiner Eröffnung, wie ein Rattenkäfig in einem Aquarium. Es ist in Sitka ein beliebter Schauplatz für Selbstmorde. Traditionell und per Satzung ist es außerdem die Heimat des Einstein-Schachclubs.

Ein Mitglied des Einstein-Schachclubs namens Melekh Gaystik wurde 1980 in St. Petersburg Weltmeister gegen den Holländer Jan Timman. Die Weltausstellung noch frisch in Erinnerung, sahen die Einwohner von Sitka in Gaystiks Triumph einen weiteren Beweis für ihren Verdienst und ihre Identität als Volk. Gaystik neigte zu Wutausbrüchen, düsteren Launen und Anfällen geistiger Verwirrung, aber in der allgemeinen Feierlaune übersah man diese Unzulänglichkeiten.

Eine Folge von Gaystiks Sieg war die Entscheidung des Hotelmanagements, den Ballsaal mietfrei dem Schachclub zu überlassen. Hotelhochzeiten waren aus der Mode gekommen, und das Management versuchte schon länger, die Patzer mit ihrem Gemurmel und Gequalme aus dem Café zu verbannen. Gaystik lieferte der Verwaltung den nötigen Anlass. Die Eingangstüren zum Ballsaal wurden verschlossen, sodass man ihn nur hinten herum, über eine Gasse, betreten konnte. Das feine Eschenparkett wurde herausgerissen, dafür wurde in einem wilden Schachbrettmuster Linoleum in den Farbschlägen von Ruß, Galle und Krankenhausgrün verlegt. Der modernistische Lüster unter der hohen Betondecke wurde durch Reihen von Neonröhren ersetzt. Zwei Monate später spazierte der junge Weltmeister in das alte Café, wo Landsmans Vater einst Eindruck gemacht hatte, setzte sich an einen Tisch weiter hinten, holte einen Colt 38 Detective Special hervor und schoss sich in den Mund. In seiner Tasche war ein Zettel. Darauf stand lediglich: Wie es früher war, hat es mir besser gefallen.

»Emanuel Lasker«, sagt der Russe zu den beiden Polizeibeamten und sieht von seinem Schachbrett neben dem Empfangstisch auf. Eine alte Neonuhr über ihm wirbt für eine ehemalige Zeitung, das Blat. Er ist ein skelettöser Mann mit blättriger, dünner, rosafarbener Haut und einem schwarzen Spitzbart. Seine Augen stehen eng zusammen und haben die Farbe von kaltem Meerwasser. »Emanuel Lasker.« Die Schultern des Russen heben sich, er zieht den Kopf ein, sein Brustkorb schwillt an und fällt wieder zusammen. Es sieht aus, als lache er, doch ist kein Ton zu hören. »Ich wünsche, er kommt hier vorbei.« Wie bei den meisten russischen Immigranten ist sein Jiddisch experimentell und schroff. Er erinnert Landsman an jemanden, ohne dass er sagen könnte, an wen. »Ich gebe ihm so einen Tritt in Arsch.«

»Hast du mal seine Partien gesehen?«, will der Gegner des Russen wissen. Es ist ein junger Mann mit Puddingwangen, rahmenloser Brille und leicht grünlicher Hautfarbe, wie das Weiß einer Dollarnote. Die Gläser seiner Brille vereisen, als er sie auf Landsman richtet. »Haben Sie mal seine Partien gesehen, Detective?«

»Nur um das klarzustellen«, sagt Landsman. »Das ist nicht der Lasker, den wir meinen.«

»Der Mann, den wir suchen, benutzte nur den Namen, wie ein Pseudonym«, sagt Berko. »Sonst würden wir ja einen Mann suchen, der schon seit sechzig Jahren tot ist.«

»Wenn man heute Laskers Partien sieht«, fährt der junge Mann fort. »Sie sind zu komplex. Er macht alles zu schwer.«

»Sind nur komplex für dich, Velvel«, sagt der Russe, »weil du bist so simpel.«

Die beiden Schammes haben die Partie im intensiven Mittelspiel gestört, der Russe hat Weiß und einen unangreifbaren Springer als Außenposten. Die Männer sind in ihr Spiel versunken, so wie zwei Berge in einem Schneesturm versinken. Instinktiv lassen sie die Polizeibeamten die abstrakte Verachtung spüren, mit denen sie allen Kibitzern begegnen. Landsman fragt sich, ob er und Berko warten sollen, bis die beiden fertig sind. Aber es werden noch andere Partien gespielt, andere Spieler sind zu befragen. Im alten Ballsaal kratzen Stuhlbeine über den Boden wie Fingernägel über eine Tafel. Schachfiguren klicken wie die Trommel in Melekh Gaystiks ‚38er. Die Taktik dieser Männer — hier gibt es keine Frauen — ist das stete Tyrannisieren ihrer Gegner durch Selbstverleumdung, eisiges Lachen, Pfeifen und Räuspern.

»Solange das klar ist«, sagt Berko. »Dieser Mann, der sich Emanuel Lasker nannte, aber nicht der 1868 in Preußen geborene berühmte Weltmeister war, ist tot, und wir untersuchen diesen Todesfall. In unserer Eigenschaft als Beamte der Mordkommission, was wir bereits erwähnten, ohne dass es offenbar besonders viel Eindruck gemacht hätte.«

»Ein Jude mit blondes Haar«, sagt der Russe.

»Und Sommersprossen«, sagt Velvel.

»Sehen Sie«, sagt der Russe. »Wir passen gut auf.«

Er schnappt einen seiner Türme, so wie man jemandem ein loses Haar vom Kragen zupft. Seine Finger unternehmen mit dem Turm eine kleine Reise die Reihe entlang und teilen dem letzten schwarzen Läufer mit einem Klopfen die schlechte Nachricht mit.

Velvel wechselt jetzt zu Russisch mit jiddischem Akzent, äußert die besten Wünsche für die Wiederaufnahme der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Mutter seines Gegners und einem gut ausgestatteten Hengst.

»Ich bin Waise«, sagt der Russe.

Er lehnt sich auf seinem Stuhl nach hinten, als gehe er davon aus, dass sein Gegner etwas Zeit benötigt, um sich vom Verlust seines Läufers zu erholen. Er knotet seine Arme um die Brust und klemmt die Hände in die Achselhöhlen. Es ist die Geste eines Mannes, der eine Papiros in einem Raum rauchen möchte, in dem dieses Laster verboten ist. Landsman fragt sich, was sein Vater mit sich selbst angefangen hätte, wenn der Einstein-Schachclub noch zu seinen Lebzeiten das Rauchen untersagt hätte. Der Mann konnte bei einer Partie eine ganze Schachtel Broadways verqualmen.

»Blond«, sagt der Russe, ein Ausbund an Hilfsbereitschaft. »Sommersprossen. Was noch, bitte?«

Landsman überfliegt sein Blatt spärlicher Informationen und versucht zu entscheiden, welche Karte er ausspielen soll.

»Er war Schachspieler, nehmen wir an. Kannte sich aus mit Schachgeschichte. In seinem Zimmer lag ein Buch von Siegbert Tarrasch. Und dann natürlich sein Pseudonym.«

»Wie scharfsinnig«, sagt der Russe, ohne sich die Mühe zu machen, besonders ehrlich zu klingen. »Zwei hochkarätige Schammes.«

Die Bemerkung nagt nicht so sehr an Landsman, als dass sie ihn eine halbe Witzelei näher an die Erinnerung stupst, wer dieser hagere Russe mit der blättrigen Haut ist.

»Früher mal«, fährt Landsman jetzt langsamer fort und tastet, den Russen im Blick, nach dieser Erinnerung, »war der Verstorbene vielleicht ein frommer Jude. Ein Schwarzhut.«

Der Russe zieht seine Hände unter den Armen hervor. Ein wenig beugt er sich auf dem Stuhl vor. Das Eis seiner baltischen Augen scheint plötzlich zu tauen.

»War er heroinsüchtig?« Der Tonfall des Russen ist kaum für eine Frage geeignet, und als Landsman den Einwurf nicht sofort verneint, fügt er hinzu: »Frank.« Er spricht den Namen amerikanisch aus, mit langem stechendem Vokal und einem schattenlosen r. »Oh nein.«

»Frank«, stimmt Velvel zu.

»Ich —« Der Russe sackt zusammen, spreizt die Knie, lässt die Hände baumeln. »Detectives, darf ich Ihnen sagen etwas?«, fragt er. »Manchmal habe ich einen wahrhaften Hass auf diese dürftige Ersatzwelt.«

»Erzählen Sie uns von Frank!«, sagt Berko. »Sie mochten ihn.«

Der Russe hebt die Schultern, seine Augen vereisen wieder.

»Ich mag niemanden«, sagt er. »Aber wenn Frank kommt herein, ich laufe immerhin nicht schreiend hinaus zur Tür. Er ist lustig. Kein schöner Mann. Aber schöne Stimme. Ernste Stimme. Wie der Mann im Radio, der ernste Musik spielt. Um drei Uhr nachts, erzählt von Schostakowitsch. Aber er sagt Sachen mit ernste Stimme, die sind lustig. Alles, was er sagt, ist immer eine kleine Kritik. Wie dein Haar ist geschnitten, wie hässlich ist deine Hose, dass Velvel immer fährt auf, wenn ein Mensch spricht von seiner Frau.«

»Das stimmt«, sagt Velvel. »Das tue ich.«

»Zieht dich immer auf, aber ich weiß nicht, warum, du bist nicht böse.«

»Weil du fühlst, dass er zu sich selbst noch härter ist«, sagt Velvel.

»Wenn du spielst gegen ihn, auch wenn er gewinnt jedes Mal, hast du das Gefühl, du spielst besser gegen ihn als gegen die Arschlöcher im Club«, sagt der Russe. »Frank ist nie Arschloch.«

»Meyer«, sagt Berko leise. Er lässt die Flaggen seiner Augenbrauen zum Nachbartisch wehen. Sie haben Zuhörer.

Landsman dreht sich um. Zwei Männer sitzen an einem Spiel in der Anfangsphase. Einer trägt die moderne Jacke, Hose und den Vollbart eines Lubawitscher Juden. Der Bart ist dicht und schwarz, wie mit einem weichen Bleistift gezeichnet. Eine ruhige Hand hat ein schwarzes, mit schwarzer Seide abgesetztes Velourskäppchen auf sein schwarzes Haargewirr gesetzt. Sein dunkelblauer Mantel und der blaue Filzhut hängen an einem Haken an der verspiegelten Wand hinter ihm. Das Mantelfutter und das Etikett des Huts spiegeln sich im Glas. Erschöpfung verdunkelt die Unterlider seiner Augen; glühende Augen, träge und traurig. Sein Gegner ist ein Bobover mit langer Robe, Kniehose, weißen Strümpfen und Pantoffeln. Seine Haut ist so blass wie eine Seite im Thorakommentar. Sein Hut thront auf seinem Schoß, ein schwarzer Kuchen auf einem schwarzen Teller. Flach wie eine aufgenähte Tasche ruht die Jarmulke auf seinem kurz geschorenen Hinterkopf. Für ein nicht durch Polizeiarbeit ernüchtertes Auge könnten die beiden Männer in das diffuse Leuchten ihres Spiels so versunken sein wie jedes andere Patzerpärchen im Einstein. Doch Landsman würde hundert Dollar wetten, dass keiner von beiden weiß, wer am Zuge ist. Sie haben jedem Wort am Nachbartisch gelauscht, und sie lauschen auch jetzt.

Berko geht zum Tisch auf der anderen Seite von Velvel und dem Russen. Er ist leer. Berko hebt einen Wiener Stuhl mit zerschlissenem Rohrgeflecht hoch, schwingt ihn herum und stellt ihn zwischen den Tisch mit den Schwarzhüten und den Tisch, an dem der Russe gerade Velvel bezwingt. Auf seine eindrucksvolle Fleischklopsart nimmt Berko Platz, spreizt die Beine und wirft die Mantelschöße nach hinten, so als wolle er sich alle Anwesenden zum Festmahl vornehmen. Er setzt seinen Homburg ab, streicht über die Rundung der Krone. Sein Indianerhaar ist dicht und glänzend, seit Neuestem silbern durchwoben. Graues Haar lässt Berko weiser und freundlicher aussehen, eine Wirkung, die auszunutzen er nicht zögert, obwohl er wirklich ziemlich weise und eigentlich ganz freundlich ist. Der Kaffeehausstuhl fürchtet sich vor dem Umfang und Umriss von Berkos Hinterbacken.

»Hü«, sagt Berko zu den Schwarzhüten. Er reibt die Handflächen aneinander, dann legt er sie auf die Oberschenkel. Dieser Mann braucht nur noch eine Serviette im Kragen, eine Gabel und ein Messer. »Wie geht’s?«

Mit dem Talent und der Entschlossenheit schlechtester Schauspieler blicken die Schwarzhüte erstaunt auf.

»Wir wollen keinen Ärger«, sagt der Lubawitscher.

»Mein Lieblingssatz in der jiddischen Sprache«, sagt Berko aufrichtig. »Wie wäre es, wenn Sie sich an unserer kleinen Unterhaltung beteiligten? Erzählen Sie uns von Frank!«

»Wir kannten ihn nicht«, sagt der Lubawitscher. »Was für ein Frank?«

Der Bobover sagt nichts.

»Freund Bobover«, sagt Landsman freundlich. »Ihr Name!«

»Ich heiße Saltiel Lapidus«, sagt der Bobover. Er hat mädchenhafte, scheue Augen. Er verschränkt die Hände auf dem Schoß, auf seinem Hut. »Und ich weiß nichts über niemanden.«

»Haben Sie mit diesem Frank gespielt? Kannten Sie ihn?«

Saltiel Lapidus schüttelt schnell den Kopf. »Nein.«

»Doch«, sagt der Lubawitscher. »Er war uns bekannt.«

Wütend funkelt Lapidus seinen Freund an, der Lubawitscher blickt zur Seite. Landsman versteht, was dahintersteckt. Frommen Juden ist das Schachspiel erlaubt, als einziges Spiel sogar am Sabbat. Doch der Einstein-Schachclub ist eine streng weltliche Einrichtung. Der Lubawitscher hat den Bobover an einem Freitagmorgen in diesen ungeweihten Tempel geführt, obwohl der Sabbat bevorsteht und beide Besseres zu tun hätten. Er sagte, es sei schon in Ordnung, was könne es denn schaden? Das sieht man ja jetzt.

Landsman ist neugierig, sogar gerührt. Eine Freundschaft über die Grenzen der Konfessionen hinweg ist seiner Erfahrung nach kein geläufiges Phänomen. Bisher fand Landsman, dass, abgesehen von Homosexuellen, nur Schachspieler eine verlässliche Möglichkeit gefunden haben, mit Leidenschaft, aber ohne verhängnisvolle Gewalt den Golf zu überbrücken, der alle Männer voneinander trennt.

»Ich habe ihn hier gesehen«, verkündet der Lubawitscher, die Augen auf den Freund gerichtet, wie um ihm zu versichern, dass sie nichts zu befürchten haben. »Diesen sogenannten Frank. Vielleicht habe ich ein- oder zweimal gegen ihn gespielt. Meiner Meinung nach war er ein überaus begabter Spieler.«

»Verglichen mit dir, Fishkin«, sagt der Russe, »ist ein Affe Raul Capablanca.«

»Sie«, sagt Landsman auf eine Eingebung hin mit ruhiger Stimme zu dem Russen. »Sie wussten, dass er heroinabhängig war. Woher?«

»Detective Landsman«, sagt der Russe halb tadelnd. »Erkennen Sie mich nicht?«

Landsman dachte, es sei eine Eingebung, dabei war es nur eine falsch abgelegte Erinnerung.

»Vassily Shitnovitzer«, sagt Landsman. Es ist gar nicht so lange her — ein Dutzend Jahre —, dass er einen jungen Russen dieses Namens wegen Verabredung zum Heroinverkauf verhaftete. Ein Einwanderer, ehemaliger Sträfling, ungeschoren aus dem Chaos gespült, das auf den Zusammenbruch der Dritten Russischen Republik folgte. Ein Mann mit gebrochenem Jiddisch war er, dieser Heroindealer, die blassen Augen zu eng beieinander. »Und Sie wussten die ganze Zeit Bescheid.«

»Sie sind ein hübscher Kerl. Schwer zu vergessen«, sagt Shitnovitzer. »Und immer so schick angezogen.«

»Shitnovitzer hat lange in Butyrka gesessen«, berichtet Landsman Berko von dessen Haft im berüchtigten Moskauer Gefängnis. »Netter Kerl. Vertickte seinen Stoff hier in der Küche des Cafés.«

»Sie haben Frank Heroin verkauft?«, sagt Berko zu Shitnovitzer.

»Ich bin im Ruhestand«, sagt Vassily Shitnovitzer und schüttelt den Kopf. »Vierundsechzig Monate in Ellensburg, Washington. Schlimmer als Butyrka. Den Kram ich rühre nicht mehr an, Detectives, und selbst wenn, ihr könnt mir glauben, gehe ich nicht in Franks Nähe. Bin ich vielleicht verrückt, aber bin ich nicht lebensmüde.«

Landsman spürt, wie seine Reifen blockieren und rutschen. Sie sind gerade gegen etwas geprallt.

»Warum nicht?«, sagt Berko freundlich und weise. »Warum sind Sie nicht nur ein Verbrecher, sondern lebensmüde, wenn Sie Smack an Frank verkaufen, Mr. Shitnovitzer?«

Es erklingt ein leichtes, entschlossenes Klirren, etwas hohl, wie aufeinanderbeißende falsche Zähne. Velvel kippt seinen König um.

»Ich gebe auf«, sagt er. Er nimmt die Brille ab, lässt sie in die Tasche gleiten und steht auf. Er hat einen Termin vergessen. Er kommt zu spät zur Arbeit. Seine Mutter ruft ihn auf der Ultraschallfrequenz an, die die Regierung für jüdische Mütter bei bevorstehendem Mittagessen reserviert hat.

»Hinsetzen«, sagt Berko, ohne sich umzudrehen. Der Junge setzt sich hin.

Ein Krampf zieht Shitnovitzers Eingeweide zusammen; so sieht es zumindest für Landsman aus.

»Schlechtes Masel«, sagt Shitnovitzer schließlich.

»Schlechtes Masel«, wiederholt Landsman und gibt dabei seinen Zweifeln und seiner Enttäuschung Ausdruck.

»Wie ein Mantel. Ein Hut voll schlechtem Masel auf dem Kopf. So viel schlechtes Masel, dass man ihn nicht wollte berühren, nicht wollte atmen dieselbe Luft.«

»Ich habe mal gesehen, wie er fünf Partien gleichzeitig spielte«, bringt Velvel hervor. »Für hundert Dollar. Gewann alle. Dann kotzte er draußen in die Gasse.«

»Bitte, die Herren«, sagt Saltiel Lapidus mit gequälter Stimme. »Wir haben nichts damit zu tun. Wir wissen nichts über diesen Mann. Heroin. In die Gasse kotzen. Bitte, wir sind schon unangenehm berührt genug.«

»Peinlich berührt«, behauptet der Lubawitscher.

»Es tut uns leid«, schließt Lapidus. »Und wir haben nichts zu sagen. Also dürfen wir bitte gehen?«

»Sicher«, sagt Berko. »Entfernen Sie sich. Schreiben Sie uns einfach Ihre Namen und Adressen auf, bevor Sie gehen.«

Er holt sein sogenanntes Notizbuch hervor, ein schweres kleines Papierbündel, zusammengehalten von einer übergroßen Büroklammer. Wann auch immer man hineinsieht, stellt man fest, dass es Visitenkarten, Tidentabellen, Aufgabenlisten, chronologische Verzeichnisse aller englischen Könige, um drei Uhr morgens hingekritzelte Theorien, Fünfdollarnoten, hastig notierte Rezepte enthält oder gefaltete Servietten mit der Skizze einer Gasse in Süd-Sitka, wo eine Nutte ermordet wurde. Berko blättert durch sein Notizbuch, bis er einen leeren Karteikartenschnipsel findet, den er Fishkin reicht, dem Lubawitscher. Er hält ihm seinen Bleistiftstummel hin, aber, nein danke, Fishkin hat einen eigenen Stift. Er notiert seinen Namen und seine Adresse und die Nummer seines Shoyfer, dann gibt er die Karte an Lapidus weiter, der es ihm nachtut.

»Bloß«, sagt Fishkin, »rufen Sie uns nicht an. Kommen Sie nicht zu uns nach Hause. Ich bitte Sie darum. Wir haben nichts zu sagen. Es gibt nichts über diesen Juden, das wir Ihnen erzählen könnten.«

Jeder Nos im Distrikt lernt, das Schweigen der Schwarzhüte zu respektieren. Es ist eine Weigerung, die sich ausbreiten, anhäufen und vertiefen kann, bis sie wie ein Nebel über einer gesamten Schwarzhutgegend liegt. Schwarzhüte verfügen über sachkundige Anwälte, politischen Einfluss und großmäulige Zeitungen, und sie können einen glücklosen Inspector und selbst den Polizeichef in einen gewaltigen Schwarzhut-Gestank einhüllen, der so lange haftet, bis der Zeuge oder der Verdächtige auf freien Fuß gesetzt und die Anklage fallengelassen wird. Landsman müsste schon die volle Unterstützung seiner Abteilung hinter sich haben oder zumindest die Genehmigung seines Vorgesetzten, um Lapidus und Fishkin auf den heißen Stuhl im Modul der Mordkommission zu laden.

Er riskiert einen Blick hinüber zu Berko, und Berko riskiert ein schwaches Kopfschütteln.

»Gehen Sie«, sagt Landsman.

Wie ein von seinen Eingeweiden besiegter Mann richtet Lapidus sich wankend auf. Den Mantel und die Überschuhe anzuziehen, bringt er mit zur Schau gestellter angeschlagener Würde über die Bühne. Den Eisendeckel von Hut senkt er zentimeterweise auf seinen Kopf, so wie man eine Schachtabdeckung herunterlässt. Mit betrübtem Blick sieht er zu, wie Fishkin die ungespielten Eröffnungen dieses Morgens in ein Holzkästchen wischt. Seite an Seite schlängeln sich die Schwarzhüte zwischen den Tischen hindurch, vorbei an den anderen Spielern, die kurz aufsehen. An der Tür knickt das linke Bein von Saltiel Lapidus ein. Er sackt zur Seite und streckt die Hand aus, um sich an der Schulter seines Freundes festzuhalten. Der Boden unter seinen Füßen ist glatt und nackt. So weit Landsman sehen kann, gibt es nichts, an dem sein Schuh hätte hängenbleiben können.

»Ich habe noch nie einen so traurigen Bobover gesehen«, stellt er fest. »Der Jude hatte Tränen in den Augen.«

»Willst du ihm noch ein bisschen zusetzen?«

»Nur ein, zwei Zentimeter.«

»Weiter kommst du bei denen eh nicht«, sagt Berko.

Sie eilen an den Patzern vorbei: an einem schäbigen Geiger aus dem Sitka Odeon, einem Fußpfleger, dessen Konterfei auf Busbänken klebt. Berko stürmt hinter Lapidus und Fishkin durch die Tür. Landsman will ihm folgen, doch da zupft etwas Wehmütiges an seinem Gedächtnis, der Hauch einer Rasierwassermarke, die niemand mehr benutzt, der plärrende Refrain eines Lieds, das in einem August vor fünfundzwanzig Sommern eine bescheidene Berühmtheit erlangte. Landsman schaut zum Tisch, der der Tür am nächsten ist.

Zusammengeballt wie eine Faust sitzt dort ein alter Mann vor einem Schachbrett und blickt auf einen leeren Stuhl. Er hat alle Figuren auf ihre Ausgangspositionen gestellt und Weiß gewählt oder sich selbst zugewiesen. Wartet auf das Auftauchen seines Gegners. Ein glänzender Schädel, umrahmt von gräulichen Haarbüscheln, wie Taschenfussel. Der untere Teil seines Gesichts ist durch den gesenkten Kopf verborgen. Sichtbar für Landsman sind allein seine hohlen Schläfen, der Heiligenschein aus Haarschuppen, der knochige Nasenrücken, die Furchen auf seiner Stirn wie das Muster, das Gabelzinken in einem Kuchenteig hinterlassen. Und die zornig hochgezogenen Schultern, die das Problem auf dem Schachbrett begreifen, eine brillante Schlacht planen. Es waren einmal breite Schultern, die Schultern eines Helden oder Klavierträgers.

»Mr. Litvak«, sagt Landsman.

Litvak wählt den Springer seines Königs, so wie ein Maler einen Pinsel aussucht. Seine Hände sind noch immer wendig und sehnig. Er vollführt einen geschwungenen Zug zur Mitte des Bretts; schon immer bevorzugte er die hypermoderne Spielweise. Beim Anblick von Litvaks Händen und der Réti-Eröffnung wird Landsman von seiner alten Angst vor Schach überwältigt, ja fast umgeworfen, von der Monotonie, der Gereiztheit, der Schande jener Tage, die er damit verbrachte, am Schachbrett im Café Einstein das Herz seines Vaters zu brechen.

Lauter sagt er: »Alter Litvak!«

Litvak blickt auf, kurzsichtig und verwirrt. Er war der Mann für einen Faustkampf, er war eine Walze, ein Jäger, ein Fischer, ein Soldat. Wenn er nach einer Schachfigur griff, sah man seinen dicken goldenen Ranger-Ring von der Armee aufblitzen. Jetzt wirkt Litvak geschrumpft, erschöpft, ein Märchenkönig, vom Fluch des ewigen Lebens verwandelt zu einer Grille in der Kaminasche. Allein die geschwungene Nase ist als Testament der ehemaligen Erhabenheit seines Gesichts geblieben. Beim Anblick dieses Wracks von Mann kommt Landsman der Gedanke, dass sein Vater aller Wahrscheinlichkeit nach inzwischen ohnehin tot wäre, wenn er sich nicht das Leben genommen hätte.

Litvak macht eine ungeduldige oder auffordernde Geste. Aus seiner Brusttasche zieht er einen marmorierten schwarzen Block und einen dicken Füller. Sein Bart ist so sauber gestutzt wie immer. Ein Hahnentrittsakko, Bootsschuhe mit Quasten, ein Einstecktuch, ein durch die Aufschläge gezogenes Band. Der Mann hat seine Sportlichkeit nicht verloren. In den Falten seines Halses entdeckt Landsman eine glänzende Narbe, ein weißliches, leicht ins Rosa spielendes Komma. Als Litvak mit seinem dicken Waterman in den Block schreibt, kommt sein Atem in geduldigen kleinen Windstößen durch die große, fleischige Nase. Das Kratzen der Feder ist alles, was ihm als Stimme geblieben ist. Er reicht Landsman den Block. Seine Schrift ist gleichmäßig und sauber.

Kenne ich Sie

Sein Blick wird schärfer, er legt den Kopf zur Seite, schätzt Landsman ab, liest in seinem zerknitterten Anzug, seinem runden Filzhut, seinem dem Hund Hershel ähnlichen Gesicht, kennt Landsman, ohne ihn zu erkennen. Er nimmt den Block zurück und hängt ein Wort an seine Frage.

Kenne ich Sie Detective

»Meyer Landsman«, sagt Landsman und reicht dem Alten eine Visitenkarte. »Sie kannten meinen Vater. Ich kam von Zeit zu Zeit mit ihm her. Als der Club noch im Café war.«

Die rot geränderten Augen weiten sich. Mr. Litvak vertieft seine Landsman-Studie, sucht nach einem Beweis für diese unglaubliche Behauptung. Verwunderung mischt sich mit Schrecken. Er schlägt eine neue Seite seines kleinen schwarzen Blocks auf und verkündet seinen Befund in der zur Diskussion stehenden Angelegenheit.

Unmöglich Auf gar keinen Fall kann Meyerle Landsman so ein dummer alter Zwiebelsack sein

»Leider doch«, sagt Landsman.

Was machst du hier furchtbarer Schachspieler

»Ich war doch noch ein Kind«, sagt Landsman und erschrickt über das knirschende Selbstmitleid in seiner Stimme. Was für ein schrecklicher Ort, was für ein elender Mensch, was für ein grausames, sinnloses Spiel. »Mr. Litvak, Sie kennen nicht zufällig jemanden, der hier manchmal spielt, so nehme ich an, einen Juden, der vielleicht Frank genannt wird?«

Ja den kenne ich hat er was angestellt

»Wie gut kennen Sie ihn?«

Nicht so gut wie ich gerne würde

»Wissen Sie, wo er wohnt, Mr. Litvak? Haben Sie ihn kürzlich gesehen?«

Ist Monate her sag bitte nicht du bist von der Mordkomm.

»Nochmals«, sagt Landsman, »leider doch.«

Der alte Mann blinzelt. Sollte er schockiert oder betrübt über seine Rückschlüsse sein, so ist es nicht an seinem Gesicht oder seiner Körpersprache abzulesen. Doch andererseits würde ein Mann, der seine Gefühle nicht im Griff hat, mit der Réti-Eröffnung nicht allzu weit kommen. Vielleicht ist das Wort, das er als Nächstes in seinen Block schreibt, ein klein wenig verwackelt.

Überdosis?

»Erschossen«, sagt Landsman.

Die Tür des Schachclubs öffnet sich krächzend, und zwei grau und kalt wirkende Patzer kommen herein. Der eine ist eine zwanzig Jahre alte, hagere Vogelscheuche mit einem gestutzten goldenen Bart und einem zu klein geratenen Anzug, der andere ein kleiner rundlicher Kerl, dunkel und lockenbärtig, in einem viel zu großen Anzug. Sie haben einen ungleichmäßigen Bürstenschnitt, wie selbstverstümmelt, und tragen kleine, schwarze, gehäkelte Jarmulkes. Kurz zögern sie auf der Schwelle, beschämt, und schauen Mr. Litvak an, als erwarteten sie eine Standpauke.

Da spricht der alte Mann, er saugt die Worte ein, seine Stimme der Geist eines Dinosauriers. Es ist ein furchtbares Geräusch, eine Fehlfunktion der Luftröhre. Kurz nachdem es verklungen ist, wird Landsman klar, was er gesagt hat: »Meine Großneffen.«

Litvak winkt sie herbei und reicht Landsmans Visitenkarte an den Untersetzten weiter.

»Freut mich, Detective«, sagt der Untersetzte mit leichtem Akzent, vielleicht Australisch. Er nimmt einen freien Stuhl, wirft einen Blick aufs Schachbrett und setzt fachkundig seinen Königsspringer, »’tschuldigung, Onkel Alter. Der da kam wieder zu spät, wie immer.«

Der Magere hängt zurück, die Hand an der offenen Tür des Clubs.

»Landsman!«, ruft Berko aus der Gasse, wo er Fishkin und Lapidus zwischen den Müllcontainern eingefangen hat. Für Landsman sieht es aus, als heule Lapidus wie ein kleines Kind. »Was ist los, Mann?«

»Komme schon«, sagt Landsman. »Ich muss gehen, Mr. Litvak.« Kurz berührt er Knochen, Horn und Leder der alten Hand. »Wo kann ich Sie erreichen, falls ich nochmal mit Ihnen sprechen muss?«

Litvak notiert eine Adresse und reißt das Blatt aus dem Block.

»Madagaskar?«, sagt Landsman und liest den Namen einer unvorstellbaren Straße in Tananarive. »Das ist mal was Neues.« Beim Anblick der fernen Adresse, beim Gedanken an das Haus in der Rue Jean Bart verspürt Landsman seinen deutlich schwindenden Willen, die Sache mit dem toten Jid aus 208 noch länger zu verfolgen. Was macht es schon für einen Unterschied, ob er den Mörder fasst? In einem Jahr werden Juden Afrikaner sein und dieser alte Ballsaal wird voll mit tanzenden Nichtjuden sein und jeder Fall, der je von Polizisten in Sitka aufgenommen oder abgeschlossen wurde, wird in Schrank 9 abgelegt sein. »Wann brechen Sie auf?«

»Nächste Woche«, sagt der untersetzte Großneffe, und es klingt etwas zweifelnd.

Der alte Mann stößt noch ein grässliches reptilisches Krächzen aus, das jedoch niemand versteht. Er schreibt und schiebt den Block seinem Großneffen zu.

»Der Mensch plant«, liest der junge Mann vor, »und Gott lacht.«

11.

Wenn jüngere Schwarzhüte von der Polizei gefasst werden, geben sie sich gern großspurig und aufsässig und pochen auf ihre Rechte als amerikanische Staatsbürger. Und manche brechen weinend zusammen. Nach Landsmans Erfahrung neigen besonders jene Männer zum Weinen, die lange Zeit mit einem Gefühl von Rechtschaffenheit und Sicherheit gelebt haben und dann erkennen müssen, dass der Abgrund die ganze Zeit direkt vor ihren Füßen gähnte. Es ist Teil seiner Aufgabe als Polizist, den hübschen Teppich zur Seite zu ziehen, der das tiefe, zerklüftete Loch im Boden verbirgt. Landsman fragt sich, ob das auf Saltiel Lapidus zutrifft. Tränen strömen ihm über die Wangen. Ein schimmernder Schleimfaden baumelt an seinem rechten Nasenloch.

»Mr. Lapidus ist ein wenig traurig«, sagt Berko. »Aber er will nicht sagen, warum.«

Landsman tastet in seiner Manteltasche nach einer Packung Papiertaschentücher und findet ein Tuch — Wunder über Wunder. Lapidus zögert, aber nimmt es dann und schnupft sich gefühlvoll die Nase.

»Ich schwöre Ihnen, Detective, ich kannte den Mann nicht«, sagt Lapidus. »Ich weiß nicht, wo er wohnte oder wer er war. Ich weiß gar nichts. Das schwöre ich bei meinem Leben. Wir haben ein paar Mal zusammen Schach gespielt. Er hat immer gewonnen.«

»Sie trauern also nur der Menschlichkeit wegen«, sagt Landsman und versucht, nicht ironisch zu klingen.

»Ganz genau«, sagt Lapidus, dann zerknüllt er das Tuch in seiner Faust und wirft die zerdrückte Blume in den Rinnstein.

»Wollen Sie uns mitnehmen?«, will Fishkin wissen. »Wenn ja, will ich einen Anwalt sprechen. Wenn nicht, müssen Sie uns gehen lassen.«

»Ein Anwalt der Schwarzhüte«, sagt Berko. Es ist eher ein Stöhnen oder ein an Landsman gerichtetes Flehen. »Wehe mir.«

»Dann verdrückt euch«, sagt Landsman.

Berko nickt ihnen zu. Die beiden Männer knirschen durch den schmutzigen Matsch der Gasse davon.

»So, nu, ich bin irritiert«, sagt Berko. »Ich muss zugeben, dass mich das hier langsam irritiert.«

Landsman nickt und kratzt an den Barthaaren am Kinn, als ziehe er logische Schlussfolgerungen, aber sein Herz und sein Kopf hängen noch an Schachpartien, verloren gegen Männer, die schon vor dreißig Jahren alt waren.

»Hast du den Alten da drin gesehen?«, fragt er. »Neben der Tür? Alter Litvak. Hängt seit Jahren im Einstein herum. Hat früher gegen meinen Vater gespielt. Gegen deinen auch.«

»Der Name sagt mir was.« Berko schaut sich zur stählernen Brandschutztür um, dem grandiosen Eingang des Einstein-Clubs. »Kriegsheld. Kuba.«

»Der Mann hat keine Stimme mehr, er muss alles aufschreiben. Ich habe ihn gefragt, wo ich ihn finden kann, falls ich noch mal mit ihm sprechen will, und er hat geschrieben, er würde nach Madagaskar gehen.«

»Das ist mal was Neues.«

»Habe ich auch gesagt.«

»Kannte er unseren Frank?«

»Nicht sehr gut, meinte er.«

»Niemand kannte unseren Frank«, sagt Berko. »Aber alle sind traurig, dass er tot ist.« Er knöpft den Mantel über seinem Bauch zu, stellt den Kragen auf und drückt den Hut tiefer in die Stirn. »Selbst du.«

»Fuck you«, sagt Landsman. »Der Jid bedeutet mir nichts.«

»Vielleicht war er Russe? Das könnte das Schachspielen erklären. Und das Verhalten von deinem Kumpel Vassily. Vielleicht steckt Lebed oder Moskowits hinter dem Mord.«

»Wenn er Russe wäre, gäbe es keinen Grund für die beiden Schwarzhüte, so viel Angst zu haben«, sagt Landsman. »Die beiden wissen nichts von Moskowits. Russische Schtarker, Auftragsmorde, das sagt dem durchschnittlichen Bobover nicht viel.«

Wieder zupft Landsman an seinem Kinn, dann überlegt er sich etwas. Er schaut hinauf zum dünnen Streifen strahlend grauen Himmels, der sich über die schmale Gasse hinter dem Hotel Einstein spannt. »Um wie viel Uhr geht wohl heute die Sonne unter?«

»Warum? Wollen wir in Harkavy rumstochern, Meyer? Ich glaube nicht, dass es Bina gefällt, wenn wir anfangen, die Schwarzhüte da unten gegen uns aufzubringen.«

»Glaubst du nicht, was?« Landsman grinst. Er holt seinen Parkschein aus der Tasche. »Dann halten wir uns besser von Harkavy fern.«

»Oh, oh. Du hast dieses Grinsen drauf.«

»Magst du das nicht?«

»Nein, ich habe nur festgestellt, dass darauf meistens eine Frage folgt, die du dir selbst beantwortest.«

»Wie wär’s hiermit: Was für ein Jid, Berko, sag mir das bitte, was für ein Jid sorgt dafür, dass ein knastgestählter russischer Psychopath sich fast in die Hose scheißt und der frömmste Schwarzhut von Sitka Tränen in den Augen hat?«

»Du willst, dass ich sage: ein Verbover«, sagt Berko.

Nach seinem Abschluss an der Polizeiakademie besetzte Berko seinen ersten Posten im 5. Bezirk, in Harkavy. Dort hatten sich die Verbover sowie die meisten anderen Schwarzhüte niedergelassen, nachdem 1948 der neunte Verbover Rebbe, Schwiegervater des gegenwärtigen Titelträgers, samt seinem kläglichen restlichen Hofstaat dorthin gezogen war. Es war der klassische Ghettoposten, auf dem man Menschen helfen und schützen muss, die einen selbst und die von einem repräsentierte Amtsgewalt verachten und verschmähen. Berkos Abordnung fand ein Ende, als der junge halbindianische Latke beim Schawuos-Massaker in Goldblatts Milchrestaurant eine Kugel in die Schulter bekam, fünf Zentimeter neben dem Herz.

»Ich weiß, dass du willst, dass ich das sage«, sagt Berko.

Und auf folgende Weise erklärte er Landsman einmal, was sich hinter der Bande mit dem geheiligten Namen »Chassidim von Verbov« verberge: Seinen Anfang habe alles in der Ukraine genommen, es seien Schwarzhüte gewesen wie alle anderen Schwarzhüte, sie verachteten den Dreck und das Trara der säkularen Welt innerhalb ihrer imaginären Ghettomauern aus Ritual und Glaube. Dann sei die Sekte im Feuer der Vernichtung zu einem harten, zähen Kern zusammengeschmolzen, schwärzer als jeder Hut. Was von dem neunten Verbover Rebbe übrig blieb, erstand mit elf Jüngern und nur der sechsten von acht Töchtern aus diesem Feuer auf. Der Rebbe stieg in die Luft empor wie ein verkohltes Blatt Papier und wurde auf diesen schmalen Streifen Land zwischen den Baranof-Bergen und dem Ende der Welt geweht. Und hier fand er einen Weg, die alte Distanziertheit der Schwarzhüte zu neuem Leben zu erwecken. Er führte ihre Logik an ihr logisches Ende, so wie es böse Genies in billigen Romanen tun. Er schuf ein kriminelles Imperium, das von dem sinnlosen Tohuwabohu hinter den theoretischen Mauern profitierte, von diesen so mangelhaften, korrupten Wesen, derart fern jeder Erlösungshoffnung, dass die Verbover sie nur aus einer kosmischen Höflichkeit heraus überhaupt als Menschen betrachten.

»Den Gedanken hatte ich natürlich auch schon«, gesteht Berko. »Habe ihn aber sofort wieder verdrängt.« Er schlägt seine großen Hände vors Gesicht und lässt sie kurz dort liegen, dann zieht er sie langsam nach unten, zerrt an seinen Wangen, sodass sie wie die Hängebacken einer Bulldogge bis über das Kinn reichen. »Wehe mir, Meyer, willst du wirklich, dass wir raus nach Verbov Island gehen?«

»Fuck, no«, sagt Landsman. »Ehrlich, Berko. Ich hasse das Viertel. Wenn wir schon auf eine Insel gehen müssen, dann wäre mir Madagaskar deutlich lieber.«

Da stehen sie in der Gasse hinter dem Einstein und wägen die zahlreichen Argumente für und die wenigen gegen das Vorhaben ab, sich mit den mächtigsten Figuren der Unterwelt nördlich des 55. Breitengrads anzulegen. Abwechselnd versuchen sie, Erklärungen für das wieselgleiche Verhalten der Patzer im Einstein vorzubringen.

»Wir gehen besser zu Itzik Zimbalist«, sagt Berko schließlich. »Bei allen anderen da draußen wäre es genauso sinnvoll, wie mit einem Hund zu sprechen. Und ein Hund hat mir heute schon das Herz gebrochen.«

12.

Das Strassenmuster auf dieser Insel ist zwar das gleiche wie in Sitka, rechtwinklig und durchnummeriert, aber abgesehen davon bist du hier geliefert, mein Schejner: gebeamt, teleportiert, durch das Wurmloch auf den Planeten der Juden geschleudert. Freitagnachmittag auf Verbov Island, und Landsmans Chevelle Super Sport gleitet durch die Wogen von Schwarzhüten auf der Avenue 225. Die fraglichen Hüte sind Filzexemplare mit hohen, eingedrückten Kronen und meilenbreiten Krempen, wie sie von Aufsehern in einem Plantagenmelodram bevorzugt werden. Die Frauen tragen Kopftücher und glänzende Perücken, gefertigt aus dem Haar armer Jüdinnen aus Marokko oder Mesopotamien. Ihre Mäntel und langen Kleider sind die feinsten Fetzen aus Paris und New York, ihre Schuhe der Stolz Italiens. Mit starker Krängung sausen Knaben auf Inlinern über die Gehwege, ein Wirbel aus Schals und Schläfenlocken, dazwischen blitzt das orangefarbene Futter ihrer wehenden Parkas. Durch lange Röcke zu tippelnden Schritten gezwungene Mädchen gehen Arm in Arm, heisere Flechtwerke junger Verboverinnen, radikal und ausgrenzend wie die Anhänger einer Philosophenschule. Der Himmel ist stählern geworden, der Wind eingeschlafen, die Luft knistert von der Alchimie der Kinder und der Aussicht auf Schnee.

»Guck dir diesen Ort an«, sagt Landsman. »Er lebt.«

»Kein einziger leerer Laden.«

»Und mehr von diesen elenden Jids als je zuvor.«

Landsman hält vor einer roten Ampel in der NW 28th Street. Vor einem Eckladen neben einem Lehrhaus lungern Jungmänner herum, Schriftverdreher, unvergleichliche Luftmenschen und Feld-, Wald- und Wiesengangster. Als sie Landsmans Wagen mit seiner Aura zivilfahnderischer Hybris und dem provozierenden Doppel-S auf dem Kühlergrill entdecken, hören sie auf, sich gegenseitig anzuschreien, und glotzen Landsman auf ihre bessarabische Art an. Er ist auf ihrem Grund und Boden. Er ist glatt rasiert und zittert dennoch nicht vor Gott. Er ist kein Verbover Jude, und daher eigentlich gar kein Jude. Und wenn er kein Jude ist, ist er ein Nichts.

»Guck dir an, wie diese Arschlöcher glotzen«, sagt Landsman. »Das gefällt mir nicht.«

»Meyer!«

Die Wahrheit lautet, dass Schwarzhut-Juden Landsman wütend machen, seit jeher. Jetzt findet er diese Wut angenehm, stark nuanciert durch Neid, Herablassung, Groll und Mitleid. Er legt einen Gang ein und drückt die Tür auf.

»Meyer! Nein.«

Landsman geht um die geöffnete Tür des Super Sport herum. Er merkt, dass die Frauen gucken. Er riecht die plötzliche Angst im Atem der Männer um sich herum wie Karies an den Zähnen. Er hört das Gelächter von Hühnern, die ihr Schicksal noch nicht ereilt hat, das Summen von Kompressoren, die die Karpfen in ihren Becken am Leben halten. Er glüht wie eine Nadel, die erwärmt wurde, um eine Zecke zu töten.

»So, nu«, sagt er zu den Jids an der Ecke. »Wer von euch Büffeln möchte in unserem schönen Nosmobil mitfahren?«

Ein Jid tritt vor, ein hellhäutiger Klotz, breiter als hoch, mit schwerer Stirn und einem gespaltenen gelben Bart.

»Ich schlage vor, dass Sie zu Ihrem Fahrzeug zurückkehren, Officer«, sagt er langsam und vernünftig. »Und fahren Sie dahin, wo Sie hinwollen.«

Landsman grinst.

»Das schlagen Sie mir vor?«, sagt er.

Jetzt treten auch die anderen Männer an der Straßenecke vor und besetzen den Raum um den Klotz mit dem blitzförmigen Bart. Es müssen um die zwanzig sein, mehr als Landsman geschätzt hat, und Landsmans Strahlen flackert ein wenig, spuckt wie eine durchbrennende Glühbirne.

»Ich will es mal anders sagen«, sagt der blonde Klotz, und eine Ausbuchtung an seiner Hüfte zieht die Aufmerksamkeit seiner Hand auf sich. »Ab ins Auto!«

Landsman zupft an seinem Kinn, fühlt die Stoppeln. Wahnsinn, denkt er. Da verfolgst du eine theoretische Spur in einem nicht existierenden Fall und verlierst ohne jeden Grund die Geduld. Ehe du dich versiehst, löst du einen Zwischenfall in einer Sippe von Schwarzhüten aus, die über so viel Einfluss, Geld und einen so großen Vorrat an mandschurischen und russischen Armeefeuerwaffen verfügen, dass es, wie der Nachrichtendienst in einem vertraulichen Bericht kürzlich schätzte, den Anforderungen für einen Guerillaaufstand in einer kleinen mittelamerikanischen Republik genügen würde. Wahnsinn, der zuverlässige Landsman’sche Wahnsinn.

»Wie wäre es, wenn ihr herkommt und mich fertigmacht?«, sagt Landsman.

Da stößt Berko seine Tür auf und zeigt der Straße seine urige Bärengestalt. Sein Profil ist majestätisch, einer Münze oder eines gemeißelten Berghangs würdig. Und in der rechten Hand hält er den unheimlichsten Hammer, den je ein Jude oder Nichtjude zu Gesicht bekommen hat. Es ist eine Kopie des Kriegsbeils, das Häuptling Katlian 1804 im Tlingitkrieg gegen die Russen geschwungen haben soll. Die Russen verloren den Krieg. Berko bastelte das Werkzeug mit dreizehn Jahren, um die Jids einzuschüchtern, in deren Labyrinth er neu war, und bisher hat es seinen Zweck nie verfehlt, weshalb Berko es auf dem Rücksitz von Landsmans Wagen verwahrt. Der Kopf besteht aus einem fünfunddreißig Pfund schweren Block Meteoreisen, den Hertz Shemets auf einem ehemals russischen Gelände bei Yakovy ausgrub. Der Griff wurde mit einem Jagdmesser von Sears aus einem elf Kilo schweren Baseballschläger geschnitzt. Ineinander verschlungene schwarze Raben und Seeungeheuer vom Roten Meer winden sich um den Schaft und zeigen grinsend ihre großen Zähne. Um sie einzufärben, verbrauchte Berko vierzehn Minenschreiber. Zwei Rabenfedern hängen an einem Lederriemen am Ende des Schafts. Dieses Detail mag historisch nicht korrekt sein, tut aber seine wilde Wirkung auf das jiddische Hirn:

Indianer.

Das Wort wird die Stände und Ladenlokale hinauf- und hinuntergereicht. Die Juden von Sitka sprechen und sehen selten Indianer, höchstens vor dem Bundesgericht oder in den kleinen jüdischen Siedlungen entlang der Grenze. Die Verbover brauchen nur sehr wenig Phantasie, um sich vorzustellen, wie Berko und sein Hammer eine Massenschlachtung unter den Schädeln der Bleichgesichter veranstalten. Dann fällt ihr Blick auf Berkos Jarmulke und die flatternden dünnen weißen Fransen des Vier-Ecken an seiner Hüfte, und man spürt, wie der rasende Fremdenhass aus der Menge sickert und nur einen Rest rassistischen Schwindels zurücklässt. So läuft das immer bei Berko Shemets im Distrikt Sitka, wenn er seinen Hammer rausholt und zum Indianer wird. Fünfzig Jahre Hollywood-Skalps, sirrende Pfeile und brennende Planwagen haben ihre Wirkung auf die Hirne nicht verfehlt. Die reine Widersinnigkeit erledigt den Rest.

»Berko Shemets«, sagt der Mann mit dem gespaltenen Bart blinzelnd, und langsam fallen große Schneefedern auf seine Schultern und seinen Hut. »Was ist los, Jid?«

»Dovid Sussman«, sagt Berko und lässt den Hammer sinken. »Hab ich mir doch gedacht.«

Vorwurfsvoll und leidvoll richtet er seine großen Minotaurus-Augen auf seinen Cousin. Es war nicht Berkos Idee, nach Verbov Island zu fahren. Es war nicht Berkos Idee, den Lasker-Fall zu verfolgen, nachdem man ihnen befohlen hatte, ihn zu den Akten zu legen. Es war nicht Berkos Idee, schmachvoll in die billige Absteige in der Untershtot zu fliehen, wo geheimnisvolle Junkies von der Schachgöttin einen drüberbekommen.

»Einen schönen Sabbat Ihnen, Sussman«, sagt Berko und wirft den Hammer in den Kofferraum von Landsmans Wagen. Die Federn in den Schalensitzen klingeln wie Glocken.

»Ihnen auch einen schönen Sabbat, Detective«, sagt Sussman. Die anderen Jids wiederholen den Wunsch ein wenig verunsichert. Dann wenden sie sich ab und widmen sich wieder ihrem Disput über eine Spitzfindigkeit koscherer Speisezubereitung oder illegaler Kennzeichenänderung.

Die beiden Detectives steigen ins Auto. Berko schlägt die Tür zu und sagt: »Ich hasse das.«

Sie fahren die Avenue 225 hinunter, und jeder dreht sich nach dem indianischen Juden in dem blauen Chevrolet um.

»So viel zu ein paar diskreten Fragen«, sagt Berko bitter. »Eines Tages, Meyer, so hilf mir, gehe ich mit meinem Totschläger auf dich los.«

»Wäre vielleicht besser«, sagt Landsman. »Vielleicht wäre mir das als Therapie ganz recht.«

Auf der Avenue 225 kriechen sie gen Westen bis zur Werkstatt von Itzik Zimbalist. Kleine Plätze und Sackgassen, neoukrainische Einfamilienhäuser und Eigentumskomplexe, schindelgedeckte Gebäude mit steilen Dächern, gestrichen in trüben Farben, bis an die Grundstücksgrenze gebaut. Die Häuser rempeln sich an und drängeln sich wie Schwarzhüte in der Synagoge.

»Kein einziges Verkaufsschild hier«, beobachtet Landsman. »An jeder Leine hängt Wäsche. Alle anderen Sekten haben ihre Thoras und Hutschachteln längst gepackt. Harkavy ist eine halbe Geisterstadt. Aber nicht die Verbover. Entweder ist ihnen die Reversion völlig egal, oder sie wissen mehr als wir.«

»Das sind Verbover«, sagt Berko. »Auf was wettest du?«

»Du meinst, der Rebbe hat Geld rübergeschoben. Green Cards für alle.« Landsman denkt darüber nach. Natürlich weiß er, dass eine kriminelle Organisation wie der Verbover-Ring nicht ohne die bereitwilligen Dienste von Kassierern und heimlichen Lobbyisten blüht, nicht ohne dass der Regierung regelmäßig Schmiere und Druck verabreicht werden. Die Verbover mit ihrer talmudischen Auffassung von Systemen, mit ihren tiefen Taschen und ihren für die Außenwelt unergründlichen Mienen haben viele Kontrollmechanismen gebrochen oder manipuliert. Aber dass sie eine Möglichkeit ersonnen haben sollen, um die gesamte Einwanderungsbehörde wie einen Colaautomaten mit einem Dollar an der Schnur auszutricksen?

»Niemand hat so viel Einfluss«, sagt Landsman. »Nicht mal der Verbover Rebbe.«

Berko zieht den Kopf ein und vollführt ein halbes Schulterzucken, als wolle er lieber nichts mehr sagen, um keine furchtbaren Mächte heraufzubeschwören — Plagen, Geißeln oder heilige Tornados.

»Nur weil du nicht an Wunder glaubst«, sagt er.

13.

Zimbalist, der Grenzen-Mejwen, der gelehrte alte Knacker — er hält sich bereit, als das Gerücht von Indianern in einem blauen Schlitten aus Michigan vor seine Haustür rumpelt. Zimbalists Werkstatt ist ein steinernes Gebäude mit einem Zinkdach und großen Rolltoren und befindet sich am breiten Ende eines kopfsteingepflasterten Platzes. Der Platz ist an einem Ende schmal und verbreitert sich wie die Nase einer Judenkarikatur. Ein halbes Dutzend krummer Gassen purzelt hinein, Pfaden folgend, die von längst vergangenen ukrainischen Ziegen oder Auerochsen festgetreten wurden, vorbei an Häuserfronten, die ihren verlorenen ukrainischen Originalen getreu nachgebaut wurden. Ein Disney-Schtetl, strahlend unbeschmutzt wie eine frisch gefälschte Geburtsurkunde. Ein kunstvoller Wirrwarr aus schlammbraunen und senfgelben Bauten, aus Holz, Putz und Strohdächern. Gegenüber von Zimbalists Werkstatt, an der schmalen Seite des Platzes, steht das Heim von Heskel Shpilman, der zehnte in der dynastischen Linie des ursprünglichen Rebbe aus Verbov, selbst ein berühmter Wundertäter: drei hübsche weiße Würfel makellosen Stucks mit Mansardendächern aus blauen Schieferplatten und hohen Fenstern, schmal und verschlossen. Eine exakte Kopie des Stammsitzes in Verbov, das dem Großvater der Frau des jetzigen Rebbe gehörte, dem achten Verbover Rebbe, bis hin zur nickelbeschichteten Wanne im oberen Badezimmer. Schon bevor sich die Verbover Rebbes der Geldwäsche, dem Schmuggel und der persönlichen Bereicherung widmeten, unterschieden sie sich von ihren Wettbewerbern durch die Pracht ihrer Westen, durch das französische Silber auf ihren Sabbattischen und das weiche italienische Leder an ihren Füßen.

Der Grenz-Mejwen ist klein, zerbrechlich und schrägschultrig, vielleicht um die fünfundsiebzig, sieht aber zehn Jahre älter aus. Er hat zu langes, scheckiges aschgraues Haar, eingefallene dunkle Augen und blasse Haut mit einem gelblichen Stich wie ein Sellerieherz. Er trägt eine Strickjacke mit Reißverschluss und Kragenaufschlägen und ein Paar alter dunkelblauer Plastiksandalen, darin weiße Socken mit einem Loch für den linken großen Zeh und sein Horn. Auf seiner Fischgräthose sind Flecken von Eigelb, Säure, Teer, Epoxyleim, Siegellack, grüner Farbe und Mastodonblut. Das Gesicht des Mejwens ist hager, besteht fast nur aus Nase und Kinn, es dient allein dem Wahrnehmen, Sondieren und Vorstoßen in Lücken, Breschen, Vergehen. Sein voller, aschener Bart flattert im Wind wie Vogelflaum an einem Stacheldraht. In hundert Jahren Hilflosigkeit wäre es das letzte Gesicht, an das sich Landsman auf der Suche nach Beistand oder Information je wenden würde, aber Berko weiß mehr über das Leben der Schwarzhüte, als Landsman je erfahren wird.

Neben Zimbalist steht vor der geschwungenen Werkstatttür ein bartloser Jungmann mit einem Regenschirm, damit dem alten Knacker kein Schnee auf den Kopf fällt. Die schwarze Kruste vom Hut des Jungen ist schon mit einem halben Zentimeter Puderzucker bestäubt. Zimbalist behandelt seinen Helfer wie eine Topfpflanze.

»Fetter denn je«, sagt er zur Begrüßung, als Berko auf ihn zustolziert. In seinem Gang vibriert noch der Geist des schweren Kriegsbeils. »So groß wie ein Sofa.«

»Professor Zimbalist«, sagt Berko und schwingt den unsichtbaren Hammer. »Sie sehen aus wie etwas, das aus einem vollen Staubsaugerbeutel gefallen ist.«

»Acht Jahre haben Sie mich in Ruhe gelassen.«

»Ja, ich dachte, Sie brauchten mal eine Pause.«

»Das ist schön. Nur schade, dass jeder andere Jude auf dieser verfluchten Kartoffelschale von Distrikt mir den ganzen Tag auf den Teekessel hackt.« Er wendet sich an den Jungen mit dem Schirm. »Tee. Gläser. Marmelade.«

Murmelnd zitiert der Jungmann auf Aramäisch einen Merksatz über absoluten Gehorsam aus dem Traktat über die Hierarchie von Hunden, Katzen und Mäusen, öffnet die Tür des Grenz-Mejwens, und sie treten ein. Es ist ein großer, hallender Raum, theoretisch unterteilt in Garage, Werkstatt und ein Büro, das mit stählernen Aktenschränken, gerahmten Zeugnissen und den schwarzen Buchrücken des endlosen, bodenlosen Gesetzes gesäumt ist. Die großen Rolltore sind da, um die Wagen ein- und ausfahren zu lassen. Drei Wagen, nach dem Trio von Ölflecken auf dem glatten Betonboden zu urteilen.

Landsman wird bezahlt — und lebt —, um aufzudecken, was normalen Menschen entgeht, doch jetzt scheint ihm, dass er bis zu diesem Moment, da er die Werkstatt des Grenz-Mejwens Zimbalist betritt, nicht genug auf Schnüre geachtet hat. Schnüre, Fäden, Seile, Kordeln, Bänder, Fasern, Taue, Trossen und Kabel; Polypropylen, Hanf, Gummi, gummiertes Kupfer, Kevlar, Stahl, Seide, Flachs, geflochtener Samt. Der Grenz-Mejwen kennt große Teile des Talmuds auswendig. Topographie, Geographie, Geodäsie, Geometrie, Trigonometrie, das ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, als ziele er über den Lauf eines Gewehrs. Doch das A und O für den Grenz-Mejwen ist die Qualität seiner Schnüre. Die meisten — man kann sie in Meilen, in Werst oder wie der Grenz-Mejwen in Händen messen — sind säuberlich auf Spulen gewickelt, die an der Decke hängen oder ordentlich der Größe nach geordnet auf Metallspindeln ruhen. Aber viele liegen einfach herum, in Haufen und Knäueln. Wie Steppenhexen werden Gesträuch, Gewölle und große dornige Elfenknoten aus Draht und Schnur durch die Werkstatt geweht.

»Professor, das ist mein Kollege, Detective Landsman«, sagt Berko. »Wenn Sie einen brauchen, der Ihnen auf den Teekessel hackt, sagen Sie mir Bescheid.«

»Eine Nervensäge, so wie Sie?«

»Ich sag lieber nichts.«

Landsman und der Professor geben sich die Hand.

»Den kenne ich«, sagt der Grenz-Mejwen und kommt näher, um Landsman besser betrachten zu können. Er mustert ihn blinzelnd, als sei Landsman eine seiner zehntausend Landkarten. »Der hat den verrückten Podolsky geschnappt. Der hat Hyman Tshamy hinter Schloss und Riegel gebracht.«

Landsman erstarrt und klappt die Spiegelfolie seines Visiers herunter, gefasst auf eine Standpauke. Hyman Tshamy, ein Verbover Dollarwäscher mit einer Videothekenkette, beauftragte zwei philippinische Schlosser — Auftragsmörder —, ein vertracktes Geschäft für ihn zu zementieren. Doch Landsmans bester Informant ist Benito Taganes, der König der chinesischen Donuts nach Filipinoart. Benitos Informationen führten Landsman zu dem Lokal am Flughafen, wo die glücklosen Schlosser auf ein Flugzeug warteten, und ihre Zeugenaussagen brachten Tshamy trotz der Höchstleistungen des reißfestesten Anwalts-Kevlars, das für Verbover Geld zu bekommen war, hinter Gitter. Hyman Tshamy ist der bisher einzige Verbover im Distrikt, der je eines Verbrechens überführt und dafür verurteilt wurde.

»Guck dir den an!« Der untere Teil von Zimbalists Gesicht reißt auf. Seine Zähne gleichen den Pfeifen einer aus Knochen geschnitzten Orgel. Sein Lachen klingt, als würde eine Handvoll rostiger Gabeln und Nägel zu Boden fallen. »Er glaubt, ich mache mir was aus diesen Leuten, mögen ihre Lenden so verdorren wie ihre Seelen.« Der Mejwen hört auf zu lachen. »Wie, haben Sie gedacht, ich gehöre dazu?«

Landsman findet, das ist die tödlichste Frage, die ihm je gestellt wurde.

»Nein, Professor«, sagt er. Dabei bezweifelte Landsman sogar, dass Zimbalist tatsächlich ein Professor ist, aber in seinem Büro hängen über dem Kopf des mit dem elektrischen Wasserkessel kämpfenden Jungmannes die gerahmten Zeugnisse und Zertifikate der Jeschiwa von Warschau (1939), der Freien Polnischen Staatsuniversität (1950) und des Bronfman Manual and Technical (1955). Ebenso Empfehlungen, Haskomes und Affidavits, jeweils in nüchternen schwarzen Rahmen, scheinbar von jedem Rabbi im Distrikt, von unbedeutend bis einflussreich, von Yakovy bis Sitka. Demonstrativ mustert Landsman Zimbalist von oben bis unten, doch man sieht allein schon an der großen, mit silbernem Faden bestickten Jarmulke, die das Ekzem auf seinem Hinterkopf bedeckt, dass der Grenz-Mejwen kein Verbover ist. »Den Fehler würde ich nicht machen.«

»Nein? Würden Sie denn eine von denen heiraten, so wie ich, würden Sie den Fehler machen?«

»Wenn es ums Heiraten geht, lass ich gerne die anderen Fehler machen«, sagt Landsman. »Meine Exfrau zum Beispiel.«

Zimbalist winkt seine Besucher zu sich, vorbei an dem robusten Eichentisch zu zwei kaputten Stühlen neben einem gewaltigen Rollpult. Der Jungmann geht ihm nicht schnell genug aus dem Weg, der Grenz-Mejwen packt ihn am Ohr.

»Was machst du da?« Er greift nach der Hand des Jungen. »Sieh dir diese Fingernägel an! Feh!« Er lässt die Hand fallen wie verdorbenen Fisch. »Los, raus hier, setz dich ans Funkgerät! Finde heraus, wo diese Idioten sind und warum sie so lange brauchen!«

Zimbalist gießt Wasser in eine Kanne und wirft eine Faustvoll Teeblätter hinein, die verdächtig nach zerhackter Schnur aussehen.

»Einen Eruw allein müssen sie mir patrouillieren. Einen! Ich habe zwölf Männer, die für mich arbeiten, und nicht einer von ihnen hätte auf Anhieb Erfolg, wenn er seine Zehen am Ende seiner Socken suchen müsste.«

Landsman hat sich wirklich bemüht zu vermeiden, Konzepte wie das des Eruw zu verstehen, aber er weiß, dass es sich dabei um das typisch jüdische Umgehen einer Vorschrift handelt, um einen Trick, mit dem man Gott täuscht, diesen allwissenden Drecksack. Es hat etwas damit zu tun, dass Telefonmasten als Türpfosten ausgegeben werden und die Drähte als Stürze dienen. Mit Hilfe von Masten und Drähten kann man einen Bereich absperren, ihn zum Eruw erklären und dann am Sabbat so tun, als sei der selbst geschaffene Eruw — im Fall von Zimbalist und seiner Mannschaft wohl der gesamte Distrikt — das eigene Haus. So kann man das Sabbatverbot umgehen, an öffentlichen Orten etwas zu tragen, und kann mit zwei Alka-Seltzer in der Tasche sonntags zu Schul gehen, ohne dass es eine Sünde ist. Mit ausreichend Draht und Masten kann man unter kreativer Zuhilfenahme bestehender Mauern, Zäune, Klippen und Flüsse einen Kreis um so gut wie alles ziehen und das Gebiet zum Eruw erklären.

Aber irgendjemand muss diese Grenzen festlegen, muss das Gelände vermessen, die Masten und Drähte instand halten und die Unversehrtheit der vorgeblichen Mauern und Türen angesichts von Wetter, Vandalismus, Bären und der Telefongesellschaft garantieren. Dazu braucht man den Grenz-Mejwen. Er hat den gesamten Mast- und Drahtmarkt in der Hand. Die Verbover waren die Ersten, die seinen Dienst in Anspruch nahmen, und als sie mit ihren Muskeln hinter ihm standen, gingen nacheinander die Satmarer, die Bobover, die Lubawitscher, die Gerrer und all die anderen Schwarzhutsekten dazu über, sich auf Zimbalists Dienste und sein Fachwissen zu verlassen. Wenn sich die Frage stellt, ob ein bestimmter Abschnitt eines Bürgersteigs, Seeufers oder offenen Feldes in einem Eruw liegt, berufen sich alle Rabbis auf Zimbalist, auch wenn er selbst keiner ist. An seinen Landkarten, seiner Mannschaft und seinen Polypropylenspulen hängt das Seelenheil jedes gläubigen Juden im Distrikt. Nach dem, was man hört, ist er der mächtigste Jude der Stadt. Und deshalb darf er hinter seinem schweren Eichentisch mit den zweiundsiebzig Fächern mitten auf Verbov Island sitzen und ein Glas Tee mit dem Mann trinken, der Hyman Tsharny am Schlafittchen packte.

»Was ist mit Ihnen?«, sagt er zu Berko und lässt sich mit gummiartigem Quietschen auf ein aufblasbares Donut-Kissen fallen. Von einer Zigarettenklammer auf dem Schreibtisch nimmt er eine Schachtel Broadways. »Warum laufen Sie hier rum und machen allen Angst mit diesem Kriegsbeil?«

»Mein Kollege war enttäuscht von der Begrüßung hier«, sagt Berko.

»Es mangelte ihr am Geist des Sabbats«, sagt Landsman und zündet sich selbst eine Papiros an. »Fand ich.«

Zimbalist schiebt einen dreieckigen Kupferaschenbecher über den Tisch. Seitlich steht darauf »Krasny’s Tabak- und Schreibwaren«, und genau dort holte sich Isidor Landsman seine monatliche Ausgabe der Chess Review. Krasny mit seiner Leihbücherei, seinem enzyklopädischen Humidor und dem jährlichen Lyrikpreis wurde schon Vorjahren von amerikanischen Ladenketten verdrängt, und beim Anblick dieses netten Aschenbechers gibt die Quetschkommode von Landsmans Herz ein nostalgisches Schnaufen von sich.

»Zwei Jahre meines Lebens habe ich diesen Leuten geschenkt«, sagt Berko. »Man sollte meinen, es würde sich einer an mich erinnern. Bin ich so leicht zu vergessen?«

»Ich sag Ihnen mal was, Detective.« Mit einem erneuten Quietschen des Gummidonuts steht Zimbalist wieder auf und schenkt Tee in drei verschmierte Gläser. »So, wie die sich hier fortpflanzen, sind die Leute, die Sie heute auf der Straße gesehen haben, nicht mehr dieselben wie vor acht Jahren, sondern deren Enkelkinder. Heute kommen sie schon schwanger zur Welt.«

Er reicht jedem von ihnen ein dampfendes Glas, zu heiß zum Festhalten. Es verbrennt Landsmans Fingerspitzen. Die Flüssigkeit riecht nach Gras, Hagebutte und nur ein klein bisschen nach Schnur.

»Die machen immer mehr Juden«, sagt Berko und rührt einen Löffel Marmelade in sein Glas. »Aber keiner schafft Platz, wo sie hinkönnen.«

»Das ist die Wahrheit«, sagt Zimbalist, und sein knochiger Hintern sackt in den Donut. Er verzieht das Gesicht. »Seltsame Zeiten für Juden.«

»Nur hier scheinbar nicht«, sagt Landsman. »Auf Verbov Island geht das Leben seinen gewohnten Gang. In jeder Einfahrt ein gestohlener BMW und in jedem Topf ein sprechendes Huhn.«

»Die Leute hier machen sich erst Sorgen, wenn der Rebbe es ihnen sagt«, erklärt Zimbalist.

»Vielleicht müssen sie sich um gar nichts sorgen«, sagt Berko. »Vielleicht hat sich der Rebbe schon um das Problem gekümmert.«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Das glaube ich keine Sekunde lang.«

»Dann lassen Sie es halt.«

Eines der Garagentore gleitet auf den Rollen zur Seite, und ein weißer Van fährt herein, eine helle Schneemaske auf der Windschutzscheibe. Vier Männer in gelben Overalls drängen heraus, sie haben rote Nasen, und ihre Bärte sind mit schwarzen Netzen hochgebunden. Sie schnauzen sich und stapfen mit den Füßen, und Zimbalist muss hinübergehen und sie ein bisschen zusammenfalten. Es stellt sich heraus, dass es ein Problem in der Nähe des Staubeckens im Scholem-Alejchem-Park gab, irgendein Idiot von der Gemeindeverwaltung hat eine Wand zum Squashspielen aufgestellt, mitten in einen vorgeblichen Türrahmen zwischen zwei Straßenlaternen. Alle wandern hinüber zum Kartentisch in der Mitte des Büros. Während Zimbalist die betreffende Landkarte hinlegt und ausrollt, nicken seine Mitarbeiter nacheinander Landsman und Berko zu und spannen ihre bösen Muskeln an. Danach werden die beiden von Zimbalists Mannschaft einfach ignoriert. Zwei Schammes sind eine imaginäre Brise, die an ihnen vorbeiweht.

»Angeblich hat der Mejwen eine Landkarte für jede Stadt, wo jemals zehn Juden zusammengehockt haben«, sagt Berko zu Landsman. »Bis zurück nach Jericho.«

»Das Gerücht habe ich selbst in die Welt gesetzt«, sagt Zimbalist, den Blick auf die Karte gerichtet. Er findet die betroffene Stelle, und einer seiner Mitarbeiter zeichnet die Squashwand mit einem Bleistiftstummel ein. Rasch ersinnt Zimbalist eine Notlösung, die bis zum Sonnenuntergang am nächsten Tag halten muss, eine Ausbuchtung in der großen imaginären Mauer des Eruw. Er schickt seine Jungs zurück nach Harkavy, um Plastikleitungen an zwei nahe Telefonmasten zu spannen, damit die Satmarer, die östlich des Scholem-Alejchem-Parks wohnen, mit ihren Hunden Gassi gehen können, ohne ihre Seelen zu gefährden.

»Tut mir leid«, sagt er und kommt wieder um den Tisch herum. Er zuckt zusammen. »Ich habe nicht mehr viel Freude am Sitzen. Nun, was kann ich für euch tun? Ich bezweifle doch stark, dass ihr mit einer Frage über Reschus harabbim hergekommen seid.«

»Wir arbeiten an einem Mordfall, Professor Zimbalist«, sagt Landsman. »Und wir haben Grund zu der Annahme, dass der Tote ein Verbover gewesen ist oder Verbindungen zu den Verbovern hatte, zumindest früher einmal.«

»Verbindungen«, sagt der Mejwen und zeigt wieder seine Orgelpfeifenstalaktiten. »Ich denke, damit kenne ich mich aus.«

»Er wohnte unter dem Namen Emanuel Lasker in einem Hotel auf der Max Nordau Street.«

»Lasker? Wie der Schachspieler?« Eine Falte bildet sich im Pergament von Zimbalists gelber Stirn, und tief in seinen Augenhöhlen kratzt Feuerstein über Stahl: Erstaunen, Überraschung, ein Erinnerungszündholz. »Ich habe das Spiel mal betrieben«, erklärt er. »Vor langer Zeit.«

»Ich auch«, sagt Landsman. »So wie unser Toter, bis zu seinem Ende. Neben seiner Leiche fanden wir ein Schachbrett mit aufgestellten Figuren. Er las Siegbert Tarrasch. Und er kannte die Stammgäste im Schachclub Einstein. Dort kannte man ihn unter dem Namen Frank.«

»Frank«, wiederholt der Grenz-Mejwen mit einem Yankeenäseln. »Frank, Frank, Frank. War das sein Vorname? Als Nachname ist er geläufig bei Juden, aber als Vorname, nein. Wisst ihr mit Sicherheit, dass er Jude war, dieser Frank?«

Berko und Landsman tauschen einen schnellen Blick aus. Mit Sicherheit wissen sie gar nichts. Die Tefillin im Nachtschrank könnten dort als Warnung deponiert worden sein oder vergessen von einem früheren Bewohner von Raum 208. Niemand im Einstein-Club behauptete, den toten Junkie Frank in der Synagoge gesehen zu haben, sich wiegend im Stehgebet.

»Wir haben Grund zu der Annahme«, wiederholt Berko langsam, »dass der Mann früher ein Verbover Jude war.«

»Was für einen Grund?«

»Es gab zwei geeignete Telefonmasten«, sagt Landsman. »Zwischen die haben wir einen Draht gespannt.«

Er greift in seine Tasche und holt einen Umschlag hervor. Eines von Shpringers Totenpolaroids reicht er Zimbalist über den Tisch, und Zimbalist hält es mit ausgestrecktem Arm, gerade lang genug, um sich darüber klarzuwerden, dass es das Bild einer Leiche ist. Er holt tief Luft, schürzt die Lippen und macht sich bereit, ihnen eine stichhaltige professorale Einschätzung des vorliegenden Beweismittels aufzutischen. Das Bild eines Toten, das ist, ehrlich gesagt, eine Zäsur in der täglichen Routine eines Grenz-Mejwens. Dann blickt er auf das Foto, und in dem Moment, bevor er die absolute Kontrolle über seine Züge wiedergewinnt, sieht Landsman, dass Zimbalist einen Schlag in die Magengrube bekommt. Die Luft weicht aus seiner Lunge, das Blut fließt ihm aus dem Gesicht. Das stete, kluge Flackern von Intelligenz in seinem Blick erlischt. Eine Sekunde lang erblickt Landsman das Polaroid eines toten Grenz-Mejwens. Dann gehen die Lichter im Gesicht des alten Knackers wieder an. Berko und Landsman warten eine Weile, dann noch etwas länger, und Landsman weiß, dass der Mejwen sich jetzt, so gut er kann, bemüht, nicht die Kontrolle zu verlieren und an der Chance festzuhalten, als Nächstes die Worte Meine Herren, ich habe diesen Mann noch nie in meinem Lehen gesehen zu sagen und sie plausibel, logisch, wahr klingen zu lassen.

»Wer war er, Professor Zimbalist?«, fragt Berko schließlich.

Zimbalist legt das Foto auf den Schreibtisch und betrachtet es noch etwas länger, nun ist ihm einerlei, was seine Augen oder Lippen tun.

»Oj, der Junge«, sagt er. »Der liebe, liebe Junge.«

Er holt ein Tuch aus seiner Strickjacke und tupft sich die Tränen von den Wangen, dann hustet er einmal. Es ist ein furchtbares Geräusch. Landsman nimmt das Teeglas des Mejwens und gießt den Inhalt in seines. Aus der Jackentasche holt er die Wodkaflasche, die er am Morgen auf dem Männerklo des Vorsht beschlagnahmt hat. Er schenkt zwei Fingerbreit in das Teeglas und hält es dem alten Knacker hin.

Wortlos nimmt Zimbalist den Wodka und kippt ihn in einem Schluck hinunter. Dann steckt er das Taschentuch wieder in die Tasche und gibt Landsman das Foto zurück.

»Ich habe dem Jungen Schach beigebracht«, sagt er. »Als er noch ein Junge war, meine ich. Bevor er groß wurde. Tut mir leid, ich rede wirr.« Er sucht eine Broadway, hat aber schon alle aufgeraucht. Eine Weile braucht er, bis er das erkennt. Vergeblich bohrt er mit einem krummen Finger in der Packung herum, als suche er eine Erdnuss. Landsman gibt ihm eine von seinen ab. »Danke, Landsman. Danke Ihnen.«

Aber dann sagt er nichts, sondern sitzt einfach nur da und sieht zu, wie seine Papiros runterbrennt. Aus seinen eingefallenen Augenhöhlen späht er zu Berko hinüber, dann riskiert er einen kurzen Kartenspielerblick zu Landsman. Er erholt sich jetzt von dem Schock. Versucht, die Lage kartographisch zu erfassen, die Grenzlinien, die er nicht überschreiten darf, die Türschwellen, die er bei Gefahr für seine Seele nicht übertreten darf. Die behaarte, gefleckte Krabbe seiner Hand lässt eins ihrer Beine zum Telefon auf dem Schreibtisch schnellen. Noch eine Minute, und die Wahrheit und Dunkelheit des Lebens werden wieder in die Obhut von Anwälten verwiesen.

Das Garagentor knarrt und rumpelt, und Zimbalist will sich mit einem dankbaren Stöhnen wieder erheben, aber Berko ist schneller auf den Beinen. Er lässt eine schwere Hand auf die Schulter des Alten sinken.

»Setzen Sie sich, Professor«, sagt er. »Ich bitte Sie. Nehmen Sie sich Zeit, wenn Sie wollen, aber setzen Sie sich bitte wieder auf den Donut.« Er lässt die Hand, wo sie ist, und drückt Zimbalist leicht nach unten. Dabei nickt er in Richtung Garage. »Meyer.«

Landsman geht durch die Werkstatt zur Garageneinfahrt und zerrt seine Dienstmarke hervor. Er stellt sich dem Van in den Weg, als sei die Marke ein richtiges Schild und könne einen zwei Tonnen schweren Chevy aufhalten. Der Fahrer tritt auf die Bremse, und das Heulen der Reifen prallt gegen die kalten Steinwände. Der Fahrer lässt das Fenster hinunter. Er besitzt die komplette Ausrüstung der Zimbalist-Angestellten: Netz um den Bart, gelber Overall, gut entwickelter finsterer Blick.

»Was gibt’s, Detective?«, will er wissen.

»Fahrt spazieren«, sagt Landsman. »Wir unterhalten uns.« Er greift zum Funkgerät und packt den herumschleichenden kleinen Jungmann am Kragen seines langen Mantels, wirft ihn wie einen Welpen zur Beifahrerseite des Vans, reißt die Tür auf und schiebt ihn zärtlich hinein. »Und nimm den kleinen Pischer mit.«

»Chef?«, ruft der Fahrer zum Grenz-Mejwen hinüber. Nach einem Moment nickt Zimbalist und wedelt den Fahrer fort.

»Aber wo soll ich hin?«, sagt der Fahrer zu Landsman.

»Weiß ich nicht«, sagt Landsman. Er drückt die Tür ins Schloss. »Besorgt mir ein schönes Geschenk.«

Landsman klopft auf die Motorhaube, und der Van rollt rückwärts hinaus in den Sturm weißer Linien, gestrickt wie die Drähte des Grenz-Mejwens über nachgebaute Fassaden und den grellgrauen Himmel. Landsman zieht das Garagentor zu und schiebt den Riegel vor.

»Nu, vielleicht fangen Sie noch mal von vorne an«, sagt er zu Zimbalist, als er wieder auf dem Stuhl Platz nimmt. Er schlägt die Beine übereinander und zündet für beide noch eine Papiros an. »Wir haben viel Zeit.«

»Kommen Sie, Professor«, sagt Berko. »Sie kennen das Opfer von Kindesbeinen an, ja? All die Erinnerungen müssen sich doch jetzt in Ihrem Kopf drehen. So schlecht es Ihnen auch geht, Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie einfach erzählen.«

»Das ist es nicht«, sagt der Grenz-Mejwen. »Das … das ist es nicht.« Er nimmt die angezündete Papiros von Landsman entgegen, und diesmal raucht er sie fast zu Ende, ehe er zu sprechen beginnt. Er ist ein gelehrter Jid, er hat gerne Ordnung in seinen Gedanken.

»Er heißt Menachem«, beginnt er. »Mendel. Er ist — oder war — achtunddreißig, ein Jahr älter als Sie, Detective Shemets, aber er hatte am gleichen Tag Geburtstag, am 15. August, stimmt’s? Ja? Wusste ich doch. Seht ihr? Hier ist der Kartenschrank.« Er klopft auf seine haarlose Kuppel. »Karten von Jericho, Detective Shemets, von Jericho und Tyros.«

Das Klopfen auf den Kartenschrank gerät ein wenig außer Kontrolle, er schlägt sich die Jarmulke vom Kopf, und als er nach ihr greift, fällt Asche auf seinen Pullover.

»Mendeles IQ lag bei 170«, fährt er fort. »Mit acht oder neun Jahren konnte er Hebräisch, Aramäisch, Sephardisch, Latein und Griechisch lesen. Die schwierigsten Texte, das dornigste Dickicht von Logik und Argumentation. Damals war Mendele schon ein viel besserer Schachspieler, als ich je hoffen konnte zu werden. Er hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis für gespielte Partien, er musste nur einmal eine Notation lesen und konnte sie im Kopf nachspielen, Zug um Zug, ohne Fehler. Als er älter wurde und man ihn nicht mehr so oft spielen ließ, ging er im Kopf berühmte Partien durch. Zwei, drei, vier Partien gleichzeitig.«

»Das wurde auch immer über Melekh Gaystik erzählt«, sagt Landsman. »Der hatte auch so ein Gedächtnis.«

»Melekh Gaystik«, sagt Zimbalist. »Gaystik war ein Freak. Das war nicht mehr menschlich, wie Gaystik spielte. Er hatte ein Hirn wir ein Käfer. Das Einzige, was er konnte, war fressen. Er war grob. Schmierig. Gemein. Mendele war völlig anders. Er bastelte Spielzeug für seine Schwestern, Puppen aus Wäscheklammern und Filz, ein Haus aus einer Packung Haferschleim. Hatte immer Leim an den Fingern und in der Tasche eine Wäscheklammer mit einem Gesicht drauf. Ich gab ihm Zwirn für das Haar. Acht kleine Schwestern hingen ständig an ihm. Eine Ente lief ihm nach wie ein kleiner Hund.« Zimbalists schmale braune Lippen ziehen sich in den Winkeln hoch. »Ob ihr’s glaubt oder nicht, einmal habe ich ein Spiel zwischen Mendel und Melekh Gaystik arrangiert. So was konnte man damals machen, Gaystik war immer pleite und hatte Schulden, er hätte gegen einen betrunkenen Bären gespielt, wenn es Geld gebracht hätte. Damals war der Junge zwölf, Gaystik sechsundzwanzig. Es war das Jahr, bevor er die Meisterschaft in St. Petersburg gewann. Sie spielten drei Partien hinten in meiner Werkstatt, die damals noch, wie Sie sich erinnern werden, Detective, auf der Ringelblum Avenue lag. Ich bot Gaystik fünftausend Dollar für ein Spiel gegen Mendele. Der Junge gewann die erste und dritte Partie. Bei der zweiten hatte er Schwarz und zwang Gaystik zu einem Remis. Ja, Gaystik war heilfroh, dass das Spiel geheim gehalten wurde.«

»Warum?«, will Landsman wissen. »Warum mussten die Spiele geheim gehalten werden?«

»Weil dieser Junge«, sagt der Grenz-Mejwen, »der in einem Hotelzimmer auf der Max Nordau Street starb … Kein schönes Hotel, nehme ich an.«

»Eine Absteige«, sagt Landsman.

»Drückte er sich das Heroin in den Arm?«

Landsman nickt, und nach ein oder zwei harten Sekunden nickt auch Zimbalist.

»Ja. Natürlich. Nu. Ich hatte mich bereit erklärt, die Spiele heimlich zu organisieren, weil diesem Jungen verboten worden war, mit Außenstehenden Schach zu spielen. Irgendwie bekam Mendeles Vater Wind von dem Spiel gegen Gaystik, ich habe nie erfahren, wie. Für mich ging es noch gerade gut aus. Obwohl meine Frau mit dem Vater verwandt war, verlor ich fast sein Haskome, was damals meine Geschäftsgrundlage war. Ich habe mein ganzes Geschäft auf diese Approbation aufgebaut.«

»Der Vater — Sie wollen doch nicht sagen, dass Heskel Shpilman der Vater ist«, sagt Berko. »Der Mann da auf dem Bild ist der Sohn des Verbover Rebbe?«

Da merkt Landsman, wie still es auf Verbov Island ist, im Schnee, in dieser steinernen Scheune, kurz vor der Dunkelheit, während der entweihte Teil der Woche und die sie entweihende Welt sich rüsten, in den Flammen zweier identischer Kerzen zu vergehen.

»Doch«, sagt Zimbalist schließlich. »Mendel Shpilman. Sein einziger Sohn. Er hatte noch einen Zwillingsbruder, aber der wurde tot geboren. Das wurde später als Zeichen gedeutet.«

Landsman sagt: »Als Zeichen wofür? Dass er ein Wunderkind war? Dass er irgendwann als Junkie in einer billigen Absteige in der Untershtot enden würde?«

»Das nicht«, sagt Zimbalist. »Daran dachte niemand.«

»Man sagte … man erzählte sich damals …«, beginnt Berko. Er verzieht das Gesicht, als wisse er, dass das, was er nun äußern wird, Landsman verdrießen und ihm Anlass zum Spott geben wird. Dann zieht er seine kleinen braunen Augen wieder glatt und lässt den Moment verstreichen. Er kann sich nicht überwinden, zu wiederholen, was man sich erzählte. »Mendel Shpilman. Du lieber Gott. Ich habe so einiges gehört.«

»Eine Menge«, sagt Zimbalist. »Alles nur Geschichten, bis er zwanzig Jahre alt war.«

»Was für Geschichten?«, sagt Landsman, gebührend verdrossen. »Geschichten worüber? Nu erzählt schojn, verdammt nochmal!«

14.

Und so erzählt Zimbalist ihnen eine Mendel-Geschichte.

Eine gewisse Frau, sagt er, hatte Krebs und lag im Allgemeinen Krankenhaus von Sitka im Sterben. Nennen wir sie eine Bekannte. Das war 1973. Die Frau war zweifache Witwe, ihr erster Ehemann ein vor dem Krieg in Deutschland von Schtarkern erschossener Spieler, der zweite ein Kletteraffe in Zimbalists Diensten, der sich in einer Hochspannungsleitung verfing. Weil Zimbalist die Witwe seines toten Mitarbeiters mit Bargeld und Gefälligkeiten unterstützte, lernte er sie näher kennen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die beiden ineinander verliebten. Sie waren über das Alter närrischer Leidenschaft hinaus, und so waren sie leidenschaftlich, ohne Narren zu sein. Sie war eine dunkle, schlanke Frau, bereits geübt in der Gewohnheit, ihre Lüste zu zügeln. Sie hielten die Affäre vor allen geheim, nicht zuletzt vor Mrs. Zimbalist.

Um seine erkrankte Freundin im Krankenhaus besuchen zu können, verlegte sich Zimbalist auf Ausflüchte, Heimlichkeiten und die Bestechung von Krankenpflegern. Zusammengerollt zwischen ihrem Bett und der Wand schlief er auf einem Handtuch am Boden. Wenn seine Geliebte im Halbdunkel aus den Tiefen des Morphiumrausches aufschrie, tröpfelte er Wasser zwischen ihre gesprungenen Lippen und kühlte ihre Stirn mit einem feuchten Tuch. Die Uhr an der Wand summte vor sich hin und brach mit dem Minutenzeiger zunehmend unruhig kleine Bröckchen der Nacht ab. Morgens kroch Zimbalist zurück zu seinem Geschäft auf der Ringelblum Avenue — seiner Frau sagte er, er würde dort schlafen, weil er so schlimm schnarche — und wartete auf den Jungen.

Fast jeden Morgen erschien Mendel Shpilman nach dem Beten und dem Thorastudium, um Schach zu spielen. Schach war erlaubt, obwohl das Verbover Rabbinat und die größere Gemeinschaft der Frommen es als Zeitverschwendung für den Jungen betrachteten. Je älter Mendel wurde — je strahlender seine meisterhafte Auffassungsgabe, je leuchtender die Berühmtheit seines frühreifen Scharfsinns —, desto schmerzlicher erschien diese Verschwendung. Es war nicht nur Mendels Gedächtnis, sein wendiges Denken, sein Erfassen von Präzedenzfällen, Geschichte, Gesetzen. Nein, schon als Kind schien Mendel Shpilman intuitiv das chaotische, menschliche Gewässer zu begreifen, das das Rechtssystem betrieb und gleichzeitig ein ausgeklügeltes System von Schleusen und Ablaufkanälen nötig machte. Angst, Zweifel, Lust, Unehrlichkeit, Eidesbruch, Mord und Liebe, Unsicherheit über die Absichten von Gott und den Menschen — das alles erkannte der kleine Mendel nicht nur im aramäischen Abstraktum, sondern auch wenn es im Studierzimmer seines Vaters auftauchte, gewandet in den dunklen Twill und die kräftige Muttersprache des Alltags. Falls je Konflikte im Kopf des Jungen entstanden, Zweifel an der Bedeutung des Rechtssystems, das er am Verbover Hof zu Füßen einer Schar ausgewachsener Gannefs und Gauner lernte, so war nichts davon zu merken. Nicht als gläubiges Kind und nicht als der Tag kam, da er allem den Rücken kehrte. Mendel hatte einen Kopf, der widersprüchliche Lehrmeinungen nebeneinanderstellen konnte, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Nur weil die Shpilmans so stolz auf seine Vortrefflichkeit als jüdischer Sohn und Gelehrter waren, tolerierten sie jene Seite von Mendels Charakter, die am liebsten spielte. Unablässig dachte sich Mendel komplizierte Streiche und Juxe aus und führte Stücke mit seinen Schwestern, Tanten und der Ente auf. Manche fanden, das größte Wunder vollbrachte Mendel, wenn er seinen eindrucksvollen Vater alljährlich überzeugte, die Rolle der Königin Waschti im Purimspiel zu übernehmen. Der Anblick dieses düsteren Herrschers, dieses Gebirges von Würde, dieses furchterregenden Klotzes, wenn er auf hohen Absätzen herumtrippelte! Die blonde Perücke! Lippenstift und Rouge, Flitter und Glitter! Es mag der grausigste Auftritt als Frau gewesen sein, den das Judentum je hervorbrachte. Die Leute liebten die Nummer. Und sie liebten Mendel, weil er sie Jahr für Jahr möglich machte. Dabei war sie nur ein weiterer Beweis für die Liebe, die Heskel Shpilman für diesen Jungen hegte. Und mit derselben liebevollen Nachsicht wurde es Mendel gestattet, täglich eine Stunde mit dem Schachspiel zu verschwenden, unter der Bedingung, dass er seinen Gegner unter den Gläubigen von Verbov wählte.

Mendel wählte den Grenz-Mejwen, den einsamen Außenseiter in ihrer Mitte. Es war ein kleines Zeichen der Rebellion oder Halsstarrigkeit, die in späteren Jahren noch so mancher wiedertreffen sollte. Doch in der Sphäre von Verbov hatte überhaupt nur Zimbalist die minimale Chance, den Jungen zu schlagen.

»Wie geht es ihr?«, sagte Mendel eines Morgens zu Zimbalist, als seine Freundin nun schon zwei Monate im Krankenhaus von Sitka vor sich hin starb und fast aus dem Leben schied.

Zimbalist bekam einen Schock bei der Frage, natürlich nicht zu vergleichen mit dem Schicksal des zweiten Gatten der Witwe, doch es reichte, um sein Herz ein oder zwei Schläge lang aussetzen zu lassen. Er könne sich an jede Partie erinnern, die er je mit Mendel Shpilman ausgetragen habe, sagt er, nur an diese eine nicht; nur ein einziger Zug sei ihm von diesem Spiel im Gedächtnis geblieben. Zimbalists Frau war eine Shpilman, eine Cousine des Jungen.

Zimbalists Auskommen, seine Ehre, vielleicht sogar sein Leben hingen davon ab, dass das Geheimnis des Ehebruchs gewahrt blieb. Er war sich vollkommen sicher, dass das bisher der Fall gewesen war. Über seine Drähte und Fäden erspürte der Grenz-Mejwen jedes Flüstern und jedes Gerücht, so wie eine Spinne die im Netz zappelnde Fliege in ihren Beinen spürt. Es war unmöglich, dass Mendel Shpilman etwas zu Ohren gekommen war, ohne dass Zimbalist vorher davon gehört hätte.

Er fragte: »Wie geht es wem?«

Der Junge schaute ihn an. Mendel war kein hübsches Kind. Er hatte allzeit gerötete Wangen, eng stehende Augen, ein zweites Kinn und sogar den Anflug eines dritten, ohne dass das erste klar zu erkennen gewesen wäre. Aber seine Augen waren, wenn auch zu klein und zu nah am Nasenrücken, intensiv und voller Farben — wie die Flecken auf einem Schmetterlingsflügel: blau, grün, golden. Mitleid, Spott, Vergebung. Urteilsfrei. Vorwurfsfrei.

»Schon gut«, sagte Mendel sanft. Dann setzte er den Damenläufer an seinen ursprünglichen Platz auf dem Brett zurück.

Sosehr Zimbalist auch grübelte, er konnte keinen Sinn in diesem Zug erkennen. In einem Moment kam es ihm vor, als künde der Zug von einer phantastischen Schule des Schachs oder spiele auf sie an. Im nächsten Moment schien er nur das zu sein, was er aller Wahrscheinlichkeit nach war: eine Art Zurücknahme, angeboten in der Hoffnung, dass sie, anders als die vorhergehende Frage, den Freund weder übertölpelte noch erschreckte.

Im Laufe der nächsten Stunde bemühte sich Zimbalist, den kleinen Zug zu verstehen und die Kraft aufzubringen, einem Zehnjährigen, dessen Universum von Lehrhaus, Schul und der Tür zu der Küche seiner Mutter begrenzt wurde, nicht das Leid und das düstere Verzücken seiner Liebe zu der sterbenden Witwe anzuvertrauen, dem Jungen nicht zu beichten, wie jedes Mal ein unbekannter Durst in ihm selbst gelöscht wurde, wenn er ihr das kühle Wasser auf die blättrigen Lippen träufelte.

Sie spielten ohne weitere Unterhaltung bis zum Ende der Stunde. Doch als es für den Jungen Zeit wurde zu gehen, drehte er sich in der Tür des Geschäfts auf der Ringelblum Avenue um und fasste Zimbalist am Ärmel. Zögernd, als sträube oder schäme er sich. Vielleicht hatte er auch Angst. Dann bekam er einen harten, verkniffenen Gesichtsausdruck, in dem Zimbalist die verinnerlichte Stimme des Rebbes erkannte, wenn der seinen Sohn an die Pflicht gemahnte, der Gemeinschaft zu dienen.

»Wenn Sie sie heute sehen«, sagte Mendel, »sagen Sie ihr, dass ich ihr meinen Segen schicke. Dass ich sie grüßen lasse.«

»Das mache ich«, sagte Zimbalist oder meinte, es gesagt zu haben.

»Richten Sie ihr von mir aus, dass alles gut werden wird.«

Dieses Äffchengesicht, dieser traurige Mund und dieser Blick, der sagte, dass er einen vielleicht nur auf den Arm nahm, sosehr er einen auch kannte und liebte.

»Oh, das mache ich«, sagte Zimbalist, dann brach er schluchzend zusammen. Der Junge holte ein sauberes Taschentuch hervor und reichte es Zimbalist. Geduldig hielt er dem Grenz-Mejwen die Hand. Mendels Finger waren weich, ein wenig klebrig. Auf die Innenseite seines Handgelenks hatte seine kleinere Schwester Reyzl mit roter Tinte ihren Namen geschrieben. Als Zimbalist die Fassung zurückgewann, ließ Mendel seine Hand los und stopfte sich das feuchte Taschentuch in die Hosentasche.

»Bis morgen«, sagte er.

Als Zimbalist in jener Nacht auf die Krankenstation schlich, trichterte er seiner bewusstlosen Geliebten den Segen des Jungen ins Ohr, kurz bevor er sein Handtuch auf dem Boden ausbreitete. Er tat es ohne Hoffnung und mit nur sehr wenig Glauben. In der Dunkelheit um fünf Uhr morgens weckte Zimbalists Freundin ihn und sagte, er solle nach Hause gehen und mit seiner Frau frühstücken. Es waren die ersten verständlichen Sätze, die sie seit Wochen von sich gegeben hatte.

»Haben Sie ihr meinen Segen erteilt?«, fragte Mendel, als sie sich am nächsten Morgen zum Schachspiel hinsetzten.

»Ja.«

»Wo ist sie?«

»Im Krankenhaus.«

»Mit anderen Menschen? Auf einer Station?«

Zimbalist nickte.

»Haben Sie meinen Segen auch den anderen Menschen gegeben?«

Das war Zimbalist nicht in den Sinn gekommen.

»Ich habe nicht mit ihnen gesprochen«, sagte er. »Ich kenne sie nicht.«

»Es war mehr als genug Segen für alle«, teilte Mendel ihm mit. »Sagen Sie es den Leuten. Geben Sie ihn heute Abend weiter.«

Doch als Zimbalist seine Freundin am Abend besuchen wollte, war sie auf eine andere Station verlegt worden, eine Station, wo niemand in Todesgefahr schwebte, und irgendwie vergaß Zimbalist den Auftrag des Jungen. Zwei Wochen später schickten die Ärzte die Frau unter verwirrtem Kopfschütteln zurück nach Hause. Wiederum zwei Wochen später zeigte das Röntgenbild keine Spur von Krebs in ihrem Körper.

Da hatten Zimbalist und die Frau ihre Affäre bereits in gegenseitigem Einvernehmen beendet, und Zimbalist schlief wieder jede Nacht im ehelichen Bett. Die täglichen Treffen mit Mendel hinten in seiner Werkstatt auf der Ringelblum Avenue wurden noch eine Weile fortgeführt, dann fand Zimbalist, er habe die Freude daran verloren. Das augenscheinliche Wunder der Krebsheilung veränderte seine Beziehung zu Mendel Shpilman für alle Zeit. Zimbalist konnte ein gewisses Schwindelgefühl nicht abschütteln, wann immer Mendel ihn mit seinen eng stehenden, von Mitleid und Gold befleckten Augen ansah. Der Glaube des Grenz-Mejwens an die Ungläubigkeit war durch die einfache Frage Wie gebt es ihr? erschüttert worden, durch ein Dutzend Worte des Segens, durch einen schlichten Schachzug, der ein Schachspiel erahnen ließ, das über das hinausging, was Zimbalist kannte.

Als Vergeltung für das Wunder arrangierte Zimbalist das geheime Treffen zwischen Mendel und Melekh Gaystik, dem König des Café Einstein und zukünftigen Weltmeister. Drei Partien im Hinterzimmer des Geschäfts auf der Ringelblum Avenue, und der Junge gewann zwei von dreien. Als diese List entdeckt wurde — die andere nicht, es erfuhr niemals jemand von der Affäre —, wurden Mendel Shpilman die Besuche bei Zimbalist verboten. Danach verbrachten die beiden nie wieder eine gemeinsame Stunde am Brett.

»Das kommt davon, wenn man seinen Segen erteilt«, sagt Zimbalist, der Grenz-Mejwen. »Aber Mendel Shpilman brauchte lange, um das zu begreifen.«

15.

»Du kennst den Gannef«, stellt Landsman Berko halb die Frage, als sie hinter dem Grenz-Mejwen durch den Sabbatschnee zur Tür des Rebbes stapfen. Für die Expedition über den Platz hat sich Zimbalist in einem Spülbecken hinten in der Werkstatt Gesicht und Achselhöhlen gewaschen. Er machte einen Kamm nass und harkte seine sechzehn Haare zu einem Moire auf seinem Kopf. Dann zog er einen braunen Kordmantel, eine orangefarbene Daunenweste und schwarze Gummischuhe an, über alles gürtete er einen Bärenfellmantel, der wie ein sieben Meter langer Schal den Geruch von Mottenkugeln hinter sich herzieht. Von einem Elchgeweih neben der Tür nahm der Mejwen einen Fußball oder eine Ottomane aus dem Pelz eines Vielfraßes und setzte sich das Ding auf den Kopf. Nun watschelt er, nach Naphthalin stinkend, vor den beiden Polizeibeamten her. Er sieht aus wie ein kleiner Bär, der von grausamen Herren gezwungen wird, erniedrigende Kunststücke zu vollführen. Keine Stunde mehr bis zum Sonnenuntergang, und der fallende Schnee gleicht Splittern gebrochenen Tageslichts. Der Himmel über Sitka sieht aus wie schnell anlaufendes, trübes Silber.

»Ja, ich kenne ihn«, sagt Berko. »Als ich meine Stelle auf dem 5. Revier antrat, wurde ich direkt zu ihm beordert. Es gab eine Zeremonie in seinem Büro, über dem Lehrhaus in der S. Ansky Street. Er hat mir etwas an die Dienstmütze geheftet, ein kleines goldenes Blatt. Danach schickte er mir zu Purim immer einen hübschen Obstkorb. Wurde mir nach Hause geliefert, obwohl ich nie meine Adresse herausgegeben hatte. Jedes Jahr Pfirsiche und Apfelsinen, bis wir raus nach Shvartser-Yam zogen.«

»Man sagt, er gehört eher zur kräftigen Fraktion.«

»Er ist süß. Herzallerliebst.«

»Was der Mejwen uns eben über Mendel erzählt hat. Die Wunder und Mirakel. Berko, glaubst du das?«

»Du weißt doch, dass es bei mir nicht um Glauben geht, Meyer. Ging es noch nie.«

»Aber hast du — ich bin nur neugierig —, hast du wirklich das Gefühl, du wartest auf Messias?«

Berko zuckt mit den Schultern, eine uninteressante Frage. Er hält den Blick auf die Spur schwarzer Gummischuhe im Schnee gerichtet.

»Ist halt Messias«, sagt er. »Was soll man sonst tun außer warten?«

»Und wenn er kommt, was ist dann? Friede auf Erden?«

»Friede, Wohlstand. Genug zu essen. Niemand ist mehr krank oder einsam. Niemand verkauft mehr was. Weiß nicht.«

»Und Palästina? Gehen alle Juden dahin zurück, wenn Messias kommt? Ins Gelobte Land? Biberfellmützen und so?«

»Ich habe gehört, dass Messias einen Deal mit den Bibern gemacht hat«, sagt Berko. »Gibt keinen Pelz mehr.«

Im glühenden Schein einer großen eisernen Gaslampe, die mit einem Eisenträger an der Hausfassade des Rebbes angebracht ist, vertreibt sich ein loses Knäuel von Männern den Rest der Woche — Parasiten, Rebbe-Hörige, der eine oder andere regelrechte Tölpel. Und das übliche improvisierte Durcheinander von Möchtegern-Schweizergardisten, die den zu beiden Seiten der Haustür aufragenden Biks die Arbeit erschweren. Jeder sagt jedem, er solle nach Hause gehen und mit der Familie das Licht segnen, solle den Rebbe in Ruhe sein Sabbatessen genießen lassen, schojn. Niemand bricht wirklich auf, niemand bleibt wirklich stehen. Die Männer tauschen glaubwürdige Lügen über die jüngsten Wunder und Zeichen aus, über neue Tricks, wie man nach Kanada auswandert, und es gibt vierzig Versionen der Geschichte über den hammerschwingenden Indianer; er habe das Alenu-Gebet gesagt und dabei einen indianischen Patschtanz vollführt.

Als die Männer das Knirschen und Quäken von Zimbalists Gummischuhen hören, die sich ihnen über den Platz nähern, stellen sie nacheinander ihre Äußerungen ein, wie eine schwächer werdende Dampforgel. Seit fünfzig Jahren lebt Zimbalist nun in ihrer Mitte, doch ist er durch ein undurchschaubares Gemenge aus Zwang und freier Wahl Außenseiter geblieben. Er ist ein Zauberer, ein Voodoo-Mann, so wie er die Fäden in den Händen hält, die den Distrikt umgrenzen und seine Handflächen am Sabbat das Brackwasser ihrer Seelen umschließen. Wenn seine Leute oben auf den Masten hocken, können sie in jedes Fenster blicken, jedes Telefongespräch belauschen. Zumindest glauben die Männer das.

»Platz da, bitte«, sagte der Mejwen und steuert auf die Haustreppe mit ihrem hübsch geschnörkelten schmiedeeisernen Geländer zu. »Freund Belsky, zur Seite.«

Die Männer machen Platz, als würde Zimbalist mit etwas Brennendem in der Hand auf einen Wassereimer zustürzen. Bevor sie die für Zimbalist geschaffene Lücke wieder schließen können, sehen sie Landsman und Berko näher kommen. Sie dunsten ein so schweres Schweigen aus, dass Landsman spürt, wie es seitlich gegen seinen Kopf drückt. Er hört, wie der Schnee zischt, er hört jede Schneeflocke knistern, die auf die Gaslampe fällt. Die Männer stellen böse Blicke, unschuldige Blicke und so leere Blicke zur Schau, dass alle Luft aus Landsmans Lungen gesogen zu werden droht. Jemand sagt: »Ich sehe kein Kriegsbeil.«

Detective Landsman und Detective Shemets wünschen den Männern die Freude des Sabbats. Dann wenden sie ihre Aufmerksamkeit den Biks an der Tür zu, zwei untersetzten, rothaarigen, glotzäugigen Kerlen mit Stupsnase und einem dichten Wollbart vom rostigen Gold einer Rinderbrustsoße. Zwei rote Rudashevskys, Biks aus einer langen Ahnenreihe von Biks, gezüchtet auf Einfalt, Dummheit, Kraft und Leichtfüßigkeit.

»Professor Zimbalist«, sagt der Rudashevsky links der Tür. »Einen schönen Sabbat Ihnen!«

»Ihnen auch, Freund Rudashevsky. Ich bedauere, dass wir Ihren Wachdienst an diesem friedvollen Nachmittag stören müssen.« Der Grenz-Mejwen drückt die pelzige Ottomane fester auf seinen Kopf. Er setzt zu einer blumigen Eröffnung an, aber als er sich anschickt, die Schubladen seines Gesichts zu leeren, fallen keine weiteren Münzen heraus. Landsman greift in seine Jackentasche. Zimbalist steht einfach nur da, mit hängenden Armen, denkt vielleicht, es sei alles sein Fehler, es sei das Schachspiel, das den Jungen vom gottgewiesenen Pfad seines Ruhms abbrachte, und jetzt muss Zimbalist auch noch dort hinein und dem Vater das traurige Ende der Geschichte schildern. Landsman streift Zimbalists Schulter, die Finger um den glatten, kalten Hals der Flasche kanadischen Wodkas in seiner Tasche geschlossen. Er pocht mit der Flasche gegen Zimbalists knochige Klaue, bis der alte Knacker sie ergreift und streichelt.

»Nu, Yossele, ich bin Detective Shemets«, übernimmt Berko die Einsatzleitung und blinzelt mit einer Hand über den Augen in das zerstreute Gaslicht. Die Horde von Männern hinter ihnen beginnt zu murmeln, sie spüren, dass sich hier mit Geschwindigkeit etwas Schlechtes, Unglaubliches entwickelt. Der Wind schlägt die Schneeflocken an hundert Haken hin und her. »Was ist, Jid?«

»Detective«, sagt der Rudashevsky auf der rechten Seite, vielleicht Yosseles Bruder, vielleicht sein Cousin. Vielleicht beides. »Wir haben gehört, dass Sie in der Gegend sind.«

»Das ist Detective Landsman, mein Kollege. Könnten Sie bitte Rabbi Shpilman ausrichten, dass wir ihn gerne einen Moment sprechen würden? Glauben Sie uns bitte, wir würden ihn nicht zu dieser Stunde stören, wenn es nicht sehr wichtig wäre.«

Schwarzhüte, selbst Verbover, stellen normalerweise nicht das Recht oder die Autorität von Polizeibeamten in Frage, die in Harkavy oder auf Verbov Island ihrer Arbeit nachgehen. Sie kooperieren nicht, aber sie behindern normalerweise auch niemanden. Andererseits braucht man schon einen wirklich guten Grund, um so kurz vor dem heiligsten Moment der Woche das Heim des mächtigsten Rabbis im Exil zu betreten. Da muss man schon gekommen sein, um ihm beispielsweise zu sagen, dass sein einziger Sohn tot ist.

»Einen Moment mit dem Rebbe?«, sagt ein Rudashevsky.

»Und wenn Sie eine Million Dollar hätten, Detective Shemets, bei allem Respekt, und verzeihen Sie, wenn ich das sage«, sagt der andere, breiter an Statur und von stärker behaarter Haut als Yossele, und legt die Hand aufs Herz, »aber das kann nie genug sein.«

Landsman fragt Berko: »Hast du so viel Geld dabei?«

Berko stößt Landsman mit dem Ellenbogen in die Seite. Landsman ist in seinen ersten Dienstjahren nie bei den Schwarzhüten Streife gegangen, musste sich nie über einen trüben Meeresgrund aus Schweigen und leeren Blicken tasten, die ein U-Boot zerstören können. Landsman weiß einfach nicht, wie man angemessen Respekt erweist.

»Komm, Yossele! Shmerl, mein Lieber«, schmeichelt Berko. »Ich muss nach Hause an den Tisch. Lasst uns rein!«

Yossele zupft an dem kalbsbratenfarbenen Polster unter seinem Kinn. Dann beginnt der andere mit gedämpfter, gleichmäßiger Stimme zu sprechen. Der Bik trägt, verborgen hinter einer kastanienbraunen gekringelten Schläfenlocke, ein Headset mit Mikro und Knopf im Ohr.

»Ich soll mich höflichst erkundigen«, sagt der Bik nach einer Weile, und die Macht des Befehls huscht über seine Züge, macht sie weich und seine Ausdrucksweise gleichzeitig steif, »in welcher Angelegenheit die ehrenwerten Herren so spät am Freitagnachmittag zum Haus des Rebbes möchten.«

»Idioten!«, sagt Zimbalist — er hat einen Schluck Wodka intus — und jagt die Treppe hinauf wie ein närrischer Bär auf einem Einrad. Er greift nach den Aufschlägen von Yossele Rudashevskys Mantel und tanzt mit ihnen, links und rechts, Zorn und Trauer. »Sie sind wegen Mendele hier!«

Die Männer vor Shpilmans Haus haben den Auftritt murmelnd kommentiert und kritisiert, doch nun sind alle still. Das Leben pfeift aus den Lungen der Umstehenden, rasselt im Rotz ihrer Nasen. Die Hitze der Laterne lässt den Schnee verdampfen. Mit hellem Klirren scheint die Luft zu zersplittern wie eine Welt aus winzigen Fenstern. Und Landsman spürt etwas, das in ihm den Wunsch aufkommen lässt, sich die Hand in den Nacken zu legen. Er ist ein Händler für Entropie und ein Ungläubiger aus Neigung und von Berufs wegen. Für ihn ist der Himmel Kitsch, Gott ein Wort und die Seele höchstens eine Aufladestation für die eigenen Batterien. Doch in der dreisekündigen Stille, die auf den von Zimbalist laut ausgerufenen Namen vom verlorenen Sohn des Rebbes folgt, hat Landsman das Gefühl, etwas flattere zwischen ihnen herunter. Senke sich über die Männerschar, streife sie mit einem Flügel. Vielleicht ist es nur die von einem zum anderen springende Erkenntnis, warum diese beiden Beamten der Mordkommission zu dieser Uhrzeit aufgetaucht sein müssen. Oder es ist die alte Zauberkraft eines Namens, auf dem einst die kühnsten Hoffnungen ruhten. Oder vielleicht braucht Landsman einfach nur eine ordentliche Mütze Schlaf in einem Hotel ohne tote Juden.

Yossele dreht sich zu Shmerl um, die teigige Stirn in Falten gelegt, und hält Zimbalist mit der hirnlosen Zärtlichkeit eines brutalen Mannes fest. Shmerl spricht noch ein paar Silben mehr ins Herz des Hauses vom Verbover Rebbe. Er schaut nach Osten, schaut nach Westen. Er stimmt sich mit dem Mandolinenspieler oben auf dem Dach ab; auf dem Dach ist immer ein Mann mit einer halb automatischen Mandoline. Dann schiebt er langsam die schwere Holztür auf. Yossele setzt den alten Zimbalist mit einem Klimpern der Schuhschnallen ab und tätschelt ihm die Wange.

»Bitte sehr, Detectives«, sagt er.

Sie treten in einen getäfelten Flur, am hinteren Ende eine Tür, links eine in den ersten Stock führende Holztreppe. Die Treppe und die Stufen, die Vertäfelung, selbst die Bodendielen sind aus den großen Brettern einer einzigen Kiefernart geschnitten, Butterfarben und astig. Entlang der Wand gegenüber der Treppe zieht sich eine niedrige Bank, ebenfalls aus Astkiefer, auf der ein langes violettes Samtkissen liegt, stellenweise glänzend abgewetzt, sechsmal rund eingedellt von Verbover Hinterbacken.

»Die geschätzten Herren warten bitte hier«, sagt Shmerl.

Er kehrt mit Yossele zurück auf seinen Posten und überlässt Landsman und Berko dem steten, aber gleichgültigen Blick eines dritten klotzigen Rudashevskys, der sich am Treppenabsatz gegen das Geländer lehnt.

»Setzen Sie sich, Professor«, sagt der Innen-Rudashevsky.

»Danke«, erwidert der. »Aber ich möchte mich nicht setzen.«

»Ist alles in Ordnung, Professor?«, fragt Berko und legt die Hand auf den Arm des Mejwens.

»Eine Squashwand«, sagt Zimbalist wie als Antwort auf die Frage. »Wer spielt denn heute noch Squash?«

Da fällt Berko Zimbalists Manteltasche ins Auge. Landsman interessiert sich ganz plötzlich für ein kleines Holzregal an der Wand neben der Tür, gut befüllt mit bunten Hochglanzbroschüren. Eine trägt den Titel Wer ist der Verbover Rebbe? und teilt ihm mit, dass sie sich im offiziellen oder zeremoniellen Eingangsbereich des Hauses befinden und die Familie weiter hinten lebt und kommt und geht, genau wie im Hause des Präsidenten von Amerika. Die zweite Broschüre zum Mitnehmen heißt Fünf große Wahrheiten und fünf große Lügen über den Verbover Chassidismus.

»Ich hab den Film gesehen«, sagt Berko, über Landsmans Schulter spähend.

Die Stufen quietschen. Als würde er den nächsten Gang des Abendessens ankündigen, murmelt der Rudashevsky:

»Rabbi Baronshteyn.«

Landsman kennt Baronshteyn nur vom Namen. Ebenfalls ein Wunderkind, aber zusätzlich zu seiner Smicha mit einem Abschluss in Jura. Er hat eine der acht Töchter des Rebbes geehelicht. Er wird niemals fotografiert und verlässt Verbov Island nie, es sei denn, man glaubt den Geschichten, dass er um Mitternacht in wanzenverseuchte Motels in Süd-Sitka schleicht, um persönliche Vergeltung für einen Lotteriebetrug oder einen Schlosser zu fordern, der einen Auftragsmord verpatzt hat.

»Detective Shemets, Detective Landsman. Ich bin Aryeh Baronshteyn, der Gabbai des Rebbes.«

Landsman ist überrascht, wie jung er ist, nach dem Äußeren zu urteilen, um die dreißig. Eine hohe, schmale Stirn und harte schwarze Augen wie zwei Steine auf einem Grab. Seine mädchenhaften Lippen tarnt er hinter der männlichen Zierde eines König-Salomon-Bartes, gleichmäßig grau meliert gaukelt er Reife vor. Seine Schläfenlocken hängen ordentlich und schlaff herunter. Er gibt sich selbstverleugnend, doch seine Kleidung verrät die alte Verbover Liebe zum Protzen. Seine Waden in den seidigen Sockenhaltern und den weißen Strümpfen sind drall und muskulös. Die langen Füße sind in gebürstete schwarze Slipper aus Baumwollsamt gehüllt. Der Gehrock sieht aus wie frisch maßgefertigt von der Nadel von Moses and Sons auf der Asch Street. Nur das schlichte Strickkäppchen wirkt bescheiden. Darunter schimmert Baronshteyns raspelkurzes Haar, das dem Draht einer Schleifmaschine gleicht. Sein Gesicht zeigt keine Spur von Argwohn, aber Landsman kann sehen, an welchen Stellen sie sorgfältig ausradiert wurde.

»Reb Baronshteyn«, murmelt Berko und nimmt seinen Hut ab. Landsman tut es ihm nach.

Baronshteyn behält die Hände in den Taschen seiner Jacke, einem Satingehrock mit Veloursaufschlägen und Pattentaschen. Er bemüht sich, locker zu wirken, aber manche Männer wissen einfach nicht, wie sie mit den Händen in den Taschen herumstehen und dabei natürlich aussehen sollen.

»Was wollen Sie hier?«, fragt er. Demonstrativ schaut er auf die Uhr, stößt sie gerade lange genug unter der Manschette seines kurzfaserigen Baumwollhemds hervor, dass sie den Namen »Patek Phillipe« auf dem Ziffernblatt lesen können. »Es ist schon sehr spät.«

»Wir sind hier, um mit Rebbe Shpilman zu sprechen, Rabbi«, sagt Landsman. »Wenn Ihre Zeit so wertvoll ist, dann wollen wir sie sicherlich nicht damit verschwenden, mit Ihnen zu reden.«

»Es ist nicht meine Zeit, von der ich befürchte, dass Sie verschwendet wird, Detective Landsman. Und ich kann Ihnen auch sofort sagen, dass Sie nicht lange in diesem Haus bleiben werden, wenn Sie hier die respektlose Haltung und das schändliche Benehmen an den Tag legen möchten, für das Sie berüchtigt sind. Haben wir uns verstanden?«

»Ich glaube, Sie verwechseln mich mit dem anderen Detective Meyer Landsman«, sagt Landsman. »Ich bin derjenige, der nur seine Arbeit macht.«

»Dann sind Sie im Zuge einer Mordermittlung hier? Darf ich fragen, inwiefern das den Rebbe betrifft?«

»Wir müssen wirklich mit dem Rebbe persönlich sprechen«, sagt Berko. »Wenn er wünscht, dass Sie dabei sind, dürfen Sie gerne bleiben. Aber bei allem Respekt, Rabbi, wir sind nicht hier, um Ihre Fragen zu beantworten. Und wir sind nicht hier, um irgendjemandes Zeit zu verschwenden.«

»Ich bin nicht nur sein Berater, Detective, ich bin auch der Anwalt des Rebbes. Das wissen Sie.«

»Das ist uns bekannt, Sir.«

»Mein Büro ist auf der anderen Seite des Platzes«, sagt Baronshteyn, geht zur Haustür und hält sie auf wie ein gnädiger Portier. Durch den Spalt sieht man Schnee fallen, er glüht im Gaslicht wie ein nicht enden wollender Münzregen im Jackpot. »Ich bin überzeugt, dass ich all Ihre Fragen beantworten kann.«

»Baronshteyn, du Schnösel! Aus dem Weg!«

In seinem weiten, räudigen Mantel springt Zimbalist mit seinem Dunst von Mottenkugeln und Trauer auf die Füße, und der Hut rutscht ihm übers Ohr.

»Professor Zimbalist.« Baronshteyns Ton ist warnend, aber sein Blick wird scharf, als er die ruinierte Gestalt des Grenz-Mejwens registriert. Es könnte sein, dass er Zimbalist noch nie zuvor in Zusammenhang mit einer Gefühlsregung gesehen hat. Das Schauspiel weckt erkennbar sein Interesse. »Ich bitte Sie!«

»Sie haben versucht, seinen Platz einzunehmen. Gut, jetzt haben Sie ihn. Was ist das für ein Gefühl?« Zimbalist wankt einen Schritt auf den Gabbai zu. Es müssen alle möglichen Kordeln und Stolperdrähte kreuz und quer durch den Raum gespannt sein. Aber diesmal scheint der Grenz-Mejwen seine Landkarte verlegt zu haben. »Er ist auch jetzt noch lebendiger als Sie es je sein werden, Sie Stint, Sie Wachsfigur!«

Zimbalist stürzt an Berko und Landsman vorbei und greift nach dem Geländer oder nach der Kehle des Gabbais. Baronshteyn zuckt mit keiner Wimper. Berko packt nach dem Gürtel in der Taille des Bärenfellmantels und zieht Zimbalist zurück.

»Wer?«, sagt Baronshteyn. »Von wem reden Sie?« Er schaut Landsman an. »Detective, ist etwas mit Mendel Shpilman passiert?«

Später wird Landsman Baronshteyns Auftritt mit Berko besprechen, aber sein erster Eindruck ist, dass diese Möglichkeit Baronshteyn zu überraschen scheint.

»Professor«, sagt Berko. »Wir wissen Ihre Hilfe zu schätzen. Vielen Dank.« Er zieht den Reißverschluss von Zimbalists Strickjacke hoch und knöpft ihm die Jacke zu. Er klappt eine Seite des Bärenfellmantels über die andere und verknotet den Gürtel fest in der Taille. »Gehen Sie jetzt bitte nach Hause. Yossele, Shmerl, einer von euch bringt den Professor bitte nach Hause, bevor sich seine Frau Sorgen macht und die Polizei ruft.«

Yossele greift Zimbalist unter den Arm, und sie gehen die Treppe hinunter. Berko schließt die Tür gegen die Kälte.

»Bringen Sie uns zum Rebbe, Herr Anwalt«, sagt er. »Unverzüglich.«

16.

Rabbi Heskel Shpilman ist ein deformierter Berg, ein riesiges, auseinandergelaufenes Dessert, ein Comichaus mit geschlossenen Fenstern, in dem der Wasserhahn aufgedreht wurde. Ein kleines Kind hat ihn zusammengeklebt, nein, eine ganze Kinderbande, blinde Waisenkinder, die noch nie einen Menschen gesehen haben. Sie haben den Teig für seine Arme und Beine an den Teigklumpen des Rumpfes gepappt und dann den Kopf obendrauf gedrückt. Ein Millionär könnte seinen Rolls-Royce mit dem edlen schwarzen Samt- und Seidenstoff von des Rebbes Gehrock und Hose auskleiden. Es würde den Hirnschmalz der achtzehn größten Weisen der Geschichte fordern, um die Argumente für und wider die Einordnung seines gewaltigen Hinterns als Wesen aus der Tiefe, als menschengeschaffenes Gebilde oder als einen unvermeidlichen Akt Gottes zu disputieren. Ob er aufsteht oder sich hinsetzt, es macht keinen Unterschied für das, was man vor sich hat.

»Ich schlage vor, dass wir auf Höflichkeiten verzichten«, sagt der Rebbe.

Seine Stimme ist hoch, drollig, die Stimme des wohlproportionierten Gelehrten, der er einmal gewesen sein muss. Landsman hat gehört, er leide an einer Drüsenstörung. Er hat gehört, dass der Verbover Rebbe sich trotz seiner Körpermasse wie ein Märtyrer ernährt — Brühe, Rüben und eine tägliche Brotkruste. Doch Landsman stellt sich lieber vor, dass die Gase von Gewalt und Korruption diesen Mann so aufgebläht haben. Dass sein Bauch voller Knochen und Schuhe und Menschenherzen ist, halb verdaut in der Säure seiner Gesetze. »Nehmen Sie Platz und sagen Sie das, was zu sagen Sie gekommen sind.«

»Das können wir tun, Rebbe«, sagt Berko.

Jeder von ihnen nimmt einen Stuhl vor dem Schreibtisch des Rebbes in Beschlag. Das Büro ist k. u. k. Monarchie in Reinkultur. An den Wänden stehen Kolosse aus Mahagoni, Ebenholz und Vogelaugenahorn, reich verziert wie Kathedralen. In der Ecke neben der Tür erhebt sich die berühmte Verbover Uhr, eine Überlebende der alten ukrainischen Heimat. Erbeutet beim Fall Russlands und nach Deutschland zurücktransportiert, überstand sie 1946 den Abwurf der Atombombe auf Berlin und alle Irrungen der darauf folgenden Zeit. Sie läuft gegen den Uhrzeigersinn und ist verkehrt herum mit den ersten zwölf Buchstaben des hebräischen Alphabets beschriftet. Ihre Rettung stellte einen Wendepunkt im Schicksal des Verbover Hofs dar und markierte den Beginn von Heskel Shpilmans Aufstieg. Baronshteyn nimmt eine Position rechts hinter dem Rebbe ein, an einem Pult, wo er mit einem Auge die Straße im Blick behält, mit dem anderen jedwedes Buch, das nach Präzedenzfällen und Rechtfertigungen durchsucht werden muss, und mit dem dritten, einem lidlosen inneren Auge, den Mann, der den Mittelpunkt seiner Existenz darstellt.

Landsman räuspert sich. Er ist der Ranghöhere, dies ist seine Aufgabe. Verstohlen blickt er erneut zur Verbover Standuhr hinüber. Es bleiben noch sieben Minuten in diesem jämmerlichen Abklatsch einer Woche.

»Bevor Sie anfangen, meine Herren«, sagt Aryeh Baronshteyn. »Ich möchte nur fürs Protokoll festhalten, dass ich in meiner Funktion als Anwalt von Rabbi Shpilman anwesend bin. Rebbe, wenn Sie irgendwelche Zweifel hegen, ob Sie eine bestimmte Frage der Detectives beantworten sollen, sehen Sie bitte von einer Antwort ab und erlauben Sie mir, die beiden zu bitten, die Frage zu klären oder umzuformulieren.«

»Das hier ist kein Verhör, Rabbi Baronshteyn«, sagt Berko.

»Du bist hier willkommen, mehr als willkommen, Aryeh«, sagt der Rebbe. »Und ich bestehe auf deiner Anwesenheit. Aber als mein Gabbai und mein Schwiegersohn. Nicht als mein Anwalt. Für das hier brauche ich keinen Anwalt.«

»Wenn Sie gestatten, lieber Rebbe. Diese Männer sind von der Mordkommission. Sie sind der Verbover Rebbe. Wenn Sie keinen Anwalt brauchen, dann braucht ihn niemand. Und glauben Sie mir, jeder braucht einen Anwalt.« Baronshteyn zieht einen Block gelber Blätter aus dem Innern des Pults, in dem er zweifelsohne seine Phiolen mit Curare und Halsketten mit abgetrennten Menschenohren aufbewahrt. Er schraubt die Kappe eines Füllers ab. »Ich mache mir zumindest Notizen. Auf« — trockener Scherz -»einem Schreibblock vom Gericht.«

Der Verbover Rebbe betrachtet Landsman aus dem tiefen Innern seiner fleischigen Redoute. Er hat helle Augen, ein unbestimmter Farbton zwischen Grün und Gold. Ganz anders als die dunklen Kiesel, die die Trauernden auf Baronshteyns Grabsteinfratze abgelegt haben. Väterliche Augen, die leiden und vergeben und spötteln. Sie wissen, was Landsman verloren, was er verspielt hat, was ihm durch Zweifel, Ungläubigkeit und die erstrebte Härte durch die Finger geglitten ist. Sie verstehen den wütenden Taumel, der die Flugbahn von Landsmans guten Absichten verfälscht. Sie begreifen Landsmans Liebesbeziehung zur Gewalt, seine wilde Bereitschaft, den eigenen Körper nach draußen auf die Straße zu stellen, um zu brechen und gebrochen zu werden. Bis zu dieser Minute verstand Landsman nicht, womit er und jeder Nos im Distrikt, die russischen Schtarker und Westentaschen-Mafiosi, das FBI, die Steuerbehörde und das Justizministerium zu tun hatten. Nie verstand er, warum die anderen Sekten die Gegenwart dieser frommen Verbrecher in ihrer Mitte tolerieren und sich ihnen sogar beugen konnten. Mit diesen Augen kann man Menschen lenken. Man kann sie an den Rand jedes beliebigen Abgrunds führen.

»Sagen Sie mir, warum Sie hier sind, Detective Landsman«, sagt der Rebbe.

Durch die Tür des Vorzimmers dringt das gedämpfte Klingeln eines Telefons. Auf dem Schreibtisch des Rebbes steht kein Apparat, es ist auch keiner in Sicht. Mit einer halben Augenbraue und einem unbedeutenden Augenmuskel bringt der Rebbe die Großtat zustande, Baronshteyn ein Signal zu geben, der daraufhin den Stift niederlegt. Während er den schwarzen Sendbrief seines Körpers durch den Schlitz der Bürotür schiebt, wird das Schrillen kurz lauter und schwillt dann wieder ab. Wenig später hört Landsman Baronshteyn am Telefon sprechen. Seine Worte sind undeutlich, der Tonfall knapp, vielleicht sogar schroff.

Der Rebbe ertappt Landsman bei seinem Lauschversuch und zwingt seine Augenbrauen zu noch mühsameren Bewegungen.

»Also«, sagt Landsman. »Es geht um Folgendes: Zufälligerweise, Rabbi Shpilman, wohne ich im Zamenhof. Das ist ein Hotel, kein besonders gutes, unten auf der Max Nordau Street. Gestern Abend klopfte der Nachtportier bei mir an und fragte, ob ich wohl einmal mit nach unten kommen könne, um mir einen anderen Hotelgast anzusehen. Er machte sich Sorgen um diesen Gast. Er hatte Angst, der Jude könne sich eine Überdosis gespritzt haben. Deshalb verschaffte er sich Zugang zu dessen Zimmer. Tatsächlich stellte sich heraus, dass der Mann tot war. Er war unter falschem Namen angemeldet. Er hatte keinen Ausweis bei sich. Aber im Zimmer fanden sich ein paar Hinweise auf dies und das. Und heute verfolgten mein Kollege und ich einen dieser Hinweise, und er führte uns hierher. Zu Ihnen. Wir glauben nämlich, nein, wir sind uns so gut wie sicher, dass der Tote Ihr Sohn ist.«

Gerade als Landsman die Nachricht verkündet, kommt Baronshteyn zurück ins Zimmer geschlichen. Vom Objektiv seines Gesichts wurden wie mit einem weichen Tuch alle gefühlsbelasteten Abdrücke und Schmierflecken gewischt.

»So gut wie sicher«, sagt der Rebbe ein wenig stumpf, und nichts bewegt sich in seinem Gesicht außer dem Licht in seinen Augen. »Ich verstehe. So gut wie sicher. Hinweise auf dies und das.«

»Wir haben ein Foto«, sagt Landsman. Abermals holt er wie ein zorniger Zauberer Shpringers Polaroid des toten Juden aus 208 hervor. Er will es dem Rebbe hinüberreichen, doch dann lässt Rücksicht, ein unerwartetes Zittern von Mitleid, seine Hand innehalten.

»Vielleicht wäre es am besten«, sagt Baronshteyn, »wenn ich …«

»Nein«, sagt der Rebbe.

Er nimmt das Foto von Landsman entgegen und hält es sich mit beiden Händen sehr nah vors Gesicht, bis kurz vor den rechten Augapfel. Er ist lediglich kurzsichtig, aber etwas an dieser Geste ist vampirisch, so als versuche er, mit dem Fischmund seines Auges den Lebenssaft aus dem Foto zu saugen. Er ermisst es von oben bis unten und von einer Seite zur anderen. Sein Gesichtsausdruck bleibt unverändert. Dann lässt er das Bild in den Wirrwarr auf seinem Schreibtisch sinken und schnalzt mit der Zunge, einmal. Baronshteyn tritt vor, um ebenfalls einen Blick auf die Aufnahme zu werfen, aber der Rebbe winkt ihn mit den Worten fort: »Er ist es.«

Landsman beobachtet Baronshteyn, seine Instrumente sind auf höchste Empfindlichkeit gestellt, größte Blende, darauf ausgerichtet, auch noch die schwächste Strahlung von Bedauern oder Genugtuung zu erhaschen, die den einzigartigen Regungen auf dem Grunde von Baronshteyns Augen entfliehen mag. Und da ist es: Sie werden von einem kurzen Leuchtspurbogen von Partikeln erhellt. Doch was Landsman in dem Moment wahrnimmt, ist, zu seiner Überraschung, nur Enttäuschung. Kurz gleicht Aryeh Baronshteyn einem Mann, der sein Blatt nutzloser Karos betrachtet, weil er gerade ein Pikass gezogen hat. Er atmet kurz aus, ein halber Seufzer, und geht langsam zurück an sein Pult.

»Erschossen«, sagt der Rebbe.

»Ein Schuss«, sagt Landsman.

»Von wem, bitte?«

»Nu, das wissen wir nicht.«

»Zeugen?«

»Bisher nicht.«

»Motiv?«

Landsman verneint und wendet sich um Bestätigung an Berko, auch der schüttelt trübe den Kopf.

»Erschossen.« Der Rebbe schüttelt ebenfalls den Kopf, als staune er: Was soll man dazu sagen* Dann sagt er ohne erkennbare Änderung seiner Stimme oder seines Verhaltens: »Geht es Ihnen gut, Detective Shemets?«

»Ich kann nicht klagen, Rabbi Shpilman.«

»Frau und Kinder? Gesund und munter?«

»Könnte schlimmer sein.«

»Zwei Söhne, meine ich, einer noch ein Säugling.«

»Stimmt, wie immer.«

Die massigen Wangen beben billigend oder befriedigt. Der Rebbe murmelt einen traditionellen Segen für Berkos kleine Jungen. Dann treibt sein Blick in Landsmans Richtung, und als er ihn anschaut, durchfährt Landsman eine stechende Panik. Der Rebbe weiß alles. Er weiß von dem Mosaikchromosom und dem Jungen, den Landsman opferte, um seine mühsam erworbenen Illusionen über den Hang des Lebens, alles falsch zu machen, aufrechtzuerhalten. Und jetzt wird der Rebbe auch einen Segen für Django sprechen. Aber der Rebbe sagt nichts, und die Rädchen in der Verbover Uhr drehen sich weiter. Berko wirft einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr; Zeit zu gehen, nach Hause zu Kerzen und Wein. Zu seinen gesegneten Jungs, die schlimmer sein könnten. Zu Ester-Malke mit dem Brotzopf eines dritten Kindes im Leib. Berko und Landsman haben keinen Dispens, nach Sonnenuntergang hierbleiben zu dürfen, in einem Fall zu ermitteln, den es offiziell gar nicht mehr gibt. Kein Leben steht auf dem Spiel. Es gibt nichts zu tun, niemanden zu retten, weder die Jids im Zimmer noch den Jid, das arme Ding, der sie hergeführt hat.

»Rabbi Shpilman?«

»Ja, Detective Landsman?«

»Geht es Ihnen gut?«

»Sehe ich denn so aus, als ginge es mir gut, Detective Landsman?«

»Ich hatte erst jetzt die Ehre, Sie kennenzulernen«, sagt Landsman vorsichtig, mehr aus Rücksicht auf Berkos Feingefühl denn auf das des Rabbis oder seines Amtes. »Aber um ehrlich zu sein, sehen Sie ganz in Ordnung aus.«

»Auf verdächtige Art und Weise? Belastet mich das irgendwie?«

»Bitte, Rebbe, keine Scherze«, sagt Baronshteyn.

»Was das angeht«, sagt Landsman zum Rebbe, sein Sprachrohr ignorierend, »wage ich keine Einschätzung.«

»Mein Sohn ist für mich seit vielen Jahren tot, Detective. Seit vielen Jahren. Ich habe vor langer Zeit meine Kleidung zerrissen und das Kaddisch gesagt und eine Kerze für ihn entzündet.« Die Worte handeln von Zorn und Bitterkeit, aber die Tonlage des Rebbes ist atemberaubend frei von Emotionen. »Was Sie im Hotel Zamenhof gefunden haben — war es das Zamenhof? Was Sie da gefunden haben, wenn er es denn war, ist nur eine Hülle. Der Kern wurde schon vor langer Zeit herausgeschnitten und verdorben.«

»Eine Hülle«, sagt Landsman. »Verstehe.«

Er weiß, wie schwer es sein kann, einen Heroinabhängigen gezeugt zu haben. Diese Kühle hat er schon öfter erlebt. Aber irgendetwas an diesen Jids, die ihre Aufschläge zerreißen und für lebende Kinder Schiwa sitzen, wurmt ihn. Es kommt ihm vor, als verhöhnten sie die Lebenden und die Toten.

»Nun gut. Soweit ich gehört habe«, fährt er fort, »und ich behaupte bestimmt nicht, das zu verstehen, aber Ihr Sohn soll — als kleiner Junge —, da hat es gewisse, nun, Anzeichen gegeben oder … dass er vielleicht … ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe. Der Tzaddik ha-Dor, heißt das so? Dass er sich unter entsprechenden Bedingungen, wenn die Juden seiner Generation es wert sind, dass er sich dann zu erkennen gibt. Als, ähm, als Messias.«

»Das ist lächerlich, nu, Detective Landsman«, sagt der Rebbe. »Bei der Vorstellung müssen Sie selbst lächeln.«

»Überhaupt nicht«, sagt Landsman. »Aber wenn Ihr Sohn Messias war, dann sind wir wohl alle in Schwierigkeiten. Weil er nämlich in einer Schublade unten im Kühlkeller des Krankenhauses liegt.«

»Meyer!«, sagt Berko.

»Bei allem Respekt«, fügt Landsman hinzu.

Zuerst antwortet der Rebbe nicht, und als er schließlich spricht, tut er das mit merklicher Sorgfalt.

»Uns wird vom Baal Sehern Tow, gesegnet sei sein Gedenken, gelehrt, dass ein Mann mit dem Potenzial von Messias in jede Generation geboren wird«, sagt er. »Das ist der Tzaddik ha-Dor. Nun, Mendel. Mendele, Mendele.«

Er schließt die Augen. Vielleicht erinnert er sich. Vielleicht kämpft er gegen die Tränen. Er schlägt die Augen wieder auf. Sie sind trocken, und er erinnert sich.

»Als Kind hatte Mendel einen bemerkenswerten Charakter. Ich spreche nicht von Wundern. Wunder sind eine Last für einen Tzaddik, kein Beweis. Wunder beweisen nichts, nur solchen Menschen, die sich ihren Glauben billig erkaufen, Sir. Es war etwas in Mendele. Da war ein Feuer. Wir leben an einem kalten, düsteren Ort, meine Herren. An einem grauen, feuchten Ort. Doch von Mendele gingen Licht und Wärme aus. Man wollte in seiner Nähe sein. Um sich die Hände zu wärmen, das Eis am Bart schmelzen zu lassen. Um die Dunkelheit für ein, zwei Minuten zu vertreiben. Doch hinterher blieb man warm, und es schien einem, als sei ein wenig mehr Licht in der Welt, vielleicht das Licht einer Kerze. Und dann merkte man, dass das Feuer die ganze Zeit in einem selbst gewesen war. Und das war das Wunder. Nur das.« Er streicht sich über den Bart, zupft daran, als versuche er an etwas zu denken, das er vergessen haben mag. »Sonst nichts.«

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«, fragt Berko.«

»Vor dreiundzwanzig Jahren«, sagt der Rebbe, ohne zu zögern. »Am 20. Ellul. Seitdem hat keiner in diesem Haus mehr mit ihm gesprochen oder ihn gesehen.«

»Nicht einmal seine Mutter?«

Die Frage überrascht alle, selbst Landsman, der sie gestellt hat.

»Nehmen Sie an, Detective Landsman, dass meine Frau jemals versuchen würde, meine Autorität in dieser oder einer anderen Sache zu untergraben?«

»Ich nehme alles an, Rabbi Shpilman«, sagt Landsman. »Ich will damit gar nichts sagen.«

»Sind Sie mit irgendwelchen Vorstellungen hergekommen«, sagt Baronshteyn, »wer Mendel umgebracht haben könnte?«

»Genau genommen —«, beginnt Landsman.

»Genau genommen«, unterbricht ihn der Verbover Rebbe. Er rupft ein Blatt Papier aus dem Chaos auf seinem Schreibtisch, Traktate, Bekanntmachungen und Bannsprüche, Geheimdokumente, Additionsmaschinenstreifen, Überwachungsprotokolle der Gewohnheiten von Zielpersonen. Mit einem kurzen Posaunenstoß bringt er das Blatt in einen Abstand, den er fokussieren kann. Das Fleisch seines rechten Arms schlackert im Weinschlauch seines Ärmels. »Genau genommen dürfen diese beiden Beamten der Mordkommission in dieser Sache überhaupt nicht ermitteln. Oder irre ich mich?«

Er legt das Blatt fort, und Landsman muss sich wundern, dass er in den Augen des Rebbes je etwas anderes sehen konnte als zehntausend Meilen gefrorenen Meeres. Landsman ist schockiert, wurde über Bord ins kalte Wasser geworfen. Um nicht unterzugehen, klammert er sich an den Ballast seines Zynismus. Kam der Befehl, den Lasker-Fall mit einem schwarzen Aktenreiter zu versehen, vielleicht direkt von Verbov Island? Hat Shpilman die ganze Zeit gewusst, dass sein Sohn tot ist, ermordet im Zimmer 208 des Hotel Zamenhof? Hat er den Mord selbst in Auftrag gegeben? Werden die Tätigkeiten und Anweisungen der Mordkommission von Sitka Central ihm routinemäßig zur Prüfung vorgelegt? Das alles wären interessante Fragen, wenn Landsman sich denn das Herz fassen und sie auch stellen könnte.

»Was hat er getan?«, sagt er schließlich. »Warum war er für Sie schon lange tot? Was wusste er? Und wo wir schon dabei sind: Was wissen Sie, Rebbe? Rabbi Baronshteyn? Ich weiß, dass eure Leute etwas laufen haben. Ich weiß nicht, was für einen Deal ihr ausgeknobelt habt, aber wenn ich mich auf eurer hübschen Insel umschaue, dann sehe ich, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen, dass ihr ordentlich was an den Beinen habt.«

»Meyer!«, sagt Berko mit warnendem Unterton.

»Kommen Sie nie wieder her, Landsman«, sagt der Rebbe. »Belästigen Sie nie wieder jemanden aus diesem Haushalt und keinen der Menschen auf dieser Insel. Halten Sie sich fern von Zimbalist. Und halten Sie sich fern von mir. Wenn mir zu Ohren kommt, dass Sie auch nur einen meiner Leute gebeten haben, Ihnen Feuer zu geben, kassiere ich Sie und Ihre Dienstmarke ein. Ist das klar?«

»Bei allem Respekt —«, beginnt Landsman.

»In Ihrem Fall eine leere Phrase, Detective.«

»Abgesehen davon«, sagt Landsman, sich langsam erholend. »Wenn ich jedes Mal einen Dollar bekäme, wenn mich irgendein Schtarker mit Drüsenproblem von einem Fall abzuhalten versucht, Rabbi Shpilman, bei allem Respekt, dann müsste ich nicht hier sitzen und mir die Drohungen eines Mannes anhören, der nicht mal eine einzige Träne um den Sohn vergießen kann, dem er mit Sicherheit zu einem frühen Tod verhalf. Ob er nun vor dreiundzwanzig Jahren starb oder letzte Nacht.«

»Bitte verwechseln Sie mich nicht mit einem billigen Mobster von der Hirshbeyn Avenue«, sagt der Rebbe. »Ich drohe Ihnen nicht.«

»Nein? Was ist das sonst, eine Segnung?«

»Ich sehe Sie an, Detective Landsman. Ich begreife, dass Sie, genau wie mein Sohn, der arme Tropf, vom Heiligen Namen nicht mit dem großartigsten aller Väter versehen wurden.«

»Rav Haskel!«, ruft Baronshteyn.

Aber der Rabbi überhört seinen Gabbai und fährt fort, bevor Landsman fragen kann, was er sich einbildet, über den armen alten Isidor zu wissen.

»Ich begreife, dass Sie vielleicht einmal, wie Mendel, viel mehr waren, als Sie heute sind. Sie waren vielleicht mal ein guter Schammes. Aber ich bezweifle, dass Sie je als weiser Mann gegolten haben.«

»Ganz im Gegenteil«, sagt Landsman.

»Also. Glauben Sie mir bitte, wenn ich Ihnen sage, dass Sie eine andere Verwendung für die Zeit finden müssen, die Ihnen noch bleibt.«

In der Verbover Uhr hebt ein uraltes System aus Hämmerchen und Glocken zu einer noch älteren Melodie an, die in jedem jüdischen Heim und jedem Gebetshaus die Braut des Sabbats willkommen heißt.

»Die Zeit ist um«, sagt Baronshteyn. »Meine Herren?«

Die Polizisten stehen auf, und die Männer wünschen einander die Freude des Sabbats. Dann setzen die Beamten ihre Hüte auf und gehen zur Tür.

»Wir brauchen jemanden, der die Leiche identifiziert«, sagt Berko.

»Es sei denn, es ist Ihnen lieber, wenn wir ihn einfach draußen auf die Straße stellen«, sagt Landsman.

»Wir schicken morgen jemanden vorbei«, sagt der Rebbe. Er dreht sich in seinem Sessel um und wendet ihnen den Rücken zu. Er senkt den Kopf und greift nach zwei Spazierstöcken, die hinter ihm an einem Haken an der Wand hängen. Die Stöcke haben einen silbernen Knauf, goldgetrieben. Der Rebbe stößt sie in den Teppich und hievt sich mit dem Pfeifen eines uralten Mechanismus auf die Beine. »Wenn der Sabbat vorbei ist.«

Baronshteyn folgt ihnen die Treppe hinunter zu den Rudashevskys vor der Tür. Die Bodendielen des Arbeitszimmers über ihnen geben ein gequältes Knarren von sich. Die Männer hören das knappe Klopfen und das regentonnengleiche Schwappen der Rebbe’schen Schritte. Seine Familie wird sich im hinteren Teil des Hauses versammelt haben und auf ihn warten, damit er alle segnet.

Baronshteyn öffnet die Eingangstür des im ukrainischen Stil erbauten Hauses. Shmerl und Yossele treten in den Flur, Schnee auf den Hüten und Schultern, Schnee in den wintergrauen Augen. Die Brüder oder Cousins oder Cousinbrüder bilden zusammen mit dem Exemplar an der Treppe die Spitzen eines Dreiecks; eine dreifingrige Faust solider Rudashevskys um Landsman und Berko.

Baronshteyn schiebt sein schmales Gesicht an Landsman heran. Landsman verschließt seine Nasenlöcher gegen den Geruch von Tomatenkernen, Tabak und saurer Sahne. »Diese Insel ist klein«, sagt Baronshteyn. »Aber es gibt hier tausend Ecken, wo ein Nos, selbst ein hochdekorierter Schammes, sich verirren könnte. Seien Sie also vorsichtig, ja? Und einen schönen Sabbat Ihnen beiden.«

17.

Man sehe sich Landsman an: ein Hemdschoß hängt heraus, der schneebestäubte Filzhut ist nach links verrutscht, der Mantel baumelt an einem Daumen über der Schulter. Er klammert sich an einen himmelblauen Caféteria-Bon, als sei das der Riemen, der ihn auf den Füßen halte. Seine Wangen haben eine Rasur nötig. Sein Rücken macht ihn fertig. Aus Gründen, die er nicht versteht — oder vielleicht ohne Grund —, hat er seit halb zehn am Morgen keinen Alkohol mehr getrunken. In der verchromten, gekachelten Trostlosigkeit der Kafeteria Polar-Shtern um neun Uhr am Freitagabend ist er während eines Schneesturms der einsamste Jude im Distrikt Sitka. Er spürt, dass etwas Dunkles, Unwiderstehliches in ihm das Gewicht verlagert; hundert Tonnen schwarzer Erde auf einem Berghang schürzen die Röcke, um nach unten zu rutschen. Bei dem Gedanken an Essen, und sei es nur der Goldbarren von Nudelauflauf, das Kronjuwel der Kafeteria Polar-Shtern, wird Landsman übel. Doch er hat den ganzen Tag noch nichts gegessen.

In Wirklichkeit weiß Landsman natürlich, dass er längst nicht der einsamste Jude im Distrikt Sitka ist. Er verachtet sich selbst, überhaupt diese Ansicht zu hegen. Sein Selbstmitleid ist der Beweis, dass er im Spundloch kreist, sich nach innen und immer weiter nach unten schraubt, tief hinab. Um dieser Corioliskraft zu widerstehen, verlässt sich Landsman auf drei Strategien. Die erste ist Arbeit, aber die Arbeit ist jetzt offiziell ein Witz. Die zweite ist Alkohol. Der beschleunigt und verlängert den Sturz zwar nur und lässt Landsman tiefer sinken, aber wenigstens hilft er beim Vergessen. Die dritte Taktik ist, etwas zu essen. Deshalb trägt er seinen blauen Bon und sein Tablett zu der großen litauischen Dame mit dem Haarnetz, den Polyethylenhandschuhen und dem Metalllöffel hinter der Glastheke und reicht es hinüber.

»Die Käseblintzen bitte«, sagt er, obwohl er keine Käseblintzen will und sich überhaupt nicht die Mühe macht nachzusehen, ob sie heute auf der Speisekarte stehen. »Wie geht’s, Mrs. Nemintziner?«

Mrs. Nemintziner bugsiert drei pralle Blintzen auf einen weißen Teller mit einem blauen Randstreifen. Um die Abendmahlzeiten der einsamen Seelen von Sitka zu dekorieren, hat Mrs. Nemintziner mehrere Dutzend Scheiben sauer eingelegten Holzapfels auf Salatblättern vorbereitet. Sie verziert Landsmans Essen mit einem dieser Gestecke. Dann stanzt sie seinen Bon ab und stößt ihm den Teller entgegen.

»Wie soll’s mir schon gehen?«, sagt sie.

Landsman räumt ein, dass die Antwort auf diese Frage zu hoch für ihn ist. Er trägt sein Tablett mit den mit Hüttenkäse gefüllten Blintzen zu den Kaffeemaschinen und zapft sich einen Becher. Er reicht seinen gestanzten Bon und das Geld an die Kassiererin weiter, dann wandert er durch das Ödland des Essbereichs, vorbei an zwei Rivalen um den Titel des einsamsten Juden. Landsman steuert auf seinen bevorzugten Tisch am Fenster zu, wo er die Straße im Auge hat. Am Nebentisch hat jemand einen halb gegessenen Teller mit Corned Beef und Salzkartoffeln und ein halb leeres Glas hinterlassen, das offenbar schwarze Kirschlimonade enthält. Das verlassene Mahl, die befleckte, zerknitterte Serviette erfüllen Landsman mit der leichten Übelkeit böser Ahnungen. Aber es ist sein Tisch, und es steht nun mal fest, dass ein Nos gerne die Straße im Auge hat. Landsman setzt sich, stopft sich die Serviette in den Kragen, schneidet ein Käseblintzen auf und schiebt sich den Bissen in den Mund. Er kaut. Er schluckt. Braver Junge.

Einer seiner Rivalen heute Abend im Polar-Shtern ist ein Zocker unterster Schublade namens Penguin Simkowitz, der vor ein paar Jahren schlecht mit dem Geld eines anderen umging und so schlimm von Schtarkern zusammengeschlagen wurde, dass sein Hirn und seine Sprache beeinträchtigt sind. Der andere Rivale sitzt vor einem Teller Sahnehering, aber Landsman kennt ihn nicht. Die linke Augenhöhle des Jid ist hinter einem hautfarbenen Verband verborgen. Sein linkes Brillenglas fehlt. Die Behaarung beschränkt sich auf drei daunenweiche graue Flecken an der Stirn. Beim Rasieren hat der Mann sich in die Wange geschnitten. Als er anfängt, lautlos in den Sahnehering zu weinen, kippt Landsman seinen König um.

Dann erblickt er Buchbinder, den Archäologen des Wahns. Ein Zahnarzt. Sein Talent mit Zange und Wachsausschmelzverfahren brachte ihn auf klassische Zahnarztmanier dazu, sich einen feierabendgeeigneten Miniaturwahnsinn zuzulegen wie beispielsweise Schmuckherstellung oder Puppenhausvertäfelung. Aber dann ging es, wie es bei Zahnärzten manchmal der Fall ist, ein wenig mit Buchbinder durch. Der stärkste, älteste Wahn der Juden ergriff Besitz von ihm. Er begann die Utensilien und die Kleidung der alten Kohanim nachzubilden, der Hohepriester Jahwes. Zuerst maßstabsgetreu, aber bald in Originalgröße. Bluteimer, Fleischspieße, Ascheschaufeln, alles wie von Leviticus für die alten heiligen Grillfeste in Jerusalem vorgeschrieben. Früher hatte Buchbinder ein Museum, vielleicht gibt es das noch, oben, am heruntergekommenen Ende der Ibn-Ezra Street. Ein Ladenlokal in dem Gebäude, wo Buchbinder schlichten Juden die Zähne zog. Der aus Pappe nachgebaute Tempel Salomons im Schaufenster war unter einem Sandsturm von Staub begraben und mit Cherubim und toten Fliegen verziert. Oft wurde der Laden von Junkies der Nachbarschaft mutwillig zerstört. Wer in der Untershtot Streife ging, wurde regelmäßig gerufen, kam um drei Uhr morgens hin und traf Buchbinder an, weinend inmitten seiner zerstörten Schaukästen, und ein Scheißhaufen trieb in einem vergoldeten Kupferrauchfass des Hohepriesters.

Als Buchbinder Landsman sieht, kneift er die Augen argwöhnisch oder kurzsichtig zusammen. Auf der Rückkehr vom Männerklo zu seinem Teller mit Corned Beef und seiner Kirschlimonade bearbeitet er die Knöpfe seines Hosenstalls mit der Geistesabwesenheit eines Mannes, der sich mit einer sinnlosen Schlussfolgerung über die Welt beschäftigt. Buchbinder ist ein kräftiger Mann, ein Deutscher, gewandet in eine Strickjacke mit Raglanärmeln und Schärpe. Zwischen seinem gewölbten Bauch und der geknoteten Schärpe gibt es Hinweise auf vergangenen Hader, doch scheint man zu einem Einvernehmen gekommen zu sein. Eine Tweedhose, an den Füßen Wanderschuhe. Dunkelblonde Haare und ein Bart mit grauen und silbernen Einsprengseln. Eine silberne Schnalle hält eine bunt bestickte Jarmulke auf seinem Hinterkopf. Er wirft ein Lächeln in Landsmans Richtung, als ließe er einen Vierteldollar in den Becher eines Krüppels fallen, fischt einen klein gedruckten Wälzer aus seiner Jackentasche und setzt seine Mahlzeit fort. Er wiegt sich vor und zurück, liest und kaut, summt ein kleines Lied.

»Haben Sie immer noch dieses Museum, Herr Doktor?«, fragt Landsman.

Verdutzt schaut Buchbinder auf, versucht den störenden Fremden mit den Blintzen einzuordnen.

»Landsman, Sitka Central. Vielleicht erinnern Sie sich, ich habe früher —«

»Ach ja«, sagt Buchbinder mit dünnem Lächeln. »Wie geht es Ihnen? Wir sind ein Institut, kein Museum, aber das ist schon in Ordnung.«

»Entschuldigung.«

»Ist ja nichts passiert«, sagt er. Sein geschmeidiges Jiddisch wird gestützt von einem förmlichen Drahtgestell deutschen Akzents, an dem er und die anderen Jekkes selbst nach sechzig Jahren noch stur festhalten. »Ein häufiger Fehler.«

So häufig kann der auch wieder nicht sein, denkt Landsman, aber sagt: »Immer noch oben auf der Ibn-Ezra?«

»Nein«, sagt Dr. Buchbinder. Mit der Serviette wischt er sich einen Streifen braunen Senfs von den Lippen. »Nein, Sir, ich habe zugemacht. Offiziell und endgültig.«

Er redet geschwollen, fast feierlich, was Landsman angesichts des Inhalts seiner Erklärung sonderbar vorkommt.

»Harte Gegend«, versucht es Landsman.

»Oh, das waren Tiere«, sagt Buchbinder so fröhlich wie zuvor. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Male sie mir das Herz gebrochen haben.« Er stopft sich eine letzte Gabel Corned Beef in den Mund und unterzieht sie einer anständigen Zahnbehandlung. »Aber ich bezweifle, dass sie mich an meinem neuen Standort belästigen werden.«

»Und wo ist das?«

Buchbinder lächelt, betupft seinen Bart, schiebt sich vom Tisch zurück. Er hebt eine Augenbraue und behält die große Überraschung noch etwas länger für sich.

»Wo wohl?«, sagt er schließlich. »In Jerusalem.«

»Wow«, sagt Landsman und macht eine völlig unbewegte Miene. Die Regularien für die Aufnahme von Juden in Jerusalem hat Landsman noch nie gesehen, aber er ist sich ziemlich sicher, dass besessene religiöse Eiferer nicht ganz oben auf der Liste stehen. »Jerusalem, hm? Das ist weit weg.«

»Ja.«

»Mit Sack und Pack?«

»Mit dem ganzen Geschäft.«

»Kennen Sie dort jemanden?«

Es gibt noch Juden in Jerusalem, so wie es dort immer welche gegeben hat. Einige. Sie waren schon da, bevor die Zionisten mit ihren Überseekoffern voll hebräischer Wörterbücher, Landwirtschaftsanleitungen und jeder Menge Ärger für alle auftauchten.

»Eigentlich nicht«, sagt Buchbinder. »Nun ja, abgesehen von —« Er hält inne und senkt die Stimme. » — Messias.«

»Na, das ist doch ein guter Anfang«, sagt Landsman. »Hab gehört, er hat die besten Beziehungen.«

Buchbinder nickt, unerreichbar im geheiligten Zuckerwürfel seiner Träume.

»Mit Sack und Pack«, sagt er. Er steckt sein Buch in die Jackentasche zurück und stopft sich und seine Strickjacke in einen alten blauen Anorak. »Gute Nacht, Landsman.«

»Gute Nacht, Dr. Buchbinder. Legen Sie bei Messias ein gutes Wort für mich ein.«

»Ach«, sagt er, »das ist nicht nötig.«

»Nicht nötig oder sinnlos?«

Abrupt werden die fröhlichen Augen so stählern wie die Rückseite des Zahnarztspiegels. Mit der Erfahrung von fünfundzwanzig Jahren unermüdlichen Suchens nach schwachen oder verfaulten Stellen prüfen sie Landsmans Zustand. Ganz kurz zweifelt Landsman am Wahnsinn des Mannes.

»Das liegt an Ihnen«, sagt Buchbinder. »Nicht wahr?«

18.

Als Buchbinder sich aus dem Polar-Shtern schiebt, bleibt er kurz stehen, um die Tür für einen grellorangen Parka aufzuhalten, der von einer Schneeböe hereingetragen wird. Bina schleppt ihre prall gefüllte alte Rindsledertasche über der Schulter herein. Daraus hervor schaut ein Wust von Unterlagen, gelb markiert, geheftet, mit Büroklammern und kleinen Streifen bunten Klebebandes versehen. Bina wirft die Kapuze ihres Parkas zurück. Sie hat das Haar hochgeschoben, festgesteckt und es dann auf dem Hinterkopf sich selbst überlassen. Es hat einen wehmütigen Farbton, den Landsman in seinem ganzen Leben nur einmal woanders gesehen hat, nämlich tief in den Furchen des ersten Kürbisses, den er je erblickte, ein dunkles, orangerotes Ungetüm. Bina schleift ihre Tasche zur Theke. Wenn sie auf dem Weg zum Tablettstapel durch das Drehkreuz geht, wird Landsman genau in ihre Sichtlinie geraten.

Da trifft Landsman die sehr erwachsene Entscheidung, so zu tun, als hätte er Bina nicht gesehen. Er blickt durch das Fensterglas auf die Khalastraye Street. Nach seiner Schätzung liegt der Schnee knapp fünfzehn Zentimeter hoch. Drei Fußspuren winden sich durcheinander, frischer Schnee fällt in die Abdrücke und lässt die Ränder langsam verschwimmen. Handzettel, an die holzverschalten Fenster von Krasny’s Tabak- und Papierwaren auf der anderen Straßenseite geklebt, werben für den Auftritt jenes Gitarristen am Vorabend im Vorsht, der wegen seiner Ringe und seines Kleingelds in die Toilette gewälzt wurde. Vom Telefonmast an der Ecke zieht sich ein Gewirr aus Leitungen in alle erdenklichen Richtungen, vermisst die Wände und Türen dieses großen imaginären Ghettos der Juden. Unbewusst registriert Landsmann Schammeskopf jedes Detail der Szene. Seine bewussten Gedanken konzentrieren sich jedoch auf den Moment, wenn Bina ihn dort allein mit den Blintzen vor sich am Tisch sitzen sieht und seinen Namen ruft.

Der süße Moment lässt auf sich warten. Landsman riskiert einen zweiten Blick. Bina hat ihr Essen schon auf dem Tablett und wartet mit dem Rücken zu ihm auf ihr Wechselgeld. Sie hat ihn gesehen — sie muss ihn gesehen haben. Und jetzt reißt die große Spalte auf, der Berghang gibt nach, und die Wand schwarzen Schlamms rollt nach unten. Landsman und Bina waren zwölf Jahre miteinander verheiratet und davor fünf Jahre ein Paar. Jeder war für den anderen der beziehungsweise die erste Geliebte, das erste Opfer, die erste Zuflucht, der erste Mitbewohner, das erste Publikum und der erste Mensch, an den man sich wandte, wenn etwas — selbst die eigene Ehe — schiefging. Ihr halbes Leben lang haben die beiden ihre Vergangenheit, ihre Körper, ihre Phobien, Theorien, Rezepte, Bücher- und Plattensammlungen verquickt. Sie inszenierten spektakuläre Auseinandersetzungen, Nase an Nase, fuchtelnde Hände, sprühender Speichel, schleuderten, traten, zerbrachen Gegenstände, wälzten sich auf dem Boden und rissen einander an den Haaren. Am nächsten Tag hatte Landsman die roten Monde von Binas Fingernägeln auf Wange und Brust, und sie trug seine violetten Fingerabdrücke wie eine Armbinde. Ungefähr sieben Jahre ihres gemeinsamen Lebens vögelten sie fast täglich. Wütend, zärtlich, krank, gesund, kalt, heiß, im Halbschlaf. Sie machten es auf jedem erdenklichen Bett, Sofa oder Kissen. Auf Futons, Handtüchern und alten Duschvorhängen, auf der Ladefläche eines Pick-ups, hinter einem Müllcontainer, in einem Wasserturm, in einem Mantelständer bei einem Essen der Hände Esaus. Sie bumsten sogar — einmal — auf dem Riesenpilz im Pausenraum.

Als Bina aus dem Rauschgiftdezernat herüberkam, arbeitete sie vier zuverlässige Jahre mit Landsman in einer Schicht bei der Mordkommission. Landsmans Kollege war zuerst Zelly Boybriker, später Berko, und Bina bekam den armen alten Morris Handler. Aber eines Tages ließ der listige Engel, der Bina und Landsman überhaupt zusammengeführt hatte, Urlaubstage mit einer Verletzung von Morris Handler zusammenfallen und schickte Landsman und Bina, zum ersten und einzigen Mal, gemeinsam in eine Ermittlung, den Grinshteyn-Fall. Gemeinsam erlitten sie die Heimsuchungen des Versagens, versagten jeden Tag stundenlang, versagten nachts im Bett, versagten in den Straßen von Sitka. Das ermordete Mädchen Ariela und die gebrochenen Grinshteyns, Mutter und Vater, hässlich und aufgezehrt, die einander hassten, und die Leere, an der festzuhalten ihnen noch geblieben war — all das ertrugen Bina und Landsman gemeinsam. Und dann gab es Django, der durch ihr Versagen im Grinshteyn-Fall Form und Antrieb bekam, durch die Leere in Gestalt eines pummeligen kleinen Mädchens. Bina und Landsman waren fardrejt, ineinander verwoben, ein geflochtenes Chromosomenpaar mit einem geheimnisvollen Makel. Und jetzt? Jetzt tun sie so, als würden sie sich nicht sehen, und schauen zur Seite.

Landsman schaut zur Seite.

Die Fußabdrücke im Schnee sind so flach geworden, als stammten sie von einem Engel. Auf der anderen Straßenseite lehnt sich ein kleiner, gebeugter Mann gegen den Wind, er zieht einen schweren Koffer an den vernagelten Schaufenstern von Krasny’s vorbei. Die breite weiße Krempe seines Huts flattert wie eine Vogelschwinge. Landsman beobachtet, wie sich der Prophet Elija durch den Schneesturm müht, und plant seinen eigenen Tod. Das ist die vierte von ihm entwickelte Strategie, um sich aufzuheitern, wenn alles den Bach runtergeht. Aber er muss natürlich aufpassen, es nicht zu übertreiben.

Landsman, Sohn und väterlicherseits Enkel eines Selbstmörders, hat alle möglichen Methoden gesehen, mit denen sich Menschen ins Jenseits befördern, von ungeschickt bis gründlich. Er weiß, wie man es zu tun hat und wie nicht. Sprung von der Brücke oder Flug aus dem Hotelfenster: malerisch, aber albern. Die Treppe hinunterstürzen: unzuverlässig, eine Spontanhandlung, wirkt zu sehr wie ein Unfalltod. Pulsadern aufschneiden, mit oder ohne die beliebte, aber unnötige Badewannenvariante: schwerer, als es aussieht, hat den Ruch mädchenhafter Schwäche fürs Drama. Rituelle Entleibung mit einem Samuraischwert: schwierig, erfordert einen Sekundanten, sieht für einen Jid nach Angeberei aus. Landsman hat diese Vorgehensweise nie mit eigenen Augen gesehen, kannte aber mal einen Nos, der das behauptete. Landsmans Großvater warf sich in Lodz vor die Räder einer Straßenbahn, was ein gewisses Maß an Entschlossenheit beweist, das Landsman immer bewundert hat. Sein Vater nahm dreißig 100-mg-Tabletten Nembutal und spülte sie mit einem Glas Kümmelwodka hinunter, eine Methode, die viel für sich hat. Dazu eine Plastiktüte über dem Kopf, geräumig und ohne Löcher, und schon hat man etwas Sauberes, Lautloses, Zuverlässiges.

Aber wenn Landsman sich ausmalt, sein eigenes Leben zu beenden, setzt er bevorzugt auf eine Handfeuerwaffe, so wie Melekh Gaystik, der Weltmeister. Seine stupsnasige M-39 ist dafür Scholem genug. Wenn man weiß, wo man die Mündung anzusetzen hat (direkt hinter dem Knochen des Mentums) und in welchem Winkel zu schießen ist (mit 20 Grad Abweichung von der Vertikalen in Richtung des Reptilienhirns), ist die Methode schnell und zuverlässig. Eine Schweinerei, aber Landsman hat aus irgendeinem Grund keine Skrupel, eine Schweinerei zu hinterlassen.

»Seit wann magst du Blintzen?«

Beim Klang ihrer Stimme zuckt er zusammen. Landsmans Knie stoßen gegen das Tischbein, in einem Schussaustrittsmuster spritzt sein Kaffee auf die Fensterscheibe.

»Hey, Captain«, sagt er. Er sucht nach einer Serviette, findet aber keine, da er lediglich eine aus dem Spender bei den Tabletts genommen hat. Der Kaffee läuft in alle Richtungen. Landsman zerrt Papierfetzen aus seiner Jackentasche und tupft die sich ausbreitende Flüssigkeit damit auf.

»Sitzt hier wer?« Auf einer Hand balanciert Bina das Tablett, mit der anderen kämpft sie gegen ihre sperrige Tasche. Bina hat diesen Gesichtsausdruck, den Landsman gut kennt: hochgezogene Augenbrauen, schwache Andeutung eines Lächelns. Es ist das Gesicht, das sie aufsetzt, wenn sie einen Ballsaal betritt, um sich unter eine Horde männlicher Gesetzesvertreter zu mischen, oder wenn sie mit einem Rock, der nicht ihre Knie bedeckt, in einen Gemüseladen in Harkavy geht. Das Gesicht besagt: Ich will keinen Ärger. Ich möchte nur ein Päckchen Kaugummi. Bina lässt die Tasche fallen und setzt sich, ehe Landsman antworten kann.

»Bitte«, sagt er und zieht seinen Teller zu sich, um Platz zu machen. Bina reicht ihm mehrere Servietten, und er kümmert sich um die Schweinerei. Den Klumpen vollgesogenen Papiers entsorgt er auf dem Nachbartisch. »Ich weiß nicht, warum ich die bestellt habe. Du hast recht, Käseblintzen, feh.«

Bina legt die Serviette hin und platziert Messer, Gabel und Löffel darauf. Sie nimmt zwei Teller vom Tablett und stellt sie nebeneinander: eine Kelle Thunfischsalat auf einem von Mrs. Nemintziners Salatblättern und einen golden schimmernden Block Nudelauflauf. Bina greift in ihre prall gefüllte Schultertasche und holt eine kleine Plastikdose mit Klappdeckel hervor. Der Behälter birgt eine runde Pillendose mit Schiebeverschluss, aus der Bina eine Vitamintablette, eine Fischölkapsel und die Enzympille klopft, die ihrem Magen beim Verdauen von Milch hilft. In der Plastikdose trägt sie zudem Tütchen mit Salz, Pfeffer, Meerrettich herum, ebenso Hygienetücher, eine puppengroße Flasche Tabasco, Chlortabletten zur Trinkwasseraufbereitung, Pepto-Bismol-Kautabletten und Gott weiß, was noch. Wenn man zu einem Konzert geht, hat Bina Operngläser. Wenn man sich ins Gras setzen muss, zaubert sie ein Handtuch hervor. Ameisenfallen, Korkenzieher, Kerzen und Streichhölzer, ein Maulkorb, ein Taschenmesser, eine kleine Dose Kältespray, eine Lupe — Landsman hat zu dieser oder jener Gelegenheit schon alles aus dieser vollgestopften Rindsledertasche kommen sehen.

Man muss sich Juden wie Bina Gelbfish anschauen, denkt Landsman, wenn man eine Erklärung für das breite Spektrum und die Widerstandsfähigkeit des jüdischen Volkes sucht. Juden, die ihr Heim in einer alten Rindsledertasche, auf dem Kamelrücken oder in der Luftblase inmitten ihres Hirns mit sich herumtragen. Juden, die immer auf den Füßen landen, loslaufen, Schicksalsschläge meistern und das Beste aus dem machen, was ihnen in die Hände fällt, und das von Ägypten bis Babylon, von Minsk-Gubernia bis in den Distrikt Sitka. Methodisch, organisiert, beharrlich, einfallsreich und auf alles vorbereitet. Berko hat recht: Bina würde auf jedem Polizeirevier der Welt ihren Weg machen. Eine neue Grenze, ein Regierungswechsel — so was kann eine Jüdin mit einem ordentlichen Vorrat an Hygienetüchern in der Handtasche nicht erschüttern.

»Thunfischsalat«, bemerkt Landsman und erinnert sich, dass Bina keinen Thunfisch mehr aß, als sie erfuhr, dass sie mit Django schwanger war.

»Ja, ich versuche, so viel Quecksilber wie möglich zu mir zu nehmen«, sagt Bina, als sie Landsman und seine Erinnerung durchschaut. Sie schluckt eine Enzymtablette. »Quecksilber ist momentan mein Ding.«

Landsman zeigt mit dem Daumen auf Mrs. Nemintziner, die mit ihrem Löffel hinter der Theke steht.

»Du hättest das gebackene Thermometer nehmen sollen.«

»Hätte ich auch getan«, sagt Bina, »aber es gab nur noch rektale.«

»Hast du Penguin gesehen?«

»Penguin Simkowitz? Wo?« Bina schaut sich um, dreht sich in der Taille, und Landsman ergreift die Gelegenheit, ihr in die Bluse zu schielen. Er sieht die sommersprossige obere Hälfte ihrer linken Brust, den Spitzenrand ihres BH-Körbchens, die dunkle Andeutung ihrer Brustwarze unter dem Stoff. Er wird von dem Begehren übermannt, die Hand in Binas Bluse zu schieben, ihre Brust zu umschließen, in die weiche Höhlung zu klettern, sich dort zusammenzurollen und einzuschlafen. Als Bina sich wieder umdreht, erwischt sie ihn bei seinem Ausschnitttraum. Landsman spürt ein Brennen auf seinen Wangen. »Hm.«

»Wie war dein Tag?«, fragt er, als sei es die normalste Frage der Welt.

»Schließen wir einen Pakt«, sagt sie, und ihr Ton überfriert ein wenig. Sie knöpft den obersten Knopf ihrer Bluse zu. »Wie wäre es, wenn wir einfach hier sitzen, ich und du, zusammen essen und kein verdammtes Wort über meinen Tag verlieren? Wie hört sich das an, Meyer?«

»Ich finde, das klingt nicht schlecht«, sagt er.

»Gut.«

Sie löffelt einen Mundvoll Thunfischsalat. Landsman erhascht einen Blick auf ihren goldgerandeten Backenzahn und denkt an den Tag, als sie damit nach Hause kam, vollgepumpt mit Lachgas, und ihn aufforderte, seine Zunge in ihren Mund zu schieben und auszuprobieren, wie der Zahn sich anfühlte. Nach dem ersten Bissen Thunfischsalat macht Bina ernst. Sie schaufelt zehn oder elf Löffel in sich hinein, kaut und schluckt voller Hingabe. In leidenschaftlichen, kurzen Stößen kommt ihr Atem durch die Nase. Ihre Augen sind auf das Ballett von Löffel und Teller gerichtet. »Ein Mädchen mit einem gesunden Appetit«, das war vor zwanzig Jahren die erste archivierte Feststellung von Landsmans Mutter zum Thema Bina Gelbfish. Wie die meisten Komplimente seiner Mutter war es, wenn nötig, in eine Beleidigung umkehrbar. Aber Landsman vertraut nur einer Frau, die futtert wie ein Mann. Als außer einem Mayonnaiseklecks auf dem Salatblatt nichts mehr übrig ist, wischt Bina sich den Mund mit der Serviette ab und stößt einen tiefen, satten Seufzer aus.

»Nu, worüber sollen wir reden? Über deinen Tag wohl auch nicht.«

»Bestimmt nicht.«

»Was bleibt dann noch?«

»In meinem Fall«, sagt Landsman, »nicht viel.«

»Manches ändert sich nie.«

Bina schiebt den leeren Teller von sich und zitiert den Nudelauflauf herbei, den als Nächstes sein Schicksal ereilen wird. Allein der Anblick, wie Bina die Kugl beäugt, macht Landsman glücklicher, als er seit Jahren gewesen ist.

»Ich rede immer noch gerne über mein Auto«, sagt er.

»Du weißt, dass ich für Liebeslyrik nichts übrighabe.«

»Auf keinen Fall reden wir über die Reversion.«

»Einverstanden. Und ich will nichts über das sprechende Huhn oder die Kreplach hören, die wie der Kopf des Maimonides aussehen, überhaupt nichts von diesem ganzen Wunderscheiß.«

Landsman fragt sich, was Bina von der Geschichte halten würde, die Zimbalist ihm heute über den Mann erzählt hat, der gekühlt im Keller des Krankenhauses liegt.

»Am besten gar nichts über Juden, abgemacht?«, sagt er.

»Abgemacht, Meyer, ich habe die Juden bis oben hin satt.«

»Und nichts über Alaska.«

»Gott, bloß nicht!«

»Nichts über Politik. Nichts über Russland, die Mandschurei, Deutschland oder die Araber.«

»Die Araber habe ich auch bis oben hin satt.«

»Wie wär’s dann mit Nudelauflauf?«, fragt Landsman.

»Gut«, sagt sie. »Nur bitte, Meyer, iss ein bisschen, mir tut es im Herzen weh, wenn ich dich bloß ansehe. Mein Gott, wie dünn du bist! Hier, den musst du mal probieren! Ich weiß nicht, was die da reintun, einer hat mir mal erzählt, sie tun ein bisschen Ingwer rein. Ich sag dir, oben in Yakovy, da kann man von so einer guten Kugl nur träumen.«

Bina schneidet ein Stück Nudelauflauf ab und will Landsman die Gabel in den Mund schieben. Beim Anblick der näher kommenden Zinken greift so etwas wie eine kalte Hand nach seinen Eingeweiden. Er wendet das Gesicht ab. Die Gabel hält in ihrer Flugbahn inne. Bina lädt den sultaninengeschmückten Keil aus Eiercreme und Nudeln neben den unberührten Blintzen auf Landsmans Teller ab.

»Solltest du trotzdem probieren«, sagt sie. Sie isst selbst ein paar Bissen, dann legt sie die Gabel beiseite. »Ich glaube, mehr gibt es zum Thema Nudelauflauf nicht zu sagen.«

Landsman trinkt seinen Kaffee, Bina schluckt die letzten Pillen mit einem Glas Wasser.

»Nu«, sagt sie.

»Also«, sagt Landsman.

Wenn er sie jetzt gehen lässt, wird er nie wieder schlummernd in der Höhlung ihrer Brust liegen. Er wird nie wieder ohne Hilfe einer Handvoll Nembutal oder die guten Dienste seiner M-39 schlafen.

Bina drückt sich vom Tisch ab und zieht ihren Parka an. Sie steckt die Plastikdose zurück in ihre Umhängetasche und hievt sie sich stöhnend auf die Schulter.

»Gute Nacht, Meyer.«

»Wo wohnst du?«

»Bei meinen Eltern«, sagt sie in einem Tonfall, mit dem man sonst höchstens der gesamten Menschheit die Todesstrafe verkünden würde.

»Oj wej.«

»Da sagst du was. Nur bis ich was anderes finde. Schlimmer als das Hotel Zamenhof kann es jedenfalls nicht sein.«

Sie zieht den Reißverschluss des Parkas zu und steht dann ein paar lange Sekunden da, unterzieht ihn ihrer Schammes-Inspektion. Binas Blick ist nicht so gründlich wie Landsmans — ihr kann schon mal eine Kleinigkeit entgehen —, aber was sie sieht, kann sie im Kopf schnell zu dem in Beziehung setzen, was sie über Frauen und Männer, Opfer und Mörder weiß. Selbstsicher flicht sie daraus Erzählungen, die Sinn ergeben und nicht auseinanderbrechen. Sie löst Fälle weniger, als dass sie deren Geschichte erzählt.

»Guck dich an, Landsman, du siehst aus wie eine Ruine.«

»Ich weiß«, sagt Landsman und merkt, wie sich seine Brust zusammenzieht.

»Ich habe gehört, dass es dir schlecht geht, aber ich dachte, man wollte mich bloß aufheitern.«

Er lacht und wischt sich mit dem Ärmel über die Wange.

»Was ist das denn?«, fragt sie. Mit den Nägeln von Daumen und Zeigefinger zupft sie ein zerknülltes, kaffeebeflecktes Papierknäuel aus der Serviettenmasse, die Landsman auf dem Nachbartisch entsorgt hat. Landsman greift danach, aber Bina ist zu schnell für ihn — war sie schon immer. Sie streicht das Knäuel glatt.

»Fünf große Wahrheiten und fünf große Lügen über den Verbover Chassidismus«, sagt sie. Eine Augenbraue greift über Binas Nasenrücken nach der anderen. »Willst du mir etwa ein Schwarzhut werden?«

Er antwortet nicht schnell genug, und sie folgert, was aus seinem Gesicht, seinem Schweigen und dem, was sie über ihn weiß — nämlich praktisch alles —, zu folgern ist.

»Was führst du im Schilde, Meyer?«, fragt sie, und ihr Blick ist dann plötzlich so matt und verbraucht, wie auch er sich fühlt. »Nein. Egal. Ich bin einfach zu müde.«

Sie zerknüllt die Verbover-Broschüre aufs Neue und wirft sie Landsman an den Kopf.

»Wir haben gesagt, wir wollten nicht darüber sprechen«, sagt er.

»Ja, wir haben so einiges gesagt«, sagt sie. »Du und ich.«

Sie dreht sich halb ab und wendet die Hebelkraft auf den Riemen der Tasche an, in der sie ihr Leben lebt.

»Ich will dich morgen in meinem Büro sehen.«

»Hm. Gut. Bloß«, sagt Landsman, »ich habe gerade eine Zwölf Stundenschicht hinter mir.«

Die Feststellung macht, obwohl zutreffend, keinen erkennbaren Eindruck auf Bina. Möglich, dass sie Landsman gar nicht gehört hat, dass er gar keine indoeuropäische Sprache spricht.

»Ich komme«, sagt er. »Wenn ich mir nicht heute Nacht den Kopf wegpuste.«

»Keine Liebeslyrik, habe ich gesagt«, sagt Bina. Sie fasst einen wallenden Schwung ihres kürbisdunklen Haars zusammen und schiebt ihn in einen gezahnten Clip schräg über ihrem rechten Ohr. »Mit oder ohne Kopf. Morgen um neun in meinem Büro.«

Landsman sieht ihr nach, wie sie durch den Essbereich zur Tür der Kafeteria Polar-Shtern geht. Er wettet einen Dollar, dass sie sich nicht umdreht, bevor sie die Kapuze aufsetzt und hinaus in den Schnee tritt. Aber er ist ein nachsichtiger Mann, und die Wette war Mist, deshalb kassiert er sein Geld nicht ein.

19.

Als das Telefon Landsman am nächsten Morgen um sechs Uhr weckt, sitzt er in seiner weißen Unterhose im Ohrensessel und hält seine M-39 zärtlich in der Hand.

Tenenboym macht gerade Feierabend. »Sie wollten geweckt werden«, sagt er und legt auf.

Landsman kann sich nicht erinnern, einen Weckruf bestellt zu haben. Er kann sich nicht erinnern, die Flasche Sliwowitz weggeputzt zu haben, die leer auf der zerkratzten Urethanfläche des Eichenfurniertisches neben dem Ohrensessel steht. Er kann sich nicht erinnern, den Nudelauflauf gegessen zu haben, dessen letztes Drittel in einer Ecke des muschelförmigen Plastikbehälters neben der Flasche Sliwowitz kauert. Durch die Anordnung der bunten Glasscherben auf dem Boden rekonstruiert er, dass er sein Schnapsglas von der Weltausstellung 1977 in Sitka gegen die Heizung geschleudert hat. Vielleicht war er frustriert, weil er keine Fortschritte auf dem Plastikschachbrett machte, das jetzt bäuchlings unter seinem Bett liegt, die winzigen Figuren großzügig im Raum verteilt. Aber er kann sich weder an den Wurf als solchen noch an das Splittern des Glases erinnern. Vielleicht hat er auf etwas oder jemanden angestoßen, und die Heizung sollte ein Kamin sein. Er weiß es nicht mehr. Aber man kann nicht behaupten, dass ihn irgendetwas an der verwahrlosten Szenerie von Zimmer 505 überrascht, schon gar nicht die geladene Scholem in seiner Hand.

Er prüft den Schlagbolzen und steckt die Waffe zurück in das Holster, das über der Rückenlehne des Ohrensessels hängt. Dann geht er hinüber zur Wand und zerrt das Schrankbett aus seinem Versteck. Er schält die Decke zurück und steigt hinein. Die Bettwäsche ist sauber und riecht nach Dampfbügelpresse und dem Staub dieses Wandlochs. Nun kann sich Landsman schwach erinnern, irgendwann gegen Mitternacht den romantischen Plan gefasst zu haben, früh zur Arbeit zu gehen, nachzusehen, was die Rechtsmediziner und die Ballistiker im Shpilman-Fall herausbekommen haben, vielleicht sogar auf die Inseln rauszufahren, in die Russengegend, und dem Patzer und ehemaligen Knastbruder Vassily Shitnovitzer ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Sein Bestes tun, sich richtig reinhängen, bevor Bina um neun Uhr zur Zange greift und ihm Zähne und Klauen zieht. Wehmütig muss Landsman über den halsstarrigen jungen Draufgänger lächeln, der er noch in der Nacht war. Sich um sechs Uhr morgens wecken zu lassen!

Er zieht die Decke über den Kopf und schließt die Augen. Ungebeten stellt sich die Formation von Bauern und Figuren auf dem Schachbrett in seinem Kopf auf. In der Brettmitte wird der schwarze König bedrängt, ohne dass ihm Schach geboten würde. Der weiße Bauer in Reihe b ist kurz davor, etwas Besseres zu werden — eine Dame, ein Läufer. Landsman braucht das Taschenspiel nicht mehr; zu seinem Entsetzen hat er alles auswendig im Kopf. Er versucht, es zu vertreiben, es auszulöschen, die Figuren beiseitezuwischen und alle weißen Quadrate schwarz anzumalen. Ein rein schwarzes Schachbrett, unbefleckt durch Steine oder Spieler, Eröffnungen oder Endspiele, Tempo, Taktik oder Materialvorteil, schwarz wie die Baranof-Berge.

Und Landsman liegt immer noch dort, alle weißen Quadrate im Kopf ausgelöscht, in Unterhose und Socken, als es an der Tür klopft. Mit dem Gesicht zur Wand setzt er sich auf, sein Herz ist eine an seine Schläfen schlagende Trommel, er zieht das Laken über sich, als wäre er ein Kind, das jemanden als Gespenst erschrecken will. Er hat auf dem Bauch gelegen, vielleicht etwas länger. Jetzt fällt ihm wieder ein, dass er auf dem Grunde einer Gruft in schwarzer Erde, in einer lichtlosen Höhle eine Meile unter der Erdoberfläche die fernen Vibrationen seines Shoyfer hörte und später das sanfte Zirpen des Telefons auf dem Eichenfurniertisch. Aber er war so tief unter der Erde begraben, dass er, selbst wenn die Telefone nur in seinem Traum existiert hätten, nicht die Kraft oder die Lust gehabt hätte, sich zu melden. Sein Kopfkissen ist mit einer übelriechenden Suppe aus alkoholischem Schweiß, Panik und Speichel getränkt. Landsman sieht auf die Uhr. Es ist zwanzig nach zehn.

»Meyer?«

Landsman lässt sich aufs Bett zurückfallen, die Füße am Kopfende, verheddert im Laken.

»Ich kündige«, sagt er. »Bina, ich kündige.«

Bina erwidert nicht sofort etwas. Landsman hofft, dass sie seine jetzt eh überflüssige Kündigung angenommen hat, dass sie zum Revier und dem Mann von der Beerdigungsgesellschaft zurückgekehrt ist, zurück zu ihrem Projekt, von einer jüdischen Polizistin zu einer Beamtin des großen Bundesstaates Alaska zu werden. Sobald Landsman überzeugt ist, dass Bina fort ist, will er das Hausmädchen, das einmal die Woche die Bettwäsche und die Handtücher wechselt, überreden, ihn zu erschießen. Dann muss Bina ihn nur noch beerdigen, indem sie das Bett wieder zurück in den Schrank drückt. Seine Klaustrophobie, seine Angst vor dem Dunkeln können ihn dann nicht mehr behelligen.

Kurz darauf hört er den Bart eines Schlüssels im Schloss, und die Tür von Zimmer 505 schwingt auf. Bina schleicht sich herein, so wie man in ein Krankenzimmer in der Kardiologie schleicht, wenn man sich auf einen Schock gefasst macht, auf eine Mahnung an die eigene Sterblichkeit, auf grausame Wahrheiten über den Körper.

»Jesus fucking Christ!«, sagt sie mit ihrem fehlerlosen, harten Akzent. Der Ausdruck kommt Landsman immer merkwürdig vor, zumindest würde er Geld dafür geben, ihn einmal ausgeführt zu sehen.

Bina watet durch die Bestandteile von Landsmans grauem Anzug, steigt über ein Badetuch und bleibt vor dem Bett stehen. Ihre Augen registrieren die rosa Tapete mit dem aufgeflockten bordeauxroten Girlandenmotiv, den grünen Plüschteppich mit seinem Zufallsmuster aus Brandlöchern und geheimnisvollen Flecken, das kaputte Glas, die leere Flasche, das blättrige, gesplitterte Furnier der Sperrholzmöbel. Landsman sieht ihr zu, den Kopf am Fußende des Schrankbetts, und erfreut sich an ihrem entsetzten Gesichtsausdruck, denn wenn er das nicht täte, müsste er sich schämen.

»Was heißt ›Drecksloch‹ auf Esperanto?«, fragt Bina.

Sie geht zum Tisch und blickt auf die letzte verwahrloste Locke Nudelauflauf in der fettverklebten Muschelform.

»Wenigstens hast du was gegessen.«

Sie dreht den Ohrensessel zum Bett herum und lässt ihre Umhängetasche zu Boden gleiten. Sie untersucht die Sitzfläche. Ihrem Gesicht kann er ablesen, dass sie sich fragt, ob sie die Sitzfläche mit etwas Ätzendem oder Antibakteriellem aus ihrer Zaubertasche bearbeiten soll. Schließlich lässt sie sich in den Ohrensessel sinken, ganz vorsichtig. Bina trägt einen grauen Hosenanzug aus einem glänzenden Material mit einem schillernden schwarzen Schimmer. Unter dem Blazer hat sie ein Seidentop in Blassgrün. Ihr Gesicht ist nackt, abgesehen von zwei Lippenstiftstrichen. Zu dieser Stunde lässt Binas allmorgendliche Übung, ihr wirres Haar mit Nadeln und Clips unter Kontrolle zu bringen, sie noch nicht im Stich. Wenn sie gut geschlafen haben sollte in der letzten Nacht, in ihrem schmalen Bett im alten Kinderzimmer im obersten Stockwerk eines Zweifamilienhauses auf Japonski Island, wo unten der alte Mr. Oysher mit seiner Beinprothese herumpoltert, so sieht man nichts davon in ihrem eingefallenen, überschatteten Gesicht. Ihre Augenbrauen sind wieder sehr aneinander interessiert. Ihre geschminkten Lippen sind zu einem ziegelroten, zwei Millimeter breiten Schlitz gespannt.

»Und, wie läuft’s heute Morgen, Inspector?«

»Ich warte nicht gerne, Meyer«, sagt sie. »Schon gar nicht auf dich.«

»Vielleicht hast du mich nicht gehört«, sagt Landsman. »Ich kündige.«

»Das ist lustig, weil die Wiederholung dieses speziellen Schwachsinns erstaunlich wenig dazu beiträgt, meine Laune zu heben.«

»Ich kann nicht für dich arbeiten, Bina. Komm! Das ist einfach Wahnsinn! Genau der Wahnsinn, den man im Moment von der Abteilung erwartet. Wenn es so schlimm ist, wenn es schon so weit ist, dann vergiss es! Ich habe dieses ganze Gelaber von ›jeden mal drankommen lassen‹ so was von satt. Also, nu, ich hör auf. Wozu brauchst du mich überhaupt? Kleb doch schwarze Etiketten auf all deine Fälle. Geöffnet, geschlossen. Wen interessiert das? Ist eh nur ein Haufen toter Juden.«

»Ich habe mir den Stapel noch mal angesehen«, sagt sie. Landsman merkt, dass sie sich nach all den Jahren die aufregende Kraft bewahrt hat, ihn und seine schwarzen Schübe zu ignorieren. »Ich hab in keiner Akte irgendwas gesehen, das irgendwie den Anschein hätte, als hätte es mit den Verbovern zu tun.« Bina greift in ihre Tasche und holt eine Packung Broadways hervor, schüttelt eine heraus und schiebt sie sich zwischen die Lippen. Die nächsten neun Worte sagt sie so beiläufig, dass Landsman sofort argwöhnisch wird. »Außer vielleicht der Junkie, den du unten gefunden hast.«

»Da hast du auch einen schwarzen Reiter draufgeklebt«, erwidert Landsman mit der perfektionierten Unaufrichtigkeit eines Polizisten. »Bina, rauchst du wieder?«

»Tabak, Quecksilber.« Sie streift eine Locke zurück und zündet ihre Papiros an, bläst den Rauch aus. »Mal dies, mal das.«

»Gib mir auch eine.«

Sie reicht ihm die Broadway, und er setzt sich auf, wickelt sich sorgfältig in eine Toga aus Bettwäsche. Bina mustert ihn in seiner Pracht und zündet die zweite Papiros an. Sie registriert das graue Haar um seine Brustwarzen, die nachlassende Spannkraft in seiner Taille, seine knubbeligen Knie.

»Mit Socken und Unterwäsche im Bett«, sagt sie. »Immer schon ein schlechtes Zeichen bei dir.«

»Ich schätze, ich habe den Cafard«, sagt er. »Ich schätze, es hat mich letzte Nacht irgendwie überfallen.«

»Letzte Nacht?«

»Letztes Jahr?«

Sie schaut sich nach etwas um, das sie als Aschenbecher benutzen kann.

»Bist du gestern mit Berko auf Verbov Island gewesen«, sagt sie, »um in der Lasker-Sache rumzuschnüffeln?«

Es ist sinnlos, sie zu belügen. Aber Landsman hat sich viel zu lange Anordnungen widersetzt, um jetzt auf einmal die Wahrheit zu sagen.

»Hast du keinen Anruf bekommen?«, fragt er.

»Einen Anruf? Von Verbov Island? An einem Samstagmorgen? Wer soll mich von da an einem Samstagmorgen anrufen?« Ihr Blick wird argwöhnisch, die Augen werden schmaler in den Winkeln. »Was hätte man mir denn sagen sollen?«

»Tut mir leid«, sagt Landsman. »Entschuldige mich. Ich muss mal dringend.«

Er erhebt sich, steht in Unterwäsche da, das Laken um sich geschlungen. Er tappt um das Bett herum zu dem kleinen Badezimmer mit dem Waschbecken, dem Stahlspiegel und dem Duschkopf. Es gibt keinen Duschvorhang, nur den Abfluss in der Mitte des Raumes. Landsman schließt die Tür und uriniert lange mit aufrichtigem Vergnügen. Er legt die brennende Papiros auf den Rand der Toilettenspülung und bearbeitet sein Gesicht rasch mit Seife und Waschlappen. An einem Haken hinter der Tür hängt ein wollener Bademantel mit einem Indianermuster aus roten, grünen, gelben und schwarzen Streifen. Er zieht ihn an. Er steckt die Papiros wieder zwischen die Lippen und schaut sich in dem zerkratzten Rechteck polierten Stahls über dem Waschbecken an. Was er sieht, kann ihn unmöglich überraschen oder ihm unbekannte Tiefen offenbaren. Er zieht die Toilette ab und geht zurück ins Zimmer.

»Bina«, sagt er. »Ich kannte diesen Mann nicht. Er wurde mir in den Weg gelegt. Wahrscheinlich hätte ich ihn kennenlernen können, aber ich hatte kein Interesse. Wenn dieser Mann und ich uns kennengelernt hätten, wären wir vielleicht Freunde geworden. Vielleicht auch nicht. Er hatte es mit Heroin, und das reichte ihm wohl. Tut es meistens. Aber ob ich ihn nun kannte oder nicht, ob wir händchenhaltend unten auf dem Sofa in der Lobby zusammen alt geworden wären, darum geht es nicht. Jemand kam in dieses Hotel, in mein Hotel, und schoss dem Mann in den Hinterkopf, als er im Land der Träume war. Das ärgert mich. Vergiss mal die generellen Einwände, die ich vielleicht im Laufe der Jahre gegen das zugrunde liegende Konzept von Mord erhoben habe. Vergiss richtig und falsch, Gesetz und Ordnung, polizeiliche Verfahrensweisen, Dezernatspolitik, Reversion, Juden und Indianer. Dieses Rattenloch ist meine Heimat. Die nächsten zwei Monate, oder wie lange es noch dauern wird, wohne ich hier. Die ganzen Pechvögel, die für ein Schrankbett und eine Stahlscheibe an der Badezimmerwand Miete zahlen, sind jetzt meine Leute, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich kann nicht mal behaupten, dass ich sie besonders mögen würde. Manche sind ganz in Ordnung. Die meisten sind echt schlimm. Aber ich lasse auf keinen Fall zu, dass hier einfach jemand reinspaziert und einem eine Kugel in den Kopf jagt.«

Bina hat zwei Tassen Instantkaffee gemacht. Eine reicht sie Landsman.

»Schwarz und süß«, sagt sie. »Richtig?«

»Bina!«

»Du bist auf dich allein gestellt, Meyer. Der schwarze Aktenreiter bleibt dran. Wenn du erwischt wirst, wenn du Ärger bekommst, wenn die Rudashevskys dir die Knie brechen, dann weiß ich nichts davon.«

Sie geht zu ihrer Tasche und holt einen mit Mappen gefüllten Akkordeonordner heraus. Sie legt ihn auf den Furniertisch.

»Die Rechtsmedizin ist nicht vollständig. Shpringer hat sich nicht richtig dahintergeklemmt. Blut und Haare. Latente Fingerspuren. Ist nicht viel. Ballistik ist noch nicht zurück.«

»Danke, Bina. Hör mal, Bina, dieser Typ. Der hieß nicht Lasker. Er —«

Sie legt ihm die Hand auf den Mund. Seit drei Jahren hat Bina ihn nicht berührt. Wahrscheinlich wäre es übertrieben zu sagen, dass er spürt, wie die Dunkelheit sich ein wenig hebt, als ihre Fingerspitzen seine Lippen streifen. Aber das Dunkel erzittert, und Licht sickert zwischen den Rissen hindurch.

»Ich weiß nichts davon«, sagt sie. Sie nimmt ihre Hand fort. Trinkt einen Schluck Instantkaffee und verzieht das Gesicht. »Feh!«

Bina stellt den Becher ab, nimmt ihre Tasche und geht zur Tür. Sie hält inne und dreht sich zu Landsman in dem Bademantel um, den sie ihm zum fünfunddreißigsten Geburtstag geschenkt hat.

»Du hast Nerven, Landsman«, sagt sie. »Nicht zu fassen, dass du mit Berko dahin gefahren bist.«

»Ich musste ihm sagen, dass sein Sohn tot ist.«

»Sein Sohn.«

»Mendel Shpilman. Der einzige Sohn vom Rebbe.«

Bina öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Nicht erstaunt, sondern vielmehr engagiert schlägt sie ihre Terrierzähne in diese Information, nagt an dem blutigen Knorpel. Landsman sieht, dass ihr gefällt, wie er dem kräftigen Zugriff ihres Kiefers nachgibt. Doch plötzlich bekommt ihr Blick eine Müdigkeit, die Landsman kennt. Nie wird Bina ihren Ermittlerappetit auf die Geschichten anderer Leute verlieren, denkt Landsman, auf das Rekonstruieren, wie alles sich vom letzten Gewaltausbruch zurück zum ersten Fehler entwickelte. Aber manchmal wird ein Schammes dieses Hungers ein wenig überdrüssig.

»Und was meinte der Rebbe?«, fragt sie und lässt den Türknauf mit aufrichtigem Bedauern los.

»Er wirkte etwas verbittert.«

»Auch überrascht?«

»Nicht besonders, aber ich weiß nicht, was das zu sagen hat. Ich gehe davon aus, dass der Junge schon lange auf dem Weg nach unten war. Ob ich mir vorstellen kann, dass Shpilman seinem eigenen Sohn eine Kugel verpassen lässt? Theoretisch auf jeden Fall. Und für Baronshteyn gilt das doppelt.«

Wie eine Leiche fällt die Tasche zu Boden. Bina bewegt ihre Schultern in kleinen schmerzenden Kreisen. Landsman könnte ihr anbieten, sie zu massieren, nimmt aber weise davon Abstand.

»Ich schätze, ich darf einen Anruf erwarten«, sagt sie. »Von Baronshteyn. Sobald drei Sterne am Himmel stehen.«

»Tja, ich würde nicht zu genau hinhören, wenn er dir versucht vorzumachen, wie fertig er ist, weil Mendel Shpilman raus ist aus dem Spiel. Alle freuen sich, wenn der verlorene Sohn zurückkehrt, nur nicht der Junge, der in seinem Bett geschlafen hat.«

Landsman trinkt einen Schluck Kaffee, scheußlich bitter und süß.

»Der verlorene Sohn.«

»Er war so eine Art Wunderkind. Im Schach, im Thorastudium, in Sprachen. Ich habe eine Geschichte über ihn gehört, er hätte eine krebskranke Frau geheilt, nicht dass ich so was glaube, aber trotzdem. Ich glaube, bei den Schwarzhüten gab es eine Menge Geschichten über ihn. Dass er der Tzaddik ha-Dor sein könnte. Weißt du, was das ist?«

»Ungefähr. Ja. Jedenfalls weiß ich, was das Wort bedeutet«, sagt Bina. Ihr Vater, Guryeh Gelbfish, ist ein Gelehrter im traditionellen Sinn. Einen gewissen Teil dieser Gelehrtheit vergeudete er an sein einziges Kind, ein Mädchen. »Der Gerechte seiner Generation.«

»Die Geschichte besagt, dass diese Typen, diese Tzaddiks, in den letzten zigtausend Jahren regelmäßig zur Arbeit erschienen sind, in jeder Generation einer, ja? Sie sind in Lauerstellung. Sie warten darauf, dass die Zeit stimmt, dass die Welt stimmt, aber manche behaupten auch, dass die Zeit falsch sein muss und die Welt so falsch, wie es nur geht. Einige von ihnen kennen wir. Die meisten halten sich aber ziemlich bedeckt. Ich glaube, dahinter steckt die Vorstellung, dass jeder der Tzaddik sein könnte.«

»Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden«, sagt Bina oder zitiert vielmehr. »Ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut.«

»Das meine ich ja«, sagt Landsman. »Es kann jeder sein. Ein Penner. Ein Gelehrter. Ein Junkie. Sogar ein Schammes.«

»Kann wohl sein«, sagt Bina. Sie geht ihn im Kopf durch, den Weg vom wohltätigen Wunderkind der Verbover zum ermordeten Junkie in einem Rattenloch auf der Max Nordau Street. Die Geschichte passt auf eine Art zusammen, die Bina zu betrüben scheint. »Egal, ich bin froh, dass ich es nicht bin.«

»Willst du nicht mehr die Welt erlösen, Bina?«

»Wollte ich das mal?«

»Ich glaub schon, doch.«

Sie denkt darüber nach, reibt sich mit dem Finger die Nase, versucht, sich zu erinnern.

»Ich glaube, ich bin darüber weg«, sagt sie, aber Landsman kauft es ihr nicht ab. Bina hat ihr Vorhaben nie aufgegeben, die Welt erlösen zu wollen. Sie hat nur die Welt, die sie zu erlösen versucht, immer weiter verkleinert, bis sie irgendwann in den Hut eines hoffnungslosen Polizisten passte. »Jetzt sind das alles sprechende Hühner für mich.«

Mit diesem Satz sollte sie eigentlich abgehen, aber sie bleibt noch fünfzehn Sekunden unerlöst gegen die Tür gelehnt stehen und beobachtet, wie Landsman an den ausgefransten Enden seines Bademantelgürtels herumnestelt.

»Was willst du Baronshteyn sagen, wenn er anruft?«, fragt Landsman.

»Dass du komplett auf eigene Faust gehandelt hast und ich dafür sorge, dass du dich dafür verantworten musst. Eventuell muss ich dir deine Dienstmarke abnehmen, Meyer. Ich versuche, das zu verhindern, aber da sich dieser Schomer von der Beerdigungsgesellschaft angesagt hat, dieser Mr. Spade, einen Fluch auf ihn, habe ich nicht viel Spielraum. Und du auch nicht.«

»Gut, du hast mich gewarnt«, sagt Landsman. »Ich wurde gewarnt.«

»Und was hast du nun vor?«

»Jetzt? Jetzt werde ich der Mutter auf den Zahn fühlen. Shpilman behauptet, niemand hätte mehr von Mendel gehört oder mit ihm gesprochen. Aber aus irgendeinem Grund nehme ich ihm das nicht ab.«

»Batsheva Shpilman. Das wird ein harter Zahn«, sagt Bina. »Besonders für einen Mann.«

»Stimmt«, sagt Landsman mit sehnsüchtiger Miene.

»Nein«, sagt Bina. »Nein, Meyer. Vergiss es. Du bist auf dich allein gestellt.«

»Sie wird bei der Beerdigung sein, Bina. Du musst nur —«

»Ich muss nur«, sagt Bina, »jedem Schomer aus dem Weg gehen, auf meinen Arsch aufpassen und die nächsten zwei Monate überstehen, ohne ihn mir in Brand zu stecken.«

»Ich würde herzlich gerne auf deinen Arsch aufpassen«, sagt Landsman, den alten Zeiten zuliebe.

»Zieh dich an«, sagt Bina. »Und tu dir einen Gefallen. Räum hier mal auf. Guck dir diesen Saustall an! Ich kann nicht glauben, dass du so lebst. Gütiger Gott, Meyer, schämst du dich nicht?«

Früher einmal glaubte Bina Gelbfish an Meyer Landsman. Oder vielmehr glaubte sie von dem Moment an, als sie ihn kennenlernte, dass ihr Treffen einen Sinn habe, dass hinter ihrer Eheschließung eine eruierbare Absicht liege. Sie waren fardrejt, sicher waren sie das, doch während Landsman in dem Gewirr nur ein Kuddelmuddel sah, zufällig verhedderte Fäden, erkannte Bina darin die Hand des großen Knotenmachers. Und ihren Glauben vergilt Landsman Bina mit dem Glauben an das Nichts.

»Nur wenn ich dein Gesicht sehe«, sagt Landsman.

20.

Landsman schnorrt vom Wochenendportier namens Krankheit ein halbes Dutzend Papirossen und schlägt dann eine Stunde tot, indem er drei von ihnen in Brand steckt, derweil die Berichte über den Toten von 208 ihr mitleidvolles Zeugnis aus Proteinen, Fettflecken und Staub mit ihm teilen. Wie Bina sagte, steht in keinem irgendwas Neues. Der Mörder scheint ein Profi gewesen zu sein, ein geschickter Schlosser, der keine Spur seiner Vorgehensweise hinterließ. Die Fingerabdrücke des Toten decken sich mit denen eines Menachem-Mendel Shpilman, der in den letzten zehn Jahren sieben Mal wegen Drogenbesitzes unter einer Vielzahl von Decknamen festgenommen wurde, darunter Wilhelm Steinitz, Aron Nimzovitch und Richard Réti. So viel ist klar, mehr nicht.

Landsman überlegt, ob er sich ein Bier bestellen soll, duscht jedoch stattdessen heiß. Der Alkohol hat ihn im Stich gelassen, bei dem Gedanken an Nahrung dreht sich ihm der Magen um, und, jetzt mal ehrlich, wenn er sich jemals wirklich hätte umbringen wollen, hätte er es längst getan. Gut, die Arbeit ist ein Witz; aber sie bleibt Arbeit. Das ist der wahre Inhalt des Akkordeonordners, den Bina ihm mitgebracht hat, ihre Botschaft an ihn über die tiefe Schlucht von Abteilungspolitik, ehelicher Entfremdung und die entgegengesetzten Vektoren ihrer Karrieren hinweg: Mach einfach weiter.

Landsman befreit seinen letzten sauberen Anzug aus dem Plastiksack, rasiert sich und bringt das Gewebe seines Filzhuts mit der Bürste zum Glänzen. Er hat heute keinen Dienst, aber Dienst zu haben bedeutet nichts, heute bedeutet nichts, nichts bedeutet irgendetwas außer einem sauberen Anzug, drei Broadways, dem Schwindel des Katers direkt hinter seinen Augen, dem Murmeln der Bürste auf dem whiskybraunen Filz des Hutes. Und, na gut, vielleicht die Spur von Binas Geruch im Hotelzimmer, ihres säuerlichen Kragens, ihrer Eisenkrautseife, des Majorandufts ihrer Achselhöhlen. Als Landsman mit dem Aufzug nach unten fährt, hat er das Gefühl, im letzten Moment aus dem näher rasenden Schatten eines hinabstürzenden Klaviers getreten zu sein, ein jazziges Schallen im Ohr. Der Knoten seiner gold-grünen Ripskrawatte drückt ihm auf den Kehlkopf, so wie ein Skrupel sein Schuldbewusstsein drückt, eine Erinnerung daran, dass er lebt. Sein Hut glänzt wie ein Seehundfell.

Die Max Nordau Street wurde nicht gepflügt; die Straßenarbeiter von Sitka, zu einem Rumpftrupp zusammengestrichen, beschränken sich auf Durchgangsstraßen und Autobahn. Landsman lässt seinen Super Sport in der Obhut des Parkhauswächters, nachdem er seine Gummigaloschen aus dem Kofferraum geholt hat. Dann stapft er vorsichtig durch die fußhohen Schneewehen zu Mabuhay Donuts auf der Monastir Street.

Der chinesische Donut nach Filipinoart, auch Schtekele genannt, ist das großartigste Geschenk des Distrikts Sitka an die Leckermäuler dieser Welt. In seiner jetzigen Form ist er auf den Philippinen nicht zu finden. Kein chinesischer Esser würde in ihm ein Produkt der heimischen Garküchen erkennen. Wie der sumerische Sturmgott Jahwe wurde das Schtekele nicht von den Juden erfunden, aber ohne die Juden und ihre Begierden würde sich die Welt weder Gottes noch des Schtekeles brüsten können. Ein nicht richtig süßes, nicht richtig salziges Röllchen frittierten Teigs, in Zucker gewälzt, außen knusprig, innen zart und durchsetzt von Luftblasen, stippt man das Schtekele in einen Pappbecher milchigen Tees, schließt die Augen und glaubt zehn fette Sekunden lang, eine flüchtige Ahnung von etwas Besserem zu bekommen.

Der verborgene Meister der chinesischen Donuts nach Filipinoart ist Benito Taganes, Inhaber und König der blubbernden Bottiche im Mabuhay. Der Laden — düster, eng, von der Straße aus unsichtbar — hat die ganze Nacht über geöffnet. Nach Geschäftsschluss nimmt er das Treibgut aus Bars und Cafés auf, versammelt die Bösen und die Schuldigen an seinem abgeplatzten Resopaltresen und summt vom Getratsch der Verbrecher, Polizisten, Schtarker und Schlemiele, Huren und Nachteulen. Wenn das Fett in den Fritteusen applaudiert, die Lüftung brüllt und der Streetblaster die todunglücklichen kundimans aus Benitos Kindheit in Manila plärrt, rückt die Kundschaft mit ihren Geheimnissen heraus. Eine goldene Wolke koscheren Öls hängt in der Luft und täuscht die Sinne. Wer könnte schon beim Blubbern des koscheren Fetts und dem Wehklagen von Diomedes Naturan jemanden belauschen? Doch Benito Taganes lauscht, und er vergisst nichts. Benito könnte einen Stammbaum von Alexei Lebed zeichnen, dem Häuptling der Russenmafia, nur bestände der nicht aus Großeltern und Nichten, sondern aus Kassierern, Killern und Briefkastenfirmen. Er könnte ein kundiman der Ehefrauen singen, die ihren einsitzenden Gatten treu blieben, und der Männer, die ihre Strafe absitzen, weil sie von ihren Frauen verpfiffen wurden. Er weiß, wer den Kopf von Furry Markov in der Garage aufbewahrt und welcher Inspector aus dem Rauschgiftdezernat auf der Lohnliste von Anatoly Moskowits, dem wilden Tier, steht. Bloß weiß außer Landsman niemand, dass Benito es weiß.

»Ein Donut, Reb Taganes«, sagt Landsman, als er aus der Gasse hineingestapft kommt und die Schneekruste von seinen Überschuhen schüttelt. Der Samstagnachmittag in Sitka liegt tot da wie ein gescheiterter Messias in seinem Lumpentuch aus Schnee. Es war niemand auf dem Gehsteig, kaum ein Auto auf der Straße. Aber hier bei Mabuhay Donuts lehnen sich drei oder vier Betrunkene vor dem nächsten Saufgelage, Zugvögel und Einzelgänger gegen die funkelnde, geharzte Theke, saugen den Tee aus ihrem Schtekele und arbeiten an der Berechnung ihres nächsten großen Fehlers.

»Nur einen?«, fragt Benito. Er ist ein gedrungener, dicker Mann mit der Hautfarbe des von ihm verkauften milchigen Tees, seine Wangen sind pockig wie zwei dunkle Monde. Er hat schwarzes Haar, obwohl er über siebzig ist. Als junger Mann war er auf Luzon Meister im Fliegengewicht, und mit seinen dicken Fingern und den tätowierten, salamiartigen Unterarmen hält man ihn für einen harten Burschen, was den Anforderungen seines Geschäfts entgegenkommt. Seine großen karamellbraunen Augen jedoch verraten ihn, deshalb ist sein Blick überschattet. Doch Landsman hat in sie hineingeschaut. Um sich einen Schanker zu halten, muss man auch in der ausdruckslosesten Visage das gebrochene Herz erkennen. »Sieht aus, als könnten Sie einen oder drei mehr vertragen, Detective.«

Mit dem Ellenbogen schiebt Benito den Neffen oder Cousin beiseite, den er an die Friteuse gestellt hat, und senkt schlangenbeschwörerisch ein Seil rohen Teigs ins Fett. Wenige Minuten später hält Landsman ein straff gewickeltes Papierpaket Himmel in der Hand.

»Ich habe die Informationen über die Tochter von Olivias Schwester«, nuschelt Landsman an einem warmen, zuckrigen Bissen vorbei.

Benito zapft eine Tasse Tee für Landsman und nickt in Richtung Gasse. Er zieht seinen Anorak über. Sie gehen nach draußen. Benito hakt einen Schlüsselbund aus seiner Gürtelöse und schließt eine Eisentür zwei Eingänge hinter Mabuhay Donuts auf. Dort hält sich Benito seine Geliebte Olivia in drei kleinen, ordentlichen Zimmern mit einem Warhol-Porträt der Dietrich an der Wand und dem bitteren Geruch von Vitaminen und verfaulten Gardenien in der Luft. Olivia ist nicht da. Die Dame ist in letzter Zeit immer häufiger im Krankenhaus, stirbt abschnittweise, am Ende jedes Kapitels ist ihr Überleben fraglich. Benito winkt Landsman in einen roten Ledersessel mit weißen Biesen. Natürlich hat Landsman keine Information für Benito über irgendeine Tochter von Olivias Schwester. Und Olivia ist eigentlich keine Dame, aber Landsman ist der Einzige, der dieses Geheimnis des Donutkönigs Benito Taganes kennt. Vor Jahren bedrängte ein Serienvergewaltiger namens Kohn Miss Olivia Lagdameo und fand ihr Geheimnis heraus. Die zweite große Überraschung für Kohn war in jener Nacht das zufällige Auftauchen des Streifenbeamten Landsman. Was Landsman mit Kohns Gesicht anstellte, führte dazu, dass der Mamser für den Rest seines Lebens nur noch undeutlich sprechen konnte. Also sorgt nicht das Geld, sondern eine Mischung aus Dankbarkeit und Scham dafür, dass die Informationen von Benito zu dem Mann fließen, der Olivia rettete.

»Schon mal was über den Sohn von Heskel Shpilman gehört?«, fragt Landsman und stellt Donuts und Teebecher ab. »Mendel heißt er.«

Benito steht da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie ein Junge, der in der Schule ein Gedicht aufsagen muss.

»Im Laufe der Jahre«, sagt er. »Dies und das. Junkie, oder?«

Landsman hebt lediglich eine struppige Augenbraue um fünf Millimeter. Fragen eines Schtinkers beantwortet man nicht, schon gar keine rhetorischen.

»Mendel Shpilman«, entscheidet sich Benito. »Hab ich vielleicht ein paar Mal gesehen. Lustiger Kerl. Spricht ein bisschen Tagalog. Singt ein kleines Filipino-Lied. Was ist passiert, ist er nicht tot?«

Immer noch schweigt Landsman, obwohl er Benny Taganes mag und es ihm immer etwas unhöflich vorkommt. Um sein Schweigen zu tarnen, greift er zum Schtekele und beißt ab. Die Hitze ist fort, aber das Gebäck ist noch warm und duftet nach Vanille, und die Kruste knirscht zwischen den Zähnen wie die Karamellglasur auf einer Schüssel Vanillepudding. Während der Bissen in Landsmans Mund verschwindet, beobachtet Benito ihn mit der abschätzenden Kühle eines Dirigenten bei der Probe eines Flötisten.

»Der ist gut, Benny.«

»Keine Beleidigung, Detective, ich bitte Sie.«

»Sorry, Benny.«

»Ich weiß, dass der gut ist.«

»Der Beste.«

»Nichts in Ihrem Leben kommt da nur entfernt dran.«

Damit trifft er den Nagel so auf den Kopf, dass die Erkenntnis Landsman stechende Tränen in die Augen treibt, und um das zu überspielen, isst er noch einen Donut.

»Jemand hat den Jid gesucht«, sagt Benito in seinem rauen, flüssigen Jiddisch. »Vor zwei, drei Monaten. Zwei oder drei Jemande.«

»Haben Sie die Jemande gesehen?«

Benito zuckt mit den Achseln. Seine Taktik und Arbeitsweise bleiben für Landsman ein Mysterium, ebenso seine Cousins und Neffen und das von ihm eingesetzte Netzwerk von Sub-Schtinkern.

»Jemand hat sie gesehen«, sagt er. »Vielleicht war ich es.«

»Waren es Schwarzhüte?«

Benito denkt länger über die Frage nach, und Landsman merkt, dass sie ihn auf eine Weise quält, die irgendwie akademisch, fast vergnüglich ist. Dann schüttelt er langsam und entschieden den Kopf.

»Keine Schwarzhüte«, sagt er. »Aber sie hatten Bärte.«

»Bärte? Meinen Sie, es waren religiöse Männer, oder was?«

»Kleine Jarmulkes. Gestutzte Bärte. Junge Männer.«

»Russen? Mit Akzent?«

»Wenn ich von diesen jungen Männern gehört habe, dann hat der, der davon erzählt hat, nichts von einem Akzent erwähnt. Wenn ich sie selbst gesehen habe, dann kann ich mich nicht erinnern, tut mir leid. Hey, was ist los, Detective, warum schreiben Sie nicht mit?«

Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit nahm Landsman Benitos Informationen demonstrativ immer sehr ernst. Jetzt fischt er seinen Block hervor und kritzelt ein, zwei Zeilen hinein, nur damit der Donutkönig glücklich ist. Er weiß nicht, was er davon halten soll, von zwei oder drei ordentlichen jungen Juden, religiös, aber keine Schwarzhüte.

»Und was genau wollten Sie bitte wissen?«, fragt er.

»Aufenthaltsort. Informationen.«

»Haben sie die bekommen?«

»Nicht bei Mabuhay Donuts. Nicht von einem Taganes.«

Benitos Shoyfer klingelt. Er klappt es auf und drückt es ans Ohr. Jegliche Härte verlässt die Falten um seinen Mund. Nun passt sein Gesicht zu seinen Augen, weich, überbordend vor Gefühl. Zärtlich quasselt er auf Tagalog los. Landsman hört den tiefen Klang seines eigenen Nachnamens.

»Wie geht es Olivia?«, fragt er Benito, als der aufgelegt und eine Kelle kalten Gipses in die Form seines Gesichts geschöpft hat.

»Sie kann nicht mehr essen«, sagt Benito. »Keine Schtekele mehr.«

»Das ist schade.«

Sie sind durch. Landsman steht auf, lässt den Block in seiner Jackentasche verschwinden und schiebt sich den letzten Bissen in den Mund. Er ist stärker und glücklicher, als er sich seit Wochen oder vielleicht Monaten gefühlt hat. Der Tod von Mendel Shpilman hat etwas, es ist eine Geschichte, an der er sich festhalten kann, sie schüttelt den Staub und die Spinnweben von ihm ab. Oder es liegt doch am Donut. Sie steuern auf die Tür zu, da legt Benito die Hand auf Landsmans Arm.

»Warum fragen Sie mich nicht noch etwas, Detective?«

»Was soll ich denn noch fragen, Benny?« Landsman runzelt die Stirn, verfällt etwas zweifelnd auf eine Frage. »Haben Sie heute vielleicht etwas gehört? Etwas von Verbov Island?« Es ist schwer vorstellbar, aber nicht undenkbar, dass die Nachricht vom Verbover Missfallen über Landsmans Besuch beim Rebbe bereits Benitos Ohren erreicht hat.

»Verbov Island? Nein, was anderes. Sie suchen doch noch den Zilberblat.«

Viktor Zilberblat ist einer von elf offenen Fällen, die Landsman und Berko jetzt effektiv lösen sollen. Zilberblat wurde im vergangenen März im Nachtasyl, dem alten deutschen Viertel, vor dem Gasthaus Hofbräu erstochen, nur wenige Häuserblocks entfernt. Das Messer war klein und stumpf, der Mord wirkte laienhaft.

»Der Bruder wurde gesehen«, sagt Benito Taganes. »Rafi. Schlich herum.«

Es tat niemandem leid, Viktor zu verlieren, am wenigsten seinem Bruder Rafael. Viktor hatte Rafael misshandelt, betrogen und gedemütigt und sich schließlich mit dessen Geld und Frau abgesetzt. Nach Viktors Tod verließ Rafael die Stadt mit unbekanntem Ziel. Zwei halbwegs zuverlässige Zeugen behaupten, er sei zwei Stunden vor beziehungsweise nach der wahrscheinlichen Tatzeit vierzig Meilen vom Nachtasyl entfernt gewesen. Aber Rafi Zilberblat hat eine lange, monotone Polizeiakte, und er käme gerade sehr gelegen, überlegt Landsman, angesichts des abgesenkten Beweisstandards, den die neue Dezernatspolitik mit sich bringt.

»Schlich wohin?«, fragt Landsman. Die Information ähnelt einem heißen Schluck schwarzen Kaffees. Landsman hat das Gefühl, sich gleich einer hundert Pfund schweren Schlange um Rafi Zilberblats Freiheit zu winden.

»Dieser Big-Macher-Laden, den es nicht mehr gibt, oben bei Granite Creek. Zilberblat wurde gesehen, wie er da rein- und rausschlich. Hatte Sachen dabei. Propangasflasche. Vielleicht wohnt er in dem leeren Laden.«

»Danke, Benny«, sagt Landsman. »Ich guck mal nach.«

Landsman beginnt, sich aus dem Apartment zu schieben. Benito Taganes hält ihn am Ärmel fest. Mit väterlicher Hand streicht er über Landsmans Mantelkragen. Er bürstet die Zimtzuckerkrümel fort.

»Ihre Frau«, sagt er. »Wieder da!«

»In all ihrer Herrlichkeit.«

»Nette Frau. Viele Grüße.«

»Ich sag ihr, dass sie mal vorbeikommen soll.«

»Nein, Sie sagen ihr nichts, Detective«, grinst Benito. »Sie ist jetzt Ihr Chef.«

»Sie war schon immer mein Chef, Benny«, sagt Landsman. »Jetzt ist es bloß offiziell.«

Das Grinsen verblinzelt, und Landsman wendet den Blick von Benito Taganes’ trauernden Augen ab. Benitos Lady ist jetzt eine stimmlose, schattenhafte kleine Frau, aber in ihrer Blütezeit benahm sich Miss Olivia wie der Chef der halben Welt.

»Besser für Sie«, sagt Benito. »Brauchen Sie.«

21.

Landsman schnallt ein zusätzliches Magazin an seinen Gürtel und fährt, vorbei an Halibut Point, hinaus ins Nordend, wo sich die Stadt zerstreut und das Wasser über das Land greift wie der Arm eines Polizisten. Direkt neben der Ickes-Autobahn liegt das Wrack des Einkaufszentrums und markiert das Ende der Träume des jüdischen Sitka. Der Drang, jeden vorhandenen Raum von hier bis Yakovy mit allen Juden der Welt zu füllen, verendete auf diesem Parkplatz. Es gab keinen dauerhaften Status, keinen Zustrom frischen Judenfleisches aus den bitteren Winkeln und dunklen Gassen der Diaspora. Die geplanten Sozialbauten blieben Striche auf blauem Papier und verendeten in einer Stahlschublade.

Das Outlet-Center von Big Macher in Granite Creek machte vor ungefähr zwei Jahren dicht. Seine Tore sind mit Ketten verhängt, und entlang der fensterlosen Flanke, wo jiddische und römische Lettern den Namen des Geschäfts buchstabieren, findet sich lediglich eine kryptische Folge von Löchern, Dominopunkte, ein Braille des Misserfolgs.

Landsman lässt sein Auto am Mittelstreifen stehen und marschiert über die gewaltige gefrorene Leere des Parkplatzes zum Eingang. Der Schnee liegt hier nicht so hoch wie in den Straßen des Zentrums. Der Himmel ist fern und blassgrau, getigert mit dunkelgrauen Streifen. Schnaufend stapft Landsman auf die Glastüren zu, deren Griffe wie Arme mit einer baumelnden, blauen, gummiummantelten Kette gefesselt sind. Landsman stellt sich vor, wie er mit gezücktem Ausweis an diese Türen klopft, dass seine Selbstsicherheit wie ein Kraftfeld vibriert, und wie dieser schleichende Windhund von Mann, dieser Rafi Zilberblat, jeden Moment dämlich blinzelnd in den schneestrahlenden Tag tritt.

Wie eine dicke, brummende Fliege schwärzt die erste Kugel die Luft neben Landsmans rechtem Ohr. Er weiß nicht mal, dass es eine Kugel ist, bis er eine schallgedämpfte Explosion und das Kreischen von Glas hört oder zu hören vermeint. Aber da fällt er auch schon bäuchlings in den Schnee, drückt sich flach auf den Boden. Der nächste Schuss streift seinen Hinterkopf und verbrennt seinen Schädel wie eine von einem Streichholz entzündete Benzinspur. Landsman zerrt seine Scholem hervor, aber da ist ein Spinngewebe in seinem Kopf oder auf seinem Gesicht, und eine reuige Lähmung ergreift ihn. Sein Plan war gar kein Plan, und jetzt ist er schiefgegangen. Er hat keine Unterstützung. Niemand weiß, wo er ist, nur Benito Taganes mit seinem Sirupblick und seinem alles erdrückenden Schweigen. Landsman wird auf einem verlassenen Parkplatz am Ende der Welt sterben. Er schließt die Augen. Er öffnet sie wieder, und das Spinngewebe ist dichter geworden, sonderbare Tautropfen funkeln darin. Schritte im Schnee, mehr als eine Person, Landsman hebt die Waffe und zielt durch die funkelnden Fasern dessen, was in seinem Kopf schiefläuft. Er drückt ab.

Es gibt einen Schmerzschrei, einen weiblichen, einen Atemstoß, dann wünscht ihm eine Dame den Krebs an die Hoden. Schnee liegt auf Landsmans Ohren und schmilzt seinen Mantelkragen hinunter bis in den Nacken. Jemand greift nach seiner Pistole und versucht, ihn auf die Füße zu ziehen. Popcornatem. Als Landsman sich torkelnd aufrichtet, breitet sich das Band über seinen Augen aus. Er sieht die schnurrbärtige Fratze von Rafi Zilberblat und neben dem Eingang vom Big Macher eine auf dem Rücken liegende mollige Wasserstoffblondine, deren Leben aus dem Bauch in den dampfenden roten Schnee gepumpt wird. Und zwei Pistolen, eine davon in Zilberblats Hand, die auf Landsmans Kopf gerichtet sind. Als Landsman die Automatik schimmern sieht, lösen sich die Spinnweben von Reue und Selbstbeschuldigung auf. In der Luft liegt das Aroma von Popcorn, es zieht aus dem verlassenen Geschäft und verändert Landsmans Wahrnehmung des Blutgeruchs, lässt ihn süßer erscheinen. Landsman duckt sich und lässt seine Smith & Wesson los.

Zilberblat reißt so heftig an der Waffe, dass er rückwärts in den Schnee stolpert, als Landsman sie aufgibt. Jetzt agiert Landsman nur noch, ohne einen Gedanken im Kopf. Er entreißt dem Gegner seine Scholem, dreht sie in der Hand, und die Welt zieht am Abzug aller Waffen. Zilberblat wächst ein Horn aus Blut oben aus dem Kopf. Jetzt sind die Spinnweben in Landsmans Ohren. Er hört nur noch den Atem hinten in seinem Hals und sein pulsierendes Blut.

Einen Augenblick lang breitet sich wie ein Regenschirm ein sonderbarer Friede über Landsman aus, als er sich auf den Mann setzt, den er gerade umgebracht hat. Seine Knie brennen im Schnee. Er besitzt noch die Geistesgegenwart, zu erkennen, dass diese Ruhe nicht unbedingt ein gutes Zeichen ist. Dann drängen sich langsam Zweifel um das Bewusstsein, was für eine Schweinerei er veranstaltet hat, Zuschauer, die sich um einen gesprungenen Selbstmörder sammeln. Landsman taumelt auf die Füße. Auf seinem Mantel sieht er das geronnene Blut, Hirnfetzen, einen Zahn.

Zwei tote Menschen im Schnee. Der Geruch von Popcorn, ein buttriger Fußgestank, überwältigt ihn.

Während er seine Gedärme mit aller Macht in den Schnee zu kotzen versucht, kommt ein weiterer Mann aus dem Big Macher geschlendert. Ein junger Mann mit einem Rattengesicht und trottendem Gang. Landsman hat gerade noch genug Verstand, in ihm einen Zilberblat zu erkennen. Dieser Zilberblat hat die Arme erhoben und einen verstörten Gesichtsausdruck. Seine Hände sind leer. Doch als er den blutenden und auf allen vieren kotzenden Landsman sieht, gibt er sein Kapitulationsprojekt auf. Er hebt die Automatik an, die neben dem Wrack seines Bruders liegt. Landsman kommt schwankend zum Stehen, und die Feuerspur an seinem Hinterkopf lodert auf. Er spürt, dass der Boden einbricht, und dann umgibt ihn nur noch schallende Schwärze.

Nachdem er gestorben ist, wacht er mit dem Gesicht im Schnee auf. Er spürt keine Kälte an den Wangen. Das wilde Klingeln in seinen Ohren ist fort. Er krümmt sich hoch, bis er sitzt. Das Blut von seinem Hinterkopf hat Rhododendren in den Schnee gemalt. Der Mann und die Frau, die er erschossen hat, haben sich nicht bewegt, aber es gibt keine Spur des jungen Zilberblats, der auf ihn schoss oder nicht und ihn tötete oder nicht. Mit plötzlicher Klarheit und wachsendem Argwohn, er könne tatsächlich zu sterben versäumt haben, klopft sich Landsman ab. Seine Uhr, seine Brieftasche, die Autoschlüssel, das Handy, die Pistole und die Dienstmarke sind fort. Landsman schaut nach seinem in der Ferne an der Parallelstraße geparkten Wagen. Als er sieht, dass sein Super Sport weg ist, weiß er, dass er noch lebt, weil nur das Leben selbst einen derart bitteren Anblick bieten kann.

»Noch so ein verwichster Zilberblat«, sagt er. »Die sind doch alle gleich.«

Ihm ist kalt. Er überlegt, ins Big Macher zu gehen, aber der Popcorngestank hält ihn ab. Er wendet sich von den gähnenden Eingangstüren ab und hebt den Blick zum hohen Hügel und den Bergen dahinter, schwarz vor Bäumen. Dann setzt er sich in den Schnee. Nach einer Weile legt er sich hin. Es ist kuschelig und gemütlich, es riecht nach kaltem Staub, und er schließt die Augen und schläft ein, zusammengerollt in seinem netten, kleinen, dunklen Loch in der Wand des Hotel Zamenhof, und zum ersten Mal im Leben stört ihn seine Platzangst nicht, nicht ein bisschen.

22.

Landsman hält einen kleinen Jungen im Arm. Das Baby weint, ohne triftigen Grund. Sein Geheul schnürt Landsmans Herz auf angenehme Weise zu. Erleichtert stellt er fest, dass er ein dickes, hübsches Kind hat, das nach Waffeln und Seife riecht. Er drückt die kleinen Speckfüße, schätzt das Gewicht dieses kleinen Großväterchens in seinen Armen, geringfügig und enorm zugleich. Landsman dreht sich zu Bina um, will ihr die gute Nachricht mitteilen: Es war alles ein Fehler. Hier ist dein kleiner Sohn. Aber es ist keine Bina da, der er es sagen könnte, in Landsmans Nase hält sich nur die Erinnerung an Regen in ihrem Haar. Dann wacht Landsman auf und erkennt, dass das weinende Baby Pinky Shemets ist, dessen Windel gewechselt wird oder der Protest über dieses oder jenes anmeldet. Landsman blinzelt, und die Welt drängt sich ihm in Form eines gebatikten Wandbehangs auf. Als wäre es das erste Mal, höhlt ihn der Verlust seines Sohnes völlig aus.

Landsman liegt im Bett von Berko und Ester-Malke, auf der Seite, mit dem Gesicht zur Wand, und blickt auf die eingefärbte Szene balinesischer Gärten und Wildvögel. Jemand hat ihn entkleidet, bis auf die Unterhose. Er setzt sich auf. Die Haut an seinem Hinterkopf kribbelt, dann strafft sich eine Schnur des Schmerzes. Landsman betastet seine Verletzung. Seine Finger treffen auf einen Verband, ein knittriges Rechteck aus Mull und Pflaster. Drum herum ein sonderbar haarloses Stück Kopfhaut. Klatschend purzeln Erinnerungen übereinander wie die Tatortfotos aus Dr. Shpringers Todeskamera. Ein heiterer Sanitäter von der Notaufnahme, ein Röntgenbild, eine Morphiumspritze, ein dräuender, mit Betadine getränkter Tupfer. Davor: der Lichtstreifen einer Straßenlaterne an der weißen Vinyldecke des Krankenwagens. Und davor, vor der Fahrt mit dem Krankenwagen: violetter Schneematsch. Auf dem Boden verteilte, dampfende menschliche Eingeweide. Eine Hornisse an seinem Ohr. Ein roter Strahl, der aus der Stirn von Rafi Zilberblat schießt. Ein Code von Löchern in einer leeren Gipswand. Landsman flieht so hastig vor der Erinnerung an das, was auf dem Parkplatz des Big Macher geschah, dass er geradewegs in den stechenden Schmerz läuft, den kleinen Django Landsman in seinem Traum verloren zu haben.

»Wehe mir«, sagt Landsman. Er wischt sich über die Augen. Er würde jetzt eine Drüse oder ein kleineres Organ für eine Papiros geben.

Die Schlafzimmertür öffnet sich, und Berko kommt mit einer fast noch vollen Packung Broadways herein.

»Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich dich liebe?«, sagt Landsman, wohl wissend, dass er es noch nie getan hat.

»Hast du nicht, zum Glück«, sagt Berko. »Die habe ich von unserem Nachbarn, von Fried. Ich habe gesagt, die Schachtel wäre polizeilich beschlagnahmt.

»Ich bin dir wahnsinnig dankbar.«

»Man beachte das Adverb.«

Dann merkt Berko, dass Landsman geweint hat; eine Augenbraue schießt hoch, schwebt oben und senkt sich wieder wie eine Decke auf einen Tisch.

»Ist der Kleine in Ordnung?«, fragt Landsman.

»Zahnt.« Berko nimmt einen Bügel von einem Haken an der Schlafzimmertür. Auf dem Bügel hängt Landsmans Kleidung, sauber und ausgebürstet. Berko betastet die Seitentasche von Landsmans Sakko und holt ein Streichholzheft hervor. Er stellt sich neben das Bett und hält ihm Papirossen und Zündhölzer hin.

»Ich kann nicht behaupten«, sagt Landsman, »dass ich wüsste, was ich hier tue.«

»Es war Ester-Malkes Idee. Wir wissen ja, was du von Krankenhäusern hältst. Man meinte, du müsstest nicht dableiben.«

»Setz dich doch!«

Es gibt keinen Stuhl im Zimmer. Landsman rutscht zur Seite, und Berko hockt sich auf die Bettkante, was bei den Federn einen Alarm auslöst.

»Ist das wirklich in Ordnung, wenn ich hier rauche?«

»Eigentlich nicht, nein. Stell dich ans Fenster.«

Landsman hievt sich aus dem Bett. Als er die Bambusjalousie hochrollt, wundert er sich ein wenig, dass es draußen in Strömen regnet. Regengeruch weht durch die fünf Zentimeter, die er das Fenster hochgekurbelt hat, und erklärt den Geruch von Binas Haar in Landsmans Traum. Er schaut hinunter auf den Parkplatz des Apartmenthauses und sieht, dass der Schnee geschmolzen und fortgewaschen ist. Auch das Licht kommt ihm völlig falsch vor.

»Wie viel Uhr ist es?«

»Sechzehn Uhr zweiunddreißig«, sagt Berko, ohne auf die Uhr zu sehen.

»Welcher Tag ist heute?«

»Sonntag.«

Landsman kurbelt das Fenster noch weiter auf und schwingt die linke Hinterbacke auf die Fensterbank. Regen fällt auf seinen schmerzenden Kopf. Er zündet die Papiros an, nimmt einen langen Zug und versucht zu entscheiden, ob ihn diese Information verwirrt.

»Ist lange her«, sagt er. »Dass ich einen ganzen Tag geschlafen habe.«

»Dann hast du es wohl gebraucht«, stellt Berko kühl fest. Ein Seitenblick in Landsmans Richtung. »Ester-Malke hat dich übrigens ausgezogen. Nur damit du Bescheid weißt.«

Landsman ascht aus dem Fenster.

»Ich wurde angeschossen.«

»Streifschuss. Die meinten, es wäre eher eine Art Verbrennung. Musste nicht genäht werden.«

»Es waren drei. Rafael Zilberblat. Ein Pischer, ich denke, das war sein Bruder. Und so ’n Huhn. Der Bruder hat mein Auto geklaut, meine Brieftasche. Meine Dienstmarke und meine Scholem. Und mich da liegen lassen.«

»So wurde es rekonstruiert.«

»Ich wollte telefonieren, aber das kleine Rattengesicht hat mir auch mein Shoyfer geklaut.«

Bei der Erwähnung von Landsmans Handy muss Berko grinsen.

»Was ist?«, sagt Landsman.

»Der Pischer ist mit deinem Auto durch die Gegend gekurvt. Nördlich nach Ickes, dann Richtung Yakovy, Fairbanks, Irkutsk.«

»Aha.«

»Dein Telefon klingelte. Der Pischer ging dran.«

»Und du warst dran?«

»Bina.«

»Nicht schlecht.«

»Sie spricht keine zwei Minuten mit dem kleinen Zilberblat und weiß anschließend seinen Aufenthaltsort, seine Personenbeschreibung und den Namen des Hundes, den er mit elf Jahren hatte. Fünf Minuten später wurde er vor Krestov von zwei Latkes aufgegriffen. Dein Auto ist in Ordnung. In der Brieftasche war sogar noch Bargeld.«

Landsman tut so, als finde er es interessant, wie das Feuer aus dem getrockneten Tabak Ascheflocken macht.

»Und meine Dienstmarke und meine Waffe?«, fragt er.

»Ah.«

»Ah.«

»Deine Dienstmarke und deine Waffe sind jetzt in den Händen deiner Vorgesetzten.«

»Hat sie vor, sie zurückzugeben?«

Berko streicht über die Dellen, die Landsman im Bett hinterlassen hat.

»Es passierte doch in Ausübung meiner Pflicht!«, sagt Landsman, und selbst in seinen Ohren klingt es weinerlich. »Ich hab einen Tipp gekriegt wegen Rafi Zilberblat.« Er zuckt mit den Achseln und fährt mit den Fingern am Verband an seinem Hinterkopf entlang. »Ich wollte einfach nur mit dem Jid reden.«

»Du hättest mich anrufen sollen.«

»Ich wollte dich nicht an einem Samstag stören.«

Das ist keine Entschuldigung, und es kommt noch lahmer heraus, als Landsman gehofft hat.

»Nu, ich bin ein Idiot«, gibt er zu. »Und ein schlechter Polizist.«

»Regel Nummer eins.«

»Ich weiß. Ich wollte nur einfach etwas tun, ohne lange zu warten. Ich hab nicht gedacht, dass es so laufen würde.«

»Jedenfalls dieser Pischer«, sagt Berko. »Der kleine Bruder. Nennt sich Micky Zilberblat. Hat für seinen toten Bruder gestanden. Rafi hat Viktor tatsächlich umgebracht. Mit einer halben Schere.«

»Sieh mal einer an.«

»Wenn sich sonst nichts ändert, würde ich sagen, dass Bina guten Grund hat, sich über dich zu freuen. Du hast den Fall sehr effektiv gelöst.«

»Mit einer halben Schere.«

»Das nenne ich einfallsreich!«

»Sehr sparsam.«

»Und das Huhn, das du so grob behandelt hast — das warst du doch, oder?«

»Ja.«

»Nu, gut gemacht, Meyer.« Keine Ironie in Berkos Gesicht oder Stimme. »Du hast Yacheved Flederman eine Kugel verpasst.«

»Kann nicht sein!«

»War kein schlechter Tag für dich.«

»Diese Krankenschwester?«

»Unsere Kollegen von der B-Mannschaft sind ganz entzückt von dir.«

»Die diesen alten Opi umgebracht hat, wie hieß er noch, Herman Pozner?«

»Das war ihr einziger offener Fall letztes Jahr. Die dachten, Flederman wäre in Mexiko.«

»Fuck me«, sagt Landsman.

»Tabatchnik und Karpas haben schon bei Bina ein gutes Wort für dich eingelegt, wie ich gehört habe.«

Landsman drückt die Papiros an der Außenwand des Hauses aus und schnippt sie in den Regen. In Wirklichkeit treten Tabatchnik und Karpas Landsman und Shemets in den Arsch, und zwar so richtig.

»Selbst wenn ich mal Glück habe«, sagt Landsman, »habe ich Pech.« Er seufzt. »Hat man was von Verbov Island gehört?«

»Keinen Mucks.«

»Nichts in der Zeitung?«

»Weder in der Licht noch in der Rut.« Das sind die führenden Tageszeitungen der Schwarzhüte. »Ich habe keine Gerüchte gehört. Niemand redet davon. Nichts. Totenstille.«

Landsman rutscht von der Fensterbank und geht zum Telefon auf dem Nachttisch. Er wählt eine Nummer, die er vor Jahren auswendig gelernt hat, stellt eine Frage, erhält die Antwort und legt wieder auf.

»Die Verbover haben gestern Abend Mendel Shpilmans Leiche abgeholt.«

Das Telefon in Landsmans Hand zuckt und zirpt wie ein Computervogel. Er reicht es Berko.

»Scheint ihm gut zu gehen«, sagt Berko nach einer kurzen Pause. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass er Ruhe braucht.

In Ordnung.« Er lässt den Hörer sinken und sieht Landsman an, bedeckt die Sprechmuschel mit dem Daumen. »Deine Ex.«

»Ich höre, es geht dir gut«, sagt Bina, als Landsman sich meldet.

»So sagt man mir«, sagt Landsman.

»Lass dir Zeit«, schlägt sie vor. »Gönn dir eine Pause, Meyer.«

Die Bedeutung ihrer Worte braucht eine Sekunde, bis sie bei ihm ankommt, so liebevoll und beruhigend ist ihre Stimme.

»Das machst du nicht«, sagt er. »Bitte, Bina, sag, dass das nicht stimmt.«

»Zwei Tote, Meyer. Aus deiner Waffe. Keine weiteren Zeugen außer einem Jungen, der nichts mitbekommen hat. Das läuft automatisch so. Suspendiert bei vollem Gehalt, Untersuchung durch die Behörde anhängig.«

»Die haben auf mich geschossen, Bina. Ich hatte einen zuverlässigen Tipp bekommen, bin mit meiner Waffe im Holster hingegangen, zahm wie ein Mäuschen. Und die ballern auf mich los.«

»Du bekommst natürlich die Gelegenheit, deine Geschichte zu erzählen, Meyer. Bis dahin bewahre ich deine Dienstmarke und deine Waffe in der süßen, kleinen rosa Hello-Kitty-Tasche auf, mit der Micky Zilberblat herumlief, in Ordnung? Und du versuchst einfach, wieder gesund zu werden, ja?«

»Das kann Wochen dauern, bis die Sache geklärt ist, Bina«, sagt Landsman. »Bis ich zurück im Dienst bin, gibt es vielleicht gar kein Sitka Central mehr. Bina, es gibt keinen Grund für eine Suspendierung. Das weißt du ganz genau. Unter diesen Umständen kannst du mich im Dienst lassen, solange die Untersuchung läuft, und die Sache völlig nach Vorschrift durchziehen.«

»Es gibt Vorschriften«, sagt Bina. »Und Vorschriften.«

»Red nicht in Rätseln, Bina«, sagt er, und dann: »What the fuck?«

Mehrere Sekunden lang antwortet Bina nicht.

»Chief Inspector Vayngartner hat mich angerufen. Gestern Abend«, sagt sie. »Nicht lange nach Anbruch der Dunkelheit.«

»Aha.«

»Er meinte, er hätte gerade einen Anruf bekommen. Und zwar zu Hause. Und ich nehme an, der geschätzte Herr am anderen Ende war möglicherweise etwas verstimmt über das Benehmen, das Detective Meyer Landsman in der Nachbarschaft dieses Herrn am Freitagabend an den Tag legte. Öffentliche Ruhestörung. Große Respektlosigkeit vor den Anwohnern. Ohne Genehmigung und Rückendeckung.«

»Und was sagte Vayngartner dazu?«

»Er meinte, du wärst ein guter Polizist, aber hättest bekanntlich gewisse Probleme.«

Da ist er, Landsman, der Spruch für deinen Grabstein.

»Und was hast du Vayngartner gesagt?«, fragt er. »Als er anrief und deinen Samstagabend ruinierte?«

»Mein Samstagabend. Der ist wie ein Mikrowellen-Burrito, Meyer. Ziemlich schwer, etwas zu ruinieren, das von vornherein so schlecht ist. Zufälligerweise sagte ich Chief Inspector Vayngartner, dass du gerade angeschossen wurdest.«

»Und was meinte er darauf?«

»Er meinte, angesichts dieser frischen Beweise müsste er seine langgehegten atheistischen Grundsätze doch noch einmal überdenken. Und dass ich alles in meiner Macht Stehende tun sollte, damit es dir gut ginge und du in nächster Zeit viel Ruhe bekämst. Und genau das mache ich. Du bist suspendiert, bei vollem Gehalt, bis auf Weiteres.«

»Bina! Bitte, Bina. Du weißt, wie ich bin.«

»Allerdings.«

»Wenn ich nicht arbeiten kann … Du kannst nicht …«

»Ich muss, Meyer.« Die Temperatur ihrer Stimme fällt so schnell, dass sich Eiskristalle in der Leitung bilden. »Du weißt, wie wenig Entscheidungsfreiheit ich in so einer Situation habe.«

»Du meinst, wenn solche Schurken an den Fäden ziehen, um eine Mordermittlung aufzuhalten? Meinst du so eine Situation?«

»Ich muss mich vor dem Chief Inspector verantworten«, erklärt Bina, als spreche sie mit einem Esel. Sie weiß ganz genau, dass Landsman nichts mehr hasst, als wie ein Dummkopf behandelt zu werden. »Und du musst dich vor mir verantworten.«

»Hättest du mich bloß nicht angerufen, Bina«, sagt Landsman nach einer Weile. »Du hättest mich einfach sterben lassen sollen.«

»Sei nicht so melodramatisch«, sagt Bina. »Ach ja: gern geschehen.«

»Und was soll ich jetzt machen, außer dankbar sein, dass man mir die Eier abschneidet?«

»Das ist deine Sache, Detective. Vielleicht versuchst du mal zur Abwechslung, über die Zukunft nachzudenken.«

»Die Zukunft«, sagt Landsman. »Was meinst du damit, fliegende Autos? Hotels auf dem Mond?«

»Ich meine deine Zukunft, Meyer.«

»Fliegst du mit mir zum Mond, Bina? Hab gehört, da nehmen sie noch Juden.«

»Auf Wiedersehen, Meyer.«

Sie legt auf. Landsman unterbricht die Verbindung ebenfalls und steht eine geschlagene Minute lang da. Berko beobachtet ihn vom Bett aus. Landsman spürt, wie eine letzte Welle von Wut und Begeisterung durch ihn hindurchrollt, so als würde ein Rohr von einem Dreckpfropfen gereinigt. Dann ist er leer.

Er setzt sich aufs Bett. Er schlüpft unter die Decke, wendet das Gesicht der balinesischen Szene an der Wand zu und schließt die Augen.

»Ähm, Meyer?«, sagt Berko. Aber Landsman antwortet nicht. »Hast du vor, noch länger in meinem Bett zu bleiben?«

Landsman sieht null Prozent Wahrscheinlichkeit, die Frage zu beantworten. Nach einer Minute springt Berko von der Matratze auf. Landsman spürt, dass er die Lage abschätzt und die Tiefe des schwarzen Wassers zu ergründen versucht, das ihn von seinem Kollegen trennt, dass Berko versucht, die richtige Entscheidung zu treffen.

»Nur dass du’s weißt«, sagt Berko schließlich. »Bina war auch in der Notaufnahme.«

Landsman stellt fest, dass er keine Erinnerung an ihren Besuch hat. Sie ist fort, genauso wie der Druck des Babyfußes gegen seine Handfläche.

»Du warst ziemlich vollgepumpt«, sagt Berko. »Hast eine Menge Blödsinn erzählt.«

»Hab ich mich in eine peinliche Lage gebracht?«, stößt Landsman mit schwacher Stimme hervor.

»Ja«, sagt Berko. »Ich fürchte, ja.«

Dann zieht er sich aus seinem eigenen Schlafzimmer zurück und lässt Landsman allein, um sich den Kopf über die Frage zu zerbrechen — falls er denn die Kraft aufbringt —, wie tief er noch sinken kann.

Landsman kann hören, wie sie mit unterdrückter Stimme über ihn reden, eine normalerweise für Verrückte, Arschlöcher und ungewollte Gäste reservierte Lautstärke. Den Rest des Nachmittags und als sie zu Abend essen. Während des Tohuwabohus von Baden, Popopudern und einer Gutenachtgeschichte, die von Berko Shemets verlangt, wie ein Esel zu schreien. Landsman liegt mit der brennenden Wunde am Hinterkopf auf der Seite und fällt zum Regengeruch von draußen, zum Gemurmel und Gezeter der Familie nebenan von einer Ohnmacht in die nächste. Jede Stunde wird Landsmans Seele durch ein winziges Loch mit einem zusätzlichen Zentner Sand gefüllt. Zuerst kann er seinen Kopf nicht mehr von der Matratze heben. Dann bekommt er die Augen nicht mehr auf. Aber als seine Augen geschlossen sind, kann er nicht richtig schlafen; die Gedanken, die ihn plagen, sind scheußlich, aber keine richtigen Träume.

Irgendwann mitten in der Nacht kommt Goldy ins Zimmer getapert. Er geht schwerfällig, trampelt, der Schritt eines Babymonsters. Goldy steigt nicht einfach ins Bett, er quirlt sich unter die Decke, so wie ein Schneebesen einen Teig quirlt. Es ist, als würde er vor etwas fliehen, erfüllt von Panik, aber als Landsman ihn anspricht, ihn fragt, was los sei, antwortet der Junge nicht. Er hat die Augen geschlossen, sein Herz klopft langsam und gleichmäßig. Wovor auch immer er weggelaufen ist, er hat Zuflucht im Bett seiner Eltern gefunden. Das Kind schläft tief und fest. Es riecht wie eine langsam vor sich hin faulende Apfelspalte. Beharrlich und gnadenlos gräbt Goldy seine Zehen in Landsmans Kreuz. Er knirscht mit den Zähnen. Es klingt wie eine stumpfe Schere, die ein Blech schneiden soll.

Nach einer Stunde derartiger Behandlung beginnt gegen halb fünf das Baby zu schreien, draußen auf seinem kleinen Balkon. Landsman hört, wie Ester-Malke es zu trösten versucht. Normalerweise würde sie es mit ins Bett nehmen, aber das geht heute nicht, und sie braucht lange, um das Großväterchen zur Ruhe zu bringen. Als Ester-Malke mit dem Baby im Arm ins Schlafzimmer kommt, schnieft es nur noch leise und ist fast eingeschlafen. Ester-Malke legt Pinky zwischen seinem Bruder und Landsman ab und verschwindet wieder.

Vereint im Bett ihrer Eltern, veranstalten die Shemets-Jungen mit den körpereigenen Ventilen ein Gepfeife, Gegrummel und Geblöke, das die große Orgel im Tempel Emanu-El beschämen würde. Die Jungen vollführen eine Manöverübung, ein schlummerndes Kung-Fu, das Landsman an den äußersten Rand des Bettes treibt. Sie hauen auf ihn ein, stechen ihn mit ihren Zehen, grunzen und knurren. Sie kauen an den Fasern ihrer Träume. In der Dämmerung passiert etwas Schreckliches in der Windel des Babys. Es ist die furchtbarste Nacht, die Landsman je auf einer Matratze verbracht hat, und das will schon etwas heißen.

Gegen sieben beginnt die Kaffeemaschine mit dem Abhusten. Mehrere tausend Moleküle Kaffeedampf stürzen ins Schlafzimmer und alarmieren die Härchen in Landsmans Nase. Er hört Schlappen über den Teppich im Flur schlurfen. Lange kämpft er vehement gegen den Impuls, zur Kenntnis zu nehmen, dass Ester-Malke in der Schlafzimmertür steht und ihn und jede Anwandlung von Mitleid ihm gegenüber verwünscht, die sie je empfunden hat. Es ist ihm egal. Warum sollte es ihn kümmern? Zuletzt erkennt Landsman, dass in seinem Bemühen, sich um nichts zu kümmern, der paradoxe Same der Niederlage liegt: okay, na gut, es kümmert ihn. Er öffnet ein Auge. Ester-Malke lehnt im Türrahmen, die Arme um sich geschlungen, und besichtigt den Ort der Zerstörung, ehemals ihr Bett. Wie auch immer das Gefühl heißt, das der Anblick der niedlichen Kinder in einer Mutter auslöst, es konkurriert mit dem erschreckten Entsetzen beim Anblick von Landsman in seiner Unterhose.

»Du musst raus aus meinem Bett«, flüstert sie. »Und zwar schnell und langfristig.«

»Gut«, sagt Landsman. Er taxiert seine Verletzungen, seine Schmerzen und die vorherrschende Richtung seiner Laune und setzt sich auf. Trotz der Qualen der vergangenen Nacht fühlt er sich sonderbar besänftigt. Irgendwie wacher in seinen Gliedern, seiner Haut und seinen Sinnen. Vielleicht irgendwie ein klein wenig realer. Seit über zwei Jahren hat er nicht mehr mit einem anderen Menschen im Bett geschlafen. Er fragt sich, ob das eine Erfahrung ist, auf die er besser nicht hätte verzichten sollen. Er nimmt seine Klamotten vom Haken hinter der Tür und zieht sie an. Mit den Socken und dem Gürtel in der Hand folgt er Ester-Malke den Flur hinunter.

»Obwohl, die Couch hat so ihre Vorteile«, fährt Ester-Malke fort. »Zum Beispiel liegen da keine Babys oder Vierjährige.«

»Eure Kinder haben ein ernsthaftes Problem mit den Fußnägeln«, sagt Landsman. »Außerdem ist irgendwas in der Windel vom Kleinen gestorben und rottet da vor sich hin, ich glaube, es ist ein Seeotter.«

In der Küche schenkt Ester-Malke ihnen eine Tasse Kaffee ein. Dann geht sie zur Tür und holt die Tog von der Matte, auf der »HAU AB« steht. Landsman sitzt auf dem Barhocker an der Theke und starrt in die Düsternis des Wohnzimmers, wo sich die Masse seines Kollegen wie eine Insel vom Boden erhebt. Die Couch ist ein Wrack voller Decken.

Gerade will Landsman zu Ester-Malke sagen, Solche Freunde wie euch habe ich nicht verdient, als sie mit der Zeitung in die Küche kommt und sagt: »Kein Wunder, dass du so lange geschlafen hast.« Sie läuft gegen den Türrahmen. Auf dem Titelblatt steht etwas Gutes oder Schreckliches oder Unglaubliches.

Landsman greift zu seiner Lesebrille in der Jackentasche. Der Steg ist gebrochen, die Gläser sind voneinander getrennt. Jetzt sind es zwei Monokel mit Stiel. Aus der Schublade unter dem Telefon holt Ester-Malke Isolierband, gelb wie ein Warnschild. Sie klebt Landsmans Brillengläser zusammen und gibt ihm seine Lesehilfe zurück. Der Klebebandknubbel ist so dick wie eine Haselnuss. Er zieht den Blick des Trägers auf sich, sodass man schielt.

»Das sieht bestimmt richtig gut aus«, sagt Landsman und greift zur Zeitung.

Zwei große Meldungen führen die Nachrichten in der morgendlichen Tog an. Die eine berichtet über eine Schießerei auf dem verlassenen Parkplatz des Outlet-Centers Big Macher, bei dem zwei Personen ums Leben kamen. Hauptdarsteller waren ein einsamer Beamter der Mordkommission, Meyer Landsman, 42, und zwei Verdächtige, die schon lange von den Gesetzesvertretern Sitkas im Zusammenhang mit zwei augenscheinlich unabhängigen Morden gesucht wurden. Die andere Überschrift lautet:

»JUNGER TZADDIK« TOT IN HOTEL GEFUNDEN

Der Begleittext webt ein Netz von Wundern, Ausflüchten und kompletten Lügen um das Leben und Sterben von Menachem-Mendel Shpilman am späten Donnerstagabend im Hotel Zamenhof auf der Max Nordau Street. Nach Angaben der Rechtsmedizin — der Rechtsmediziner selbst sei nach Kanada verzogen — ist die vorläufige Feststellung der Todesursache in Märchenkreisen unter der Bezeichnung »Unfall unter Drogeneinfluss« bekannt. »Auch wenn der Außenwelt kaum bekannt«, schreibt der Mann von der Tog, »wurde Mr. Shpilman in der abgeschirmten Welt der Gläubigen einen Großteil seines Lebens als Wunderkind und heiliger Lehrer verehrt, ja möglicherweise sogar als der lange versprochene Erlöser. In Mr. Shpilmans Kindheit war das alte Haus der Shpilmans in der S. Ansky Street in Harkavy oft von Besuchern und Bittstellern umlagert. Die Gläubigen und Neugierigen kamen sogar aus Buenos Aires und Beirut angereist, um den begabten Jungen zu sehen, der am schicksalhaften neunten Tag des Monats Aw geboren wurde. Wenn man wieder einmal munkelte, in Bälde würde er ›sein Königreich ausrufen‹, hofften viele, bei diesem Ereignis dabei zu sein, und richteten es entsprechend ein. Aber Mr. Shpilman gab nie derartige Erklärungen ab. Vor dreiundzwanzig Jahren tauchte er am Tag vor der mit der Tochter des Shtrakenzer Rebbe geplanten Hochzeit unter, und in seinen schmachvollen letzten Lebensjahren war die frühere Hoffnung so gut wie vergessen.«

Die Spreu aus dem Büro des Gerichtsarztes sei die einzige Mitteilung, die einer Erklärung der Todesursache nahekomme. Hotelmanagement und Polizeibehörde sollen jeden Kommentar abgelehnt haben. Am Ende des Berichts erfährt Landsman, dass es keinen Gottesdienst in der Synagoge geben werde, sondern nur die Beisetzung als solche auf dem alten Friedhof Montefiore, die der Vater des Toten leiten werde.

»Berko hat erzählt, er hätte ihn verstoßen«, sagt Ester-Malke, die über Landsmans Schulter mitliest. »Der Alte wollte nichts mehr mit seinem Sohn zu tun haben. Offenbar hat er seine Meinung geändert.«

Bei der Lektüre des Artikels wird Landsman Opfer einer von Mitleid gemilderten Neidattacke auf Mendel Shpilman. Viele Jahre litt Landsman unter dem Gewicht der väterlichen Erwartungen, aber er hat keine Vorstellung, wie es ist, sie zu erfüllen oder gar zu übertreffen. Isidor Landsman, weiß er, hätte gerne einen so begabten Sohn wie Mendel gehabt. Landsman kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass sein Vater, hätte sein Sohn Schach spielen können wie Mendel Shpilman, eventuell das Gefühl gehabt hätte, einen Grund zum Leben zu haben, einen kleinen Messias, der ihn erlöst. Landsman denkt an den Brief, den er seinem Vater in der Hoffnung schickte, von der Last des Lebens und der Erwartungen befreit zu werden. Er bedenkt die Jahre, in denen er glaubte, schuld am tödlichen Kummer von Isidor Landsman gewesen zu sein. Wie schuldig fühlte sich Mendel Shpilman? Hatte er geglaubt, was man von ihm behauptete, glaubte er an seine Begabung oder Berufung? War Mendel, als er sich von der Last zu befreien versuchte, der Ansicht, nicht nur seinem Vater, sondern allen Juden der Welt den Rücken kehren zu müssen?

»Ich glaube nicht, dass Rabbi Shpilman je seine Meinung ändert«, sagt Landsman. »Ich glaube, das hat jemand anders für ihn getan.«

»Wer denn?«

»Wenn ich raten müsste? Dann würde ich sagen, es war vielleicht die Mutter.«

»Gut für sie. Auf eine Mutter kann man sich verlassen, damit der Sohn nicht einfach wie eine leere Flasche fortgeworfen wird.«

»Auf eine Mutter kann man sich verlassen«, sagt Landsman. Er betrachtet das Foto des fünfzehnjährigen Mendel Shpilman in der Tog: Mit Bartflaum und wehenden Schläfenlocken leitet er kühl eine Konferenz junger Talmudisten, die um ihn herumwuseln und schmollen. DER »TZADDIK HADOR« IN BESSEREN TAGEN lautet die Bildunterschrift.

»Woran denkst du, Meyer?«, fragt Ester-Malke in zweifelndem Tonfall.

»An die Zukunft«, sagt Landsman.

23.

Eine Sippschaft von Schwarzhüten trottet voran, ein Frachtzug des Grams, von den Toren des Friedhofs -»Haus des Lebens« nennen sie ihn — den Hang hinauf zu einem Loch in der feuchten Erde. Eine regennasse Kiefernholzkiste taumelt und tanzt auf einer Brandung weinender Männer. Satmarer halten Regenschirme über die Köpfe von Verbovern. Gerrer, Shtrakenzer und Viznitzer haben sich mit der Kühnheit herumalbernder Schulmädchen untergehakt. Rivalitäten, Groll, sektiererische Kontroversen, gegenseitige Exkommunikation, all das wurde für einen Tag vergessen, damit man mit wahrer Hingabe einen Jid betrauern kann, den bis Freitagabend alle vergessen hatten. Nicht mal ein Jid — nur die Hülle eines Jids, ein fast durchsichtiges Futteral um ein hartes Nichts aus zwanzigjährigem Drogenkonsum. Jede Generation verliert den Messias, den sie nicht verdient hat. Jetzt haben die Frommen des Distrikts Sitka die Manifestation ihrer kollektiven Unwürdigkeit ausgemacht und sich im Regen versammelt, um sie in die Erde zu betten.

Um das Grab wiegen sich schwarze Tannengruppen wie trauernde Chassidim. Hinter der Friedhofsmauer schützen Hüte und schwarze Regenschirme die unwürdigsten der Unwürdigen, Tausende an der Zahl, vor dem Regen. Tiefgreifende Strukturen von Verbindlichkeit und Anerkennung bestimmen, wer die Erlaubnis hat, durch das Tor zum Haus des Lebens zu gehen, und wer kibitzend draußen bleib en muss und sich die Strümpfe vom Regen durchweichen lassen darf. Diese tiefliegenden Strukturen haben wiederum die Aufmerksamkeit von Polizeibeamten der Dezernate Einbruch, Schmuggel und Betrug erregt. Landsman erkennt Skolsky, Burwitz, Feld und Globus, dem immer ein Hemdschoß heraushängt, Globus, der auf dem Dach eines grauen Ford Victoria thront. Nicht jeden Tag kommt die vollständige Verbover Hierarchie vor die Tür und positioniert sich auf einem Hang so in Beziehung zueinander wie auf dem Diagramm des Staatsanwalts. Auf dem Dach eines eine Viertelmeile entfernten Wal-Mart richten drei Amerikaner in blauen Windjacken ihre Teleobjektive und das zitternde Pistill ihrer Kondensatormikrofone aus. Eine zähe blaue Schnur von Kollegen der Motorradstaffel und Latkes flicht sich durch die Menge, damit sie sich nicht auflöst. Auch die Presse ist da, Kameramänner und Journalisten von Channel i, von den Lokalzeitungen, Personal von der Außenstelle der NBC drüben in Juneau und ein Kabelnachrichtensender. Ebenso Dennis Brennan, dem die Vernunft oder vielleicht nur die Filzmenge fehlt, um seine riesige Birne vor dem Regen zu schützen. Dann wären da noch die Halbgläubigen, die Halbpraktizierenden und die modernen Orthodoxen sowie die nur Leichtgläubigen, die Skeptiker und die Neugierigen, nicht zu vergessen eine gesunde Abordnung vom Schachclub Einstein.

Sie alle beobachtet Landsman von seinem machtlosen Aussichtspunkt im Exil aus. Wieder vereint mit seinem Super Sport, steht er auf einem kahlen Hügel gegenüber dem Haus des Lebens auf der anderen Seite des Mizmor Boulevard. Er parkt in einer Sackgasse, die entworfen, asphaltiert und dann mit dem Namen Tikvah Street belastet wurde — Tikvah, das hebräische Wort für »Hoffnung«, da schwingen im jiddischen Ohr an diesem trüben Nachmittag am Ende der Zeit siebzehn verschiedene Ironiearomen mit. Die erhofften Häuser wurden nie gebaut. Holzpflöcke mit orangen Fähnchen und einer Nylonleine stecken ein Miniaturzion um die Sackgasse ab, einen geisterhaften Eruw des Versagens. Landsman ist solo unterwegs, nüchtern wie ein Karpfen in der Badewanne, und hat ein Fernglas im feuchtkalten Griff. Das Bedürfnis nach einem Glas Alkohol ist wie ein fehlender Zahn. Er muss ständig daran denken, und doch ist etwas Angenehmes daran, in der Lücke herumzubohren. Oder vielleicht ist der Schmerz von etwas Fehlendem auch nur die Leere, die Bina verursachte, als sie seine Dienstmarke kassierte.

Landsman wartet die Beisetzung in seinem Auto ab, beobachtet alles durch die guten Zeissgläser und verbraucht die Autobatterie mit einer Radiodokumentation auf CBC über den Bluessänger Robert Johnson, dessen Stimme so gebrochen und dünn klingt wie die eines Juden, der im Regen sein Kaddisch sagt. Landsman hat eine Schachtel Broadways dabei und lässt sie heftig qualmen, um den hartnäckigen Geruch von Micky Zilberblat aus dem Innern des Super Sport zu vertreiben. Es ist ein widerlicher Gestank, er gleicht dem eines Wassertopfs, in dem man zwei Tage zuvor Nudeln kochte. Berko hat Landsman zu überzeugen versucht, dass er sich diese Spur vom kurzfristigen Aufenthalt des kleinen Zilberblats in seinem Leben nur einbildet. Aber Landsman freut sich über die Ausrede, seinen Wagen ausräuchern zu können. Das tötet die Gier nach Alkohol zwar nicht ab, nimmt ihr aber ein wenig die Schärfe.

Berko wollte Landsman ebenfalls überzeugen, wegen Mendel Shpilmans tödlichem Unglücksfall noch ein wenig zu warten, vielleicht ein oder zwei Tage. Als Berko mit Landsman von seiner Wohnung im Aufzug nach unten fuhr, forderte er ihn auf, ihm in die Augen zu schauen und ihm zu versprechen, dass zu Landsmans Plänen an diesem feuchten Montagnachmittag nicht gehörte, bar einer Dienstmarke und Dienstwaffe bei der trauernden Königin der Gangster aufzutauchen und ihr unverschämte Fragen entgegenzuschleudern, wenn sie das Haus des Lebens und die Überreste ihres einzigen Sohnes hinter sich ließ.

»Du kommst doch gar nicht an sie heran«, beharrte Berko, als er Landsman aus dem Fahrstuhl durch die Eingangshalle zur Tür des Dnyeper folgte. Berko trug seinen elefantösen Pyjama. Aus den Ärmeln quoll ein Teil eines Anzugs. Seine Schuhe hatte er an die Finger gehakt, den Gürtel um den Hals geschlungen. Aus der Brusttasche seines senfgelben Schlafanzugs mit den weißen Nadelstreifen schauten wie ein Einstecktuch die Spitzen von zwei Toastscheiben. »Und selbst wenn du es schaffst, schaffst du es nicht.«

Er unterschied auf höfliche Polizistenart zwischen dem, was man mit Mumm erreichte, und dem, was die Mummbrecher niemals zulassen würden.

»Die lassen dich am ausgestreckten Arm verhungern«, sagte Berko. »Die schütteln dir das Kleingeld aus der Hose. Die zeigen dich an.«

Das konnte Landsman nicht bestreiten. Nur selten setzte Batsheva Shpilman einen Fuß über die Grenze ihrer verborgenen kleinen Welt. Aber wenn sie es tat, dann lediglich inmitten eines schweren Dickichts aus Schießeisen und Anwälten. »Keine Dienstmarke, keine Rückendeckung, keine Befugnis, keine Ermittlung, und mit dem Eigelb auf dem Anzug siehst du wie ein Halbirrer aus. Wenn du die Dame belästigst, könntest du erschossen werden, und trotzdem hätte es nur geringe Folgen für den Schützen.«

Berko folgte Landsman aus dem Gebäude und tanzte bis zur Bushaltestelle an der Ecke in seine Socken und Schuhe.

»Willst du mir damit sagen, ich soll es nicht tun, Berko?«, fragte Landsman. »Oder dass ich es nicht ohne dich tun soll? Glaubst du, ich lasse zu, dass du einfach auf das scheißt, was du und Ester-Malke noch machen müssen, bis die Reversion durch ist? Du bist verrückt. Ich habe dir im Laufe der Jahre viele schlechte Dienste erwiesen und dir eine Menge Ärger eingebrockt, aber ich hoffe, dass ich doch nicht ein ganz so großes Arschloch bin. Und wenn du jetzt sagst, du findest, ich sollte es nicht tun, Punktum, dann …«

Landsman blieb stehen. Die Schwere der Vernunft hinter seinem zweiten Argument traf ihn heftig.

»Ich weiß nicht, was ich will, Meyer. Ich meine nur, ach, Scheiße.« Berko bekam manchmal diesen Blick, früher als Kind öfter als jetzt, ein aufrichtiges Schimmern im Weiß seiner Augen. Landsman musste zur Seite sehen. Er hielt das Gesicht in den vom Sund hereinwehenden Wind. »Ich meine, nimm wenigstens nicht den Bus, ja? Lass mich dich wenigstens zum Sicherstellungsgelände fahren.«

Es gab ein fernes Grummeln, Luftbremsen kreischten. Der 61 B nach Harkavy erschien hinten auf der Promenade, wirbelte einen schimmernden Regenvorhang auf.

»Wenigstens die hier«, sagte Berko. Er hielt seine Anzugjacke am Kragen hoch. Hielt sie Landsman hin, als solle er sie anziehen. »In der Tasche, Meyer. Nimm sie.«

Nun wiegt Landsman die Scholem in der Hand, eine süße kleine Beretta ‚22 mit Plastikgriff, vergiftet sich mit Nikotin und versucht, das Wehklagen des schwarzen Delta-Jids Johnson zu verstehen. Nach einer Zeitspanne, die wahrzunehmen oder zu messen er sich nicht die Mühe macht, sagen wir, eine Stunde, setzt sich der düstere lange Zug, seiner Fracht entledigt, wieder in Bewegung, den Hang hinab auf die Tore zu. Voran, langsam schnaufend, mit aufrechtem Kopf und breitkrempigem Hut, stapft die massige Lokomotive des zehnten Verbover Rebbe. Hinter ihm eine Kette von Töchtern, sieben oder zwölf an der Zahl, dazu deren Ehemänner und Kinder, und dann setzt sich Landsman auf und stellt ein Zeissbild von Batsheva Shpilman scharf. Erwartet hat er eine hexenartige Mischung aus Mrs. Macbeth und der amerikanischen First Lady: Marilyn Monroe Kennedy mit rosa Pillboxhut und hypnotisierenden Spiralen statt Augen. Aber als Batsheva Shpilman deutlich zu sehen ist, kurz bevor sie hinter dem Band der Trauernden am Friedhofstor verschwindet, erkennt Landsman eine schmale, knochige Gestalt und ältlich zögernde Schritte. Das Gesicht ist hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Ihre Kleidung ist unauffällig, ein Vehikel für Schwarz.

Während sich die Shpilmans dem Tor nähern, verdickt sich die Schnur von uniformierten Nos zu einem dichten Knoten und drängt die Menschenmasse zurück. Landsman lässt die Pistole in seine Jackentasche gleiten, stellt das Radio ab und steigt aus dem Auto. Der Regen ist zu einem steten feinen Nebel ausgedünnt. Landsman trottet den Hang hinunter Richtung Mizmor Boulevard. In der vergangenen Stunde ist die Menschenmenge angeschwollen, sie drängt sich um die Friedhofstore. Sie wippt, verschiebt sich, neigt zu plötzlichem Rucken, beseelt von der Brown’schen Bewegung kollektiven Kummers. Die uniformierten Latkes haben schwer zu tun, versuchen, zwischen der Familie und den gewaltigen schwarzen Limousinen des Leichenzugs eine Gasse freizuhalten.

Landsman strauchelt und stolpert, reißt Unkraut mit sich, sammelt Lehm unter den Schuhen. Als er sich den rutschigen Hang hinuntermüht, beginnen ihn seine Verletzungen zu beunruhigen. Er fragt sich, ob die Ärzte vielleicht eine gebrochene Rippe übersehen haben. Irgendwann verliert er den Halt und schlittert abwärts, seine Absätze ziehen drei Meter lange Furchen in den Boden, am Ende fällt er auf den Hintern. Er ist zu abergläubisch, um darin kein böses Omen zu sehen, aber wenn man Pessimist ist, gibt es nur böse Omen.

In Wahrheit hat er überhaupt keinen Plan, nicht mal den verworfenen, rudimentären, den Berko ersann. Seit achtzehn Jahren ist Landsman ein Nos, seit dreizehn Detective, in den vergangenen sieben Jahren hat er in der Mordkommission gearbeitet, ein Topmann, ein Prinz der Polizei. Noch nie ist er ein Niemand gewesen, ein verrückter kleiner Jude mit einer Frage und einer Pistole. Er weiß nicht, wie man unter diesen Umständen vorgeht, er hat nur die Gewissheit, die er wie eine Liebesgabe an sein Herz drückt, dass am Ende eigentlich alles egal ist.

Der Mizmor Boulevard ist ein Parkplatz, Trauergäste und Schaulustige stehen in einem Dunst von Dieselabgasen. Landsman fädelt sich an Stoßstangen und Kotflügeln vorbei und wirft sich dann in die Menschenmenge, die den Grünstreifen verstellt. In der Hoffnung auf bessere Sicht sind Knaben und junge Männer in die Äste einer Reihe glückloser europäischer Lärchen geklettert, die auf dem Mittelstreifen nie Wurzeln schlagen konnten. Die Jids um Landsman herum gehen ihm aus dem Weg, und wenn sie ihm nicht aus dem Weg gehen, gibt er ihnen mit seiner knochigen Schulter einen kleinen Tipp.

Sie riechen nach Wehklage, diese Jids, nach langer Unterwäsche, nach Tabakrauch in nassen Mänteln, nach Schlamm. Sie beten, als würden sie jeden Moment ohnmächtig werden, als sei das eine Art Vorschrift. Weinende Frauen klammern sich aneinander, reißen ihre Kehlen auf. Sie trauern nicht um Mendel Shpilman, das kann nicht sein. Es ist etwas anderes, das nach ihrem Gefühl die Welt verlassen hat, der Schatten eines Schattens, die Hoffnung einer Hoffnung. Diese Halbinsel, die sie als Heimat lieben gelernt haben, wird ihnen genommen. Sie sind wie Goldfische in einer Tüte, die wieder in den großen schwarzen See der Diaspora geschüttet werden sollen. Und diese Vorstellung ist zu viel für sie. Deshalb beklagen sie in Wahrheit den Verlust einer großen Chance, die ihnen nie gewährt wurde, eines Glücksfalls, der gar keiner war, eines Königs, der sowieso nie gekommen wäre, auch nicht ohne Kugel in der Schädeldecke. Landsman traktiert die Trauernden mit der Schulter und murmelt: Entschuldigung.

Er steuert auf ein Ungeheuer von Limousine mit Vierradantrieb zu, eine sieben Meter lange, maßgefertigte Stretchlimo. Der Weg vom Hügel den Hang hinunter über den Boulevard, vorbei an den Schirmen und Bärten und dem jüdischen Geheul bis zu dieser Angeberkutsche, hat in Landsmans Vorstellung etwas Unsicheres, Handgeführtes. Die Amateuraufnahme eines Attentatversuchs. Aber Landsman ist nicht gekommen, um jemanden zu erschießen. Er möchte einfach nur mit dieser Dame sprechen, ihre Aufmerksamkeit erregen, ihren Blick erhaschen. Er will ihr nur eine Frage stellen. Welche Frage, nu, das weiß er nicht.

Schließlich wird er von jemandem dahin geprügelt; tatsächlich von einem ganzen Dutzend Männer. Die Journalisten haben sich genau wie Landsman mit Hilfe von Schulterblättern und Ellenbogen eine Schneise durch die Schwarzhüte gegraben. Als die winzige, schwarz verschleierte Frau am Arm ihres Schwiegersohns durch das Tor wankt, schleudern die Reporter ihr die mitgebrachten Fragen entgegen. Sie kramen sie wie Steine aus den Taschen und werfen sofort. Sie verwüsten die Frau mit Fragen. Sie beachtet die Journalisten nicht; ihr Kopf ist starr geradeaus gerichtet, der Schleier zittert nicht und teilt sich nicht. Baronshteyn führt die Mutter des Toten zu dem Koloss von Limousine. Der Chauffeur rutscht vom Beifahrersitz. Es ist ein Filipino mit der Figur eines Jockeys und einer Narbe am Kinn, die einem zweiten Lächeln gleicht. Er läuft um den Wagen herum, um für seine Arbeitgeber die Tür zu öffnen. Landsman ist noch über fünfzig Meter entfernt. Er wird es nicht rechtzeitig schaffen, dieser Frau eine Frage zu stellen oder überhaupt etwas zu tun.

Ein Knurren, ein wildes Grollen in der Kehle, tief und halbmenschlich, ein warnendes oder düster mahnendes Rumpeln: einer der Schwarzhüte neben dem Auto hat eine Journalistenfrage falsch verstanden. Vielleicht hat er auch alle falsch verstanden, genau wie die Art, auf die sie gestellt werden. Landsman sieht den zornigen Schwarzhut, breit, blond, ohne Krawatte, flattrige Hemdschöße, und erkennt Dovid Sussman, den Jid, der Berko Shemets auf Verbov Island neckte. Ein Klotz von Mann mit einer Ausbuchtung im Kiefergelenk und einer zweiten unter der linken Achsel. Sussman schlingt einen Arm um den Hals von Dennis Brennan, den Jämmerlichen, und würgt ihm die Luft ab. Mit den Zähnen an Brennans Ohr hält er ihm einen Vortrag und zieht ihn nach hinten, der Familie aus dem Weg, die durch das Tor kommt.

Da tritt ein Latke vor. Er schreitet ein, das ist schließlich seine Aufgabe. Aber weil er Angst hat — der Knabe sieht wirklich verängstigt aus —, setzt er seinen Schlagstock vielleicht ein wenig zu heftig an Dovid Sussmans Schädel ein. Man hört ein ekliges Schnappen, dann löst sich Sussman auf und zerfließt zu den Füßen des Latkes.

Kurz halten die Menschenmenge, der Nachmittag und die große weite Welt der Juden die Luft an und vergessen, wieder auszuatmen. Dann bricht der reinste Wahnsinn los, ein jüdischer Krawall, ein Hand- und Wortgemenge, das vor maßlosen Anschuldigungen und unversöhnlichen Flüchen strotzt. Hautkrankheiten werden angerufen, Verdammungen und Blutungen. Gekreische, aufbrausende Schwarzhüte, Stöcke und Schläge, Geschrei und Gebrüll, wie Kreuzfahrerflaggen wehende Bärte, Flüche, der Geruch von aufgewühltem Schlamm, von Blut und gebügelten Hosen. Zwei Männer tragen ein zwischen zwei Stangen gespanntes Banner, auf dem sie von ihrem verlorenen Prinzen Menachem Abschied nehmen. Plötzlich schnappt sich jemand die eine Stange und ein anderer die zweite. Das Banner reißt auseinander und gerät ins Zahnrad der Masse. Kiefer und Schädel der Polizisten bekommen die Stangen zu spüren. Das mühevoll auf den Stoff geschriebene Wort ABSCHIED wird herausgerissen und fortgeworfen. Über den Köpfen von Trauergästen und Polizisten, Ganoven und Frommen, Lebenden und Toten, schwebt es durch die Luft.

Landsman verliert den Rebbe aus dem Blick, aber er sieht, wie eine Horde Rudashevskys die Mutter, Batsheva, in den Fond der Limousine schiebt. Der Chauffeur greift nach der Fahrertür und springt auf seinen Sitz wie ein Turner. Die Rudashevskys hämmern gegen das Auto und rufen los los los. Und Landsman, der immer noch in der Tasche nach der glänzenden Münze einer guten Frage gräbt, sieht zu, und dabei fällt ihm eine Reihe von Kleinigkeiten auf. Der Filipino-Chauffeur ist nervös. Er legt keinen Sicherheitsgurt an. Mit der Hupe lässt er keinen kräftigen, viehvertreibenden Tusch ertönen. Und der kleine Pin des Schlosses auf der Türverkleidung senkt sich nicht nach unten. Der Chauffeur legt einfach den Gang der langen Limousine ein und rollt voran, bald zu schnell für eine so belebte Umgebung.

Landsman geht zur Seite, als der Wagen auf ihn zugeschossen kommt. Eine Strähne Trauernder löst sich aus dem großen schwarzen Zopf und schleppt sich hinter Batsheva Shpilmans Stretchlimousine her. Ein Sog des Kummers. Kurz versperren die am Auto hängenden Trauernden den Rudashevskys den Blick auf jeden, der Narr genug ist, in den Wagen zu steigen. Landsman nickt, erfasst den rhythmischen Wahnsinn der Masse und seiner selbst. Kurz sieht er zu und lockert die Finger. Als der Wagen vorbeischaukelt, reißt er die Hintertür auf.

Augenblicklich wird die Motorkraft in seinen Beinen in Panik übersetzt. Es ist wie ein Beweis für die Physik seiner Dummheit, der unentrinnbaren Wucht seines eigenen Pechs. Während er ungefähr fünf Meter vom Wagen mitgeschleift wird, findet er Zeit, sich zu fragen, ob so auch seine Schwester ihr Ende fand, durch eine knappe Demonstration von Erdanziehungskraft und Masse. Seine Handgelenke spannen die Sehnen. Dann gelingt es ihm, ein Knie in das Innere der Limousine zu schieben, und er purzelt hinein.

24.

Eine dunkle Höhle, beleuchtet von blauen Dioden. Kühl, trocken, der Duft eines Zitronendeodorants. Landsman spürt in sich einen Nachhall dieses Geruchs, einen zitronigen Hauch grenzenloser Hoffnung und Energie. Das hier ist vielleicht das Dümmste, was er je getan hat, aber es musste getan werden, und das Gefühl, es getan zu haben, ist fürs Erste die Antwort auf die einzige Frage, die er zu stellen weiß.

»Wir haben Ginger Ale«, sagt die Königin von Verbov Island. Sie sitzt, gefaltet wie ein Zierteppich, zusammengerollt in der schattenhaften hinteren Ecke. Ihr Kleid ist einfach, aber aus gutem Stoff, und im Futter ihres Regenmantels blitzt ein modisches Logo. »Trinken Sie, ich will nicht.«

Doch Landsman widmet all seine Aufmerksamkeit dem ins Wageninnere weisenden Sitz neben dem Chauffeur, wo der wahrscheinlichste Quell von Ärger lauert. Dort sitzen ein Meter achtzig und vielleicht zweihundert Pfund Weiblichkeit in einem schwarzen Haifischhautanzug und einem reinweißen, kragenlosen Hemd. Die Augen dieser furchterregenden Person sind grau und hart. Sie erinnern Landsman an die Rücken von zwei angelaufenen Löffeln. Die Frau trägt einen weißen Knopf im Ohr, dessen Befestigung sich um den Flansch ihres linken Ohres windet. Ihr tomatenrotes Haar ist so kurz wie das eines Mannes.

»Ich wusste gar nicht, dass es Rudashevskys auch in weiblicher Ausführung gibt«, sagt Landsman. Im Raum zwischen den gegenüberliegenden Sitzbänken kauert er auf den Zehen.

»Das ist Shprintzl«, sagt seine Gastgeberin im Fond des Wagens. Dann hebt Batsheva Shpilman den Schleier. Ihr Körper ist zerbrechlich, vielleicht sogar hager, aber der Grund dafür kann nicht ihr Alter sein, denn ihr fein geschnittenes Gesicht ist zwar eingefallen, aber glatt und wunderschön anzusehen. Sie hat weit auseinanderstehende Augen von einem Blau, das halb herzzerreißend, halb verhängnisvoll ist. Ihre Lippen sind ungeschminkt und doch voll und rot. Die Nüstern ihrer langen, geraden Nase sind geschwungen wie zwei Flügel. Ihr Gesicht ist so ausdrucksstark und lieblich und ihre Gestalt so verfallen, dass ihr Anblick verstörend wirkt. Wie ein fremdartiger Parasit sitzt ihr Kopf auf dem geäderten Hals und zehrt von ihrem Körper. »Ich möchte, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass Shprintzl Sie noch nicht umgebracht hat.«

»Vielen Dank, Shprintzl«, sagt Landsman.

»No problem«, sagt Shprintzl Rudashevsky. Ihre Stimme erinnert an eine in einem Eimer rollende Zwiebel.

Batsheva Shpilman weist auf das andere Ende der Rückbank. Ihre Hand ist in schwarzen Samt gehüllt, an der Manschette mit drei schwarzen Samenperlen geknöpft. Landsman nimmt ihren Vorschlag an und erhebt sich. Der Sitz ist sehr bequem. Er fühlt den kalten Schweiß eines imaginären Highballs an seinen Fingerspitzen.

»Außerdem hat sie keinen ihrer Brüder oder Cousins in den anderen Wagen benachrichtigt, obwohl sie, wie Sie sehen können, mit ihnen über Funk verbunden ist.«

»Eng verbundener Haufen, diese Rudashevskys«, sagt Landsman, doch er versteht, was sie ihm damit sagen will. »Sie möchten mit mir sprechen.«

»Ach ja?«, sagt Batsheva Shpilman, und ihre Lippen erwägen kurz, sich ein wenig zu heben, entscheiden sich aber dagegen. »Sie waren es doch, der sich Zutritt zu meinem Wagen verschafft hat.«

»Ach, das ist ein Auto? Mein Fehler, ich dachte, es wäre die Linie 61.«

Shprintzl Rudashevskys breites Gesicht bekommt eine philosophische, ja mystische Leere. Sie sieht aus, als mache sie sich in die Hose und genieße die Wärme.

»Sie fragen nach Ihnen, meine Liebe«, sagt sie mit krankenschwesternhafter Zärtlichkeit zu der älteren Frau. »Sie wollen wissen, ob alles in Ordnung ist.«

»Sag ihnen, es geht mir gut, Shprintzele. Sag ihnen, wir sind auf dem Heimweg.« Sie wendet ihre sanften Augen Landsman zu. »Wir setzen Sie an Ihrem Hotel ab. Ich möchte es sehen.« Sie sind von einer Farbe, die er noch nie gesehen hat, diese Augen, ein Blau, das man nur in Vogelfedern oder Bleiglasfenstern findet. »Ist Ihnen das recht, Detective Landsman?«

Landsman erwidert, dass es ihm sehr recht sei. Während Shprintzl Rudashevsky in ihr unsichtbares Mikrofon murmelt, lässt ihre Arbeitgeberin die Trennwand herunter und nennt dem Chauffeur einen Weg, der sie zur Ecke von Max Nordau Street und Berlevi Street führen wird.

»Sie sehen aus, als hätten Sie Durst, Detective«, sagt sie, als sie die Trennwand wieder hochfährt. »Wollen Sie ganz bestimmt kein Ginger Ale? Shprintzele, gib dem Herrn doch ein Glas Ginger Ale.«

»Danke, Ma’am, ich habe keinen Durst.«

Batsheva Shpilmans Augen weiten sich, verengen sich, weiten sich wieder. Sie macht eine Bestandsaufnahme von Landsman, gleicht sie mit dem ab, was sie weiß oder gehört hat. Ihre Musterung ist rasch und schonungslos. Wahrscheinlich würde sie einen guten Polizisten abgeben.

»Nicht auf Ginger Ale«, sagt sie.

Sie biegen ab auf die Lincoln und rollen an der Küste entlang in Richtung Untershtot, vorbei an Oysshtelung Island und dem gebrochenen Versprechen des Safety Pin. In neun Minuten werden sie das Hotel Zamenhof erreichen. Batsheva Shpilmans Augen ertränken Landsman in einem Glas Äther. Mit Nadeln heften sie ihn auf eine Pinnwand.

»Klar, sicher, warum nicht?«, sagt Landsman.

Shprintzl Rudashevsky reicht ihm eine kalte Flasche Ginger Ale. Landsman hält sie sich an die Schläfe, nimmt einen Schluck und kämpft ihn im Bewusstsein seiner medizinischen Wirkung hinunter.

»Seit fünfundvierzig Jahren habe ich nicht mehr so nahe neben einem Fremden gesessen, Detective«, sagt Batsheva Shpilman. »Das ist sehr falsch. Ich sollte mich schämen.«

»Besonders angesichts Ihrer Wahl männlicher Begleiter«, sagt Landsman.

»Darf ich?« Sie lässt den schwarzen Moire herunter. Ihr Gesicht nimmt nicht länger an der Unterhaltung teil. »So fühle ich mich wohler.«

»Wie Sie möchten.«

»Nu«, sagt sie. Der Schleier stößt ihren Atem aus. »Gut. Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen.«

»Ich wollte auch mit Ihnen sprechen.«

»Warum? Glauben Sie, dass ich meinen Sohn getötet habe?«

»Nein, Ma’am, das glaube ich nicht. Aber ich hoffte, Sie wüssten vielleicht, wer es war.«

»Aha!«, verkündet sie mit einem tiefen Zittern in der Stimme, als hätte sie Landsman ertappt. »Er wurde also ermordet.«

»Ähm, ja, hm, wurde er, Ma’am. Hat Ihr — was hat Ihnen Ihr Mann denn gesagt?«

»Was mein Mann mir sagt«, sagt sie und es klingt rhetorisch, wie der Titel eines sehr schmalen Traktats. »Sind Sie verheiratet, Detective?«

»War ich.«

»Scheiterte die Ehe?«

»Ich schätze, so kann man es am besten ausdrücken.« Kurz denkt er nach. »Ich schätze, man kann es gar nicht anders ausdrücken.«

»Meine Ehe ist ein voller Erfolg«, sagt sie ohne eine Spur von Prahlerei oder Stolz. »Verstehen Sie, was das bedeutet?«

»Nein, Ma’am«, sagt Landsman. »Da bin ich mir nicht ganz sicher.«

»In jeder Ehe gibt es gewisse Dinge«, beginnt sie. Sie schüttelt den Kopf, einmal, und der Schleier zittert. »Einer meiner Enkel war heute bei mir zu Hause, vor der Beerdigung. Neun Jahre alt. Ich habe ihm den Fernseher angemacht, im Nähraum, man soll das eigentlich nicht tun, aber egal, der kleine Schejgetz langweilte sich. Ich habe mich zehn Minuten zu ihm gesetzt und mitgeschaut. Es lief ein Trickfilm, der mit dem Wolf, der immer den blauen Hahn jagt.«

Landsman sagt, dass er die Sendung kenne.

»Dann wissen Sie ja«, sagt sie, »wie der Wolf immer durch die Luft rennt. Er kann fliegen, aber nur solange er glaubt, auf dem Boden zu sein. Sobald er nach unten guckt und sieht, wo er sich befindet, sobald er also versteht, was los ist, fällt er herunter.«

»Habe ich gesehen«, sagt Landsman.

»So ist es auch in einer erfolgreichen Ehe«, sagt die Frau des Rabbis. »Seit fünfzig Jahren laufe ich durch die Luft. Ohne nach unten zu sehen. Abgesehen von dem, was Gott fordert, spreche ich nicht mit meinem Gatten, Detective. Und umgekehrt.«

»Meine Eltern haben das auch so gelöst«, sagt Landsman. Er fragt sich, ob es mit ihm und Bina länger gehalten hätte, wenn sie diese traditionelle Herangehensweise versucht hätten. »Nur kümmerten sie sich nicht sehr um Gottes Forderungen.«

»Ich habe durch meinen Schwiegersohn Aryeh von Mendels Tod erfahren. Und dieser Mann erzählt mir nichts als Lügen.«

Landsman hört, wie jemand auf einem Lederkoffer herumspringt. Es stellt sich heraus, dass es der Klang von Shprintzl Rudashevskys Lachen ist.

»Weiter«, sagt Mrs. Shpilman. »Erzählen Sie bitte weiter.«

»Also weiter. Nu. Ihr Sohn wurde erschossen. Auf eine Weise, die … nun, um ehrlich zu sein, Ma’am, er wurde hingerichtet.« Beim Aussprechen des letzten Wortes ist Landsman froh um den Schleier. »Von wem, können wir nicht sagen. Wir haben erfahren, dass einige Männer, zwei oder drei, nach Mendel suchten, nach ihm fragten. Diese Männer waren vielleicht nicht besonders nett. Das war vor ein paar Monaten. Wir wissen, dass er bei seinem Tod Heroin im Körper hatte. Das heißt, am Ende spürte er nichts. Keine Schmerzen, meine ich.«

»Nichts, meinen Sie«, korrigiert sie ihn. Zwei Flecke, schwärzer als schwarze Seide, breiten sich auf dem Schleier aus. »Weiter.«

»Es tut mir leid, Ma’am. Das mit Ihrem Sohn. Das hätte ich direkt am Anfang sagen sollen.«

»Ich bin froh, dass Sie es nicht getan haben.«

»Wir glauben, es war kein Amateur, der Ihrem Sohn das zugefügt hat. Aber sehen Sie, Mrs. Shpilman, ich gebe zu, dass wir seit Freitagmorgen mit unseren Ermittlungen im Todesfall Ihres Sohnes mehr oder weniger auf der Stelle treten.«

»Sie sprechen immer von ›wir‹«, sagt sie. »Damit meinen Sie natürlich Sitka Central.«

Jetzt würde er gerne ihre Augen sehen können. Denn er hat das untrügliche Gefühl, dass sie mit ihm spielt. Dass sie weiß, dass er kein Recht und keine Vorgesetzten im Rücken hat.

»Nicht ganz«, sagt Landsman.

»Die Mordkommission.«

»Nein.«

»Sie und Ihren Kollegen.«

»Auch nicht.«

»Also, dann bin ich ein wenig verwirrt, Detective«, sagt sie. »Wer ist dieses ›wir‹, das bei der Ermittlung im Todesfall meines Sohnes nicht weiterkommt?«

»In diesem Moment? Ich … hmm … es ist eine Art theoretische Untersuchung.«

»Aha.«

»Durch eine unabhängige Einrichtung.«

»Mein Schwiegersohn«, sagt sie, »behauptet, Sie seien suspendiert worden, weil Sie auf die Insel gekommen sind. Zu uns ins Haus. Weil Sie meinen Gatten beleidigt haben. Ihm vorwarfen, Mendel ein schlechter Vater gewesen zu sein. Aryeh hat mir gesagt, Detective, dass Ihnen sogar der Dienstausweis abgenommen wurde.«

Landsman rollt die kühle Säule der Ginger-Ale-Flasche über seine Stirn.

»Ja, hm. Diese Einrichtung, von der ich eben sprach«, sagt Landsman. »Die stellt vielleicht keine Dienstausweise aus.«

»Nur Theorien.«

»Genau.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel. Gut, hier ist eine: Sie hatten gelegentlich, vielleicht sogar regelmäßig Kontakt zu Mendel. Sie hörten von ihm. Sie wussten, wo er war. Hin und wieder rief er bei Ihnen an. Er schickte Ihnen Postkarten. Vielleicht trafen Sie sich sogar von Zeit zu Zeit mit ihm, heimlich. Diese geheime Fahrt, die Sie und Freundin Rudashevsky mir netterweise angedeihen lassen, beispielsweise, die bringt mich irgendwie auf diesbezügliche Gedanken.«

»Ich habe meinen Sohn, meinen Mendel, seit über zwanzig Jahren nicht gesehen«, sagt sie. »Und werde es auch nie wieder.«

»Aber warum, Mrs. Shpilman? Was ist passiert? Warum hat er die Verbover verlassen? Was hat er getan? Gab es einen offenen Bruch? Einen Streit?«

Eine geschlagene Minute antwortet sie nicht, so als kämpfe sie gegen die alte Gewohnheit an, niemandem ein Wort über Mendel zu sagen, schon gar nicht einem profanen Polizisten. Vielleicht kämpft sie aber auch gegen das wachsende Gefühl der Freude, die es ihr gegen ihren Willen bereiten wird, sich laut vernehmlich ihres Sohnes zu erinnern.

»So eine gute Partie hatte ich für ihn gefunden«, sagt sie.

25.

Tausend Gäste, manche von Orten so weit entfernt wie Miami Beach und Buenos Aires. Sieben Container vom Catering Service und ein Volvo-Laster voller Lebensmittel und Wein. Berge von Geschenken, Girlanden und Achtungsbezeigungen, die es mit den Baranof-Bergen aufnehmen können. Drei Tage fasten und beten. Die gesamte Musikantenfamilie der Klezmer, genug für ein halbes Symphonieorchester. Sämtliche Rudashevskys bis hin zum Urgroßvater, der halb betrunken mit einem alten Nagant-Revolver in die Luft schießt. In der Woche vor dem großen Tag eine Schlange von Menschen im Flur, die durch die Tür hinaus-, um die Ecke und zwei Querstraßen die Ringelblum Avenue hinunterreicht, und alle hoffen auf einen Segen des königlichen Bräutigams. Tagsüber und nachts ein Lärm im Haus, als wolle der Pöbel eine Revolution anzetteln.

Eine Stunde vor der Hochzeit waren noch alle da, warteten auf ihn, die Straße voller Hüte und nasser Regenschirme. Unwahrscheinlich, dass er sie so spät noch sah oder ihr Flehen und Wehklagen hörte. Aber man konnte nie wissen. Das Unberechenbare war schon immer Mendels Art gewesen.

Sie spähte durch die Vorhänge auf die Bittsteller, als das Mädchen hereinkam und sagte, Mendel sei fort und zwei Damen wollten mit ihr sprechen. Mrs. Shpilmans Schlafzimmer ging seitlich auf den Hof, doch konnte sie an den Nachbarhäusern vorbei bis zur Straße schauen: Hüte und Schirme, glänzend vor Regen. Juden, Schulter an Schulter, gemeinsam durchnässt in ihrer Sehnsucht, einen Blick auf Mendel zu erhaschen.

Hochzeitstag, Bestattungstag.

»Fort«, sagte sie. Sie wandte sich nicht vom Fenster ab. Sie empfand ein Gefühl von Sinnlosigkeit und Erfüllung, das man aus Träumen kennt. Die Frage war müßig, und doch war es das Einzige, was sie hervorbrachte. »Fort wohin?«

»Niemand weiß es, Missus. Niemand ihn gesehen seit gestern Abend.«

»Gestern Abend.«

»Heute Morgen.«

Am vergangenen Abend hatte Mrs. Shpilman ein Forschpiel für die Tochter des Shtrakenzer Rebbe organisiert. Sie war eine hervorragende Partie. Eine fähige, talentierte Braut, wunderschön und mit einer feurigen Ader, die Mendels Schwestern abging, aber die ihr Sohn an seiner Mutter bewunderte, wie sie wusste. Selbstredend war die Shtrakenzer Braut zwar perfekt, aber nicht angemessen; auch das wusste Mrs. Shpilman. Lange bevor das Hausmädchen kam und sagte, man könne Mendel nicht finden, er sei irgendwann im Lauf der Nacht verschwunden, hatte Mrs. Shpilman gewusst, dass auch noch so viel Talent, Schönheit und Feuer in einem Mädchen ihrem Sohn niemals angemessen wären. Aber irgendein Defizit gab es immer, nicht wahr? Zwischen der Vereinigung, die sich der Heilige Eine vorstellte — gelobt sei Er —, und der realen Situation unter der Chuppa. Zwischen Geboten und deren Einhaltung, zwischen Himmel und Erde, Mann und Weib, Zion und Jude. Dieses Defizit nennt man »die Welt«. Erst mit der Ankunft von Messias würde diese Bresche geschlossen werden, würden alle Trennungen, Unterscheidungen und Zwischenräume in sich zusammenfallen. Bis dahin vermochten — Seinem Namen sei Dank — nur Funken, helle Funken, diese Schlucht zu überspringen wie zwischen elektrischen Polen. Und der Mensch musste dankbar sein für ihr flüchtiges Licht.

So hatte sie es Mendel nahelegen wollen, falls er sie je um Rat fragen sollte, was seine Verlobung mit der Tochter des Shtrakenzer Rebbe anging.

»Ihr Mann sehr böse«, sagte das Mädchen, Betty, eine Filipina wie alle Hausmädchen.

»Was hat er gesagt?«

»Hat nichts gesagt, Missus. Deshalb ich weiß, dass er böse. Hat Leute geschickt, müssen überall suchen. Hat den Bürgermeister angerufen.«

Mrs. Shpilman wandte sich vom Fenster ab. Der Satz Sie mussten die Hochzeit absagen metastasierte in ihrem Magen. Betty sammelte Seidenpapierfetzen vom Perserteppich.

»Was für Damen?«, fragte Mrs. Shpilman. »Wer sind sie? Verbover?«

»Eine vielleicht. Andere nicht. Sagen nur, möchten mit Ihnen sprechen.«

»Wo sind sie?«

»Unten, in Ihr Büro. Eine Dame ganz in schwarze Sachen, Schleier vor Gesicht. Vielleicht ihr Mann gerade gestorben.«

Mrs. Shpilman konnte sich nicht mehr erinnern, wann die ersten hoffnungslosen Männer und Todkranken vorbeigekommen waren, um Mendel zu sehen. Wahrscheinlich kamen sie anfangs heimlich, zur Hintertür, ermutigt von Berichten des einen oder anderen Hausmädchens. Es gab eines, deren Unterleib in jungen Jahren durch eine verpfuschte Operation in Cebu unfruchtbar geworden war. Mendel nahm eine dieser Puppen, die er aus Filz und Wäscheklammern für seine Schwestern fertigte, steckte einen Segensspruch aus Kreide zwischen die hölzernen Schenkel und schob dem Mädchen die Klammer in die Tasche. Zehn Monate später gebar Remedios einen Sohn. Dann gab es Dov-Ber Gursky, den Chauffeur, der bei einem russischen Fingerbrecher mit zehntausend Dollar in der Kreide stand. Mendel schenkte Gursky eine Fünfdollarnote, unaufgefordert, und sagte, sie würde hoffentlich helfen. Zwei Tage später schrieb ein Anwalt aus St. Louis und teilte Gursky mit, er habe von einem Onkel, den er gar nicht kannte, eine halbe Million geerbt. Bei Mendels Bar-Mizwa waren die Kranken und Sterbenden, die Beraubten, die Eltern verdammter Kinder schon fast zu einer regelrechten Plage geworden. Zu jeder Tages- und Nachtzeit standen sie vor der Tür. Klagten und flehten. Sie hatte Maßnahmen ergriffen, Mendel zu schützen, hatte Sprechzeiten und Bedingungen festgesetzt. Aber der Junge hatte eine Gabe. Und es lag in der Natur einer Gabe, dass sie endlos gegeben werde.

»Ich kann sie jetzt nicht empfangen«, sagte Mrs. Shpilman und setzte sich auf ihr schmales Bett mit der weißen Tagesdecke aus Chenille und den Kopfkissen, die sie vor Mendels Geburt bestickt hatte. »Diese Damen da.« Wenn die Frauen Mendels nicht habhaft wurden, kamen sie manchmal zu ihr, zur Rebbetzin, dann segnete sie alle, so gut sie konnte, mit den wenigen Mitteln, die ihr für diese Aufgabe zur Verfügung standen. »Ich muss mich anziehen. In einer Stunde ist die Hochzeit, Betty. Eine Stunde! Die finden ihn schon.«

Seit Jahren, seit sie begriffen hatte, dass er war, was er war, rechnete sie damit, dass er Verrat an ihr üben würde. Welch beängstigendes Wort für eine Mutter, diese Andeutung von Zerbrechlichkeit, von Verwundbarkeit — und nichts schützte das Vögelchen außer seinen Federn. Und das Fliegen. Und die Flucht natürlich. Das hatte sie begriffen, lange bevor er selbst es erkannte. Hatte es aus der weichen Falte seines Babynackens gesogen. Hatte es wie eine Geheimbotschaft in seinen flaumbewachsenen Knubbelknien in der kurzen Hose gelesen. Ein Anflug von Mädchenhaftigkeit in der Art, wie er den Blick senkte, wenn er gelobt wurde. Und als er älter wurde, kam sie nicht umhin zu bemerken, wie unwohl er sich fühlte, wann immer ein Rudashevsky oder gewisse Cousins das Zimmer betraten, auch wenn er es noch so zu verbergen suchte, sein Feuer noch so mit Asche bedeckte.

Während der Ehestiftung, der Verlobungszeit und der Hochzeitsvorbereitungen hatte sie Mendele auf ein Zeichen von Besorgnis oder Unwillen belauert. Aber er blieb seiner Pflicht und ihren Plänen treu. Gelegentlich sarkastisch, das schon, sogar respektlos verspottete er seine Mutter für ihren unerschütterlichen Glauben, dass der Heilige Name, gelobt sei Er, wie ein altes Mütterchen die Zeit damit verbringe, Ehen zwischen den Seelen der noch Ungeborenen zu stiften. Einmal hatte Mendel sich einen Fetzen weißen Tülls geschnappt, den ihre Töchter im Salon vergessen hatten, hatte seinen Kopf damit bedeckt und in einer Stimme, die unheimlich an die seiner Verlobten erinnerte, eine Liste der körperlichen Unzulänglichkeiten Mendel Shpilmans vorgetragen. Alle hatten gelacht, doch im Herzen der Mutter flatterte ein Vögelchen der Furcht. Abgesehen von dem Zwischenfall schien er so zu bleiben, wie er gewesen war, unverbrüchlich in seiner Treue zu den sechshundertdreizehn Geboten, dem Studium von Thora und Talmud, zu seinen Eltern und den Gläubigen, deren Stern er war. Sicher würde Mendel auch jetzt gefunden werden.

Sie rollte ihre Strümpfe hoch, zog ihr Kleid an, rückte den Slip zurecht. Sie setzte ihre Perücke auf, die sie zum Preis von dreitausend Dollar eigens für die Hochzeit hatte anfertigen lassen. Es war ein Meisterwerk, aschblond mit roten und goldenen Reflexen, aufgetürmte Zöpfe, so wie sie ihr Haar als junge Frau getragen hatte. Erst als sie diese schimmernde Bonzenhaube auf ihren kurzgeschorenen Schädel gepflanzt hatte, überkam sie Panik.

Auf einem Holztischchen stand ein schwarzes Telefon ohne Wählscheibe. Wenn sie den Hörer hob, klingelte ein identischer Apparat im Büro ihres Gatten. In den zehn Jahren, die sie in diesem Haus wohnte, hatte sie das Telefon nur dreimal benutzt, einmal vor Schmerz und zweimal vor Wut. Über dem Apparat hing ein gerahmtes Foto, das ihren Großvater, den achten Rebbe, ihre Großmutter und ihre Mutter im Alter von fünf oder sechs Jahren gemeinsam unter einer papiernen Weide am Ufer eines aufgemalten Stroms zeigte. Schwarze Kleidung, die verträumte Wolke des großväterlichen Barts, und über allem die strahlende Asche der Zeit, die sich über die Toten auf alten Bildern legt. Es fehlte der Bruder ihrer Mutter, dessen Name eine Art Fluch war, so mächtig, dass er nicht ausgesprochen werden durfte. Ihr blieb seine Abtrünnigkeit, obwohl berüchtigt, stets verborgen. Sie wusste nur, dass sie mit einem in einer Schublade versteckten Buch namens Die geheimnisvolle Insel begonnen hatte und in dem Bericht gipfelte, man habe ihren Onkel auf einer Straße in Warschau gesehen, ohne Bart, aber mit einem Strohhut auf dem Kopf, skandalöser als jeder französische Roman.

Sie legte ihre Hand auf den Telefonhörer. Panik in den Organen, Panik in den Zähnen.

»Ich würde nicht drangehen, selbst wenn ich könnte«, sagte ihr Gatte direkt hinter ihr. »Wenn du schon den Sabbat brechen musst, dann soll es sich für die Sünde auch lohnen.«

Obgleich ihr Mann damals noch nicht so mondförmig war, wie er später wurde, war sein Anblick in ihrem Schlafzimmer Grund genug zum Wundern, so als gehe ein zweiter Mond am Himmel auf. Er musterte die mit Nadelspitze verzierten Stühle, den grünen Volant, die satinweiße Leere ihres Bettes, die Tiegelchen und Töpfchen. Sie sah, dass er mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen kämpfte. Doch die Miene, die er zustande brachte, war zugleich leidenschaftlich und abgestoßen. Sie erinnerte sie an das Lächeln, mit dem ihr Gatte einmal einen Botschafter von einem fernen Hof in Äthiopien oder aus dem Jemen empfangen hatte, einen schlehäugigen Rabbi in einem grellbunten Kaftan. Jener unmögliche schwarze Rabbi mit seiner fremdartigen Thora, diese Welt der Frauen: Es waren Launen Gottes, Windungen in Gottes Gedanken, dass es fast schon Ketzerei war, sie sich vorzustellen oder verstehen zu wollen.

Je länger ihr Gatte dort stand, desto weniger belustigt und umso verlorener schien er zu sein. Schließlich rührte sie das Mitleid. Er gehörte nicht hierher. Es war ein Maßstab für den sich ausbreitenden Makel von Verkehrtheit an diesem Tag, dass er auf seiner Mission so weit gezogen war — bis in ihr Reich von Troddelkissen und Rosenwasser.

»Setz dich«, sagte sie. »Bitte.«

Dankbar begann er, sich einem Stuhl gefährlich zu nähern.

»Man wird ihn finden«, sagte ihr Mann mit weicher, drohender Stimme.

Sein Anblick gefiel ihr nicht. Wohl wissend, dass er anderen oft ungepflegt erschien, war er doch ein Mann ordentlicher Gewohnheiten. Doch jetzt saßen seine Strümpfe schief, war sein Hemd falsch geknöpft. Seine Wangen waren vor Erschöpfung gesprenkelt, sein Schnurrbart stand ab, als habe er daran gezogen.

»Entschuldige, Liebling«, sagte sie. Sie öffnete die Tür zum Ankleideraum und ging hinein. Batsheva verachtete die dunklen Farben, die von den Verbover Frauen ihrer Generation bevorzugt wurden. Das Zimmer, in das sie sich zurückzog, war indigoblau, violett und lavendel ausgestattet. Sie setzte sich auf einen kleinen Toilettenstuhl mit einer fransigen Schürze. Sie streckte einen bestrumpften Zeh vor und gab der Tür einen Schubs, bis sie nur noch zwei Zentimeter offen stand. »Ich hoffe, es stört dich nicht. Es ist besser so.«

»Man wird ihn finden«, wiederholte ihr Mann nun sachlicher, versuchte nunmehr, seine Frau zu beruhigen, nicht sich selbst.

»Wäre besser für ihn«, sagte sie. »Damit ich ihn umbringen kann.«

»Beruhige dich.«

»Ich sage das ganz ruhig. Ist er betrunken? Wurde getrunken?«

»Er hat gefastet. Es ging ihm gut. Welch eine Lehre hat er uns gestern Abend noch erteilt, über Parschat Chajei Sarah. Es war elektrisierend. Jedes Herz hätte wieder angefangen zu schlagen. Aber als er fertig war, hatte er Tränen in den Augen. Er sagte, er brauche Luft. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.«

»Ich bringe ihn um«, sagte sie.

Es kam keine Antwort aus dem Schlafzimmer, nur ein raspelndes Atmen, gleichmäßig, unbeirrbar. Sie bedauerte ihre Drohung. In ihrem Mund war sie rhetorisch, aber in seinem Kopf, dieser Bibliothek inmitten einer Beingrube, nahm sie die gefährliche Farbe aktiver Umsetzung an.

»Weißt du vielleicht zufällig, wo er ist?«, fragte ihr Mann nach einer Pause, und auch in der Leichtigkeit seines Tonfalls schwang Gefahr.

»Woher soll ich das wissen?«

»Er spricht mit dir. Er sucht dich auf, hier.«

»Nie.«

»Ich weiß es.«

»Woher willst du das wissen? Doch wohl nur, wenn du die Hausmädchen zu Spionen gemacht hast.«

Sein Schweigen bestätigte das Ausmaß von Korruption in ihrem Haushalt. Sie verspürte das glorreiche Gefühl des Entschlusses, ihr Ankleidezimmer nie mehr zu verlassen.

»Ich bin nicht hergekommen, um mich zu streiten oder dich zu rügen. Ganz im Gegenteil, ich hatte gehofft, dass ich vielleicht eine Tasse deiner sonst üblichen Ruhe und Vernunft bekäme. Aber da ich jetzt hier bin, fühle ich mich entgegen meines Urteils als Rabbi und als Mann, doch mit der vollen Überzeugung meines Selbstverständnisses als Vater gezwungen, dich zu tadeln.«

»Weshalb?«

»Für seine Verwirrung. Seine Unberechenbarkeit. Den Schatten auf seiner Seele. Das ist deine Schuld. So ein Sohn ist die Frucht des mütterlichen Baumes.«

»Geh zum Fenster«, befahl sie ihm. »Schau durch den Vorhang. Sieh dir diese armen Bittsteller und Narren und gebrochenen Jids an, die hergekommen sind, um einen Segen zu erhalten, den du, mit all deiner Macht und all deiner Gelehrtheit, niemals würdest spenden können, ehrlich nicht. Nicht dass diese Unfähigkeit dich bisher davon abhielt, ihn zu erteilen.«

»Ich kann auf andere Weise segnen.«

»Schau sie dir an!«

»Schau du sie an. Komm aus deinem Schrank und schau.«

»Ich habe sie gesehen«, brachte sie durch die Zähne hervor. »Und die haben alle einen Schatten auf der Seele.«

»Aber sie verbergen ihn. Aus Bescheidenheit und Demut und Gottesfurcht verhüllen sie ihn. Gott gebietet uns, in seiner Anwesenheit die Köpfe zu bedecken. Nicht barhäuptig herumzustehen.«

Sie hörte das Ächzen und Kratzen des Stuhlbeins und das Schlurfen seiner Pantoffeln. Sie hörte das morsche Gelenk seiner linken Hüfte krachen und einrasten. Er stöhnte vor Schmerz.

»Mehr verlange ich nicht von Mendel«, fuhr er fort. »Was ein Mann denken oder fühlen mag, ist nicht von Interesse, nicht von Bedeutung für mich oder Gott. Dem Wind ist es egal, ob die Fahne rot oder blau ist.«

»Oder rosa.«

Wieder folgte Schweigen. Diesmal war es irgendwie schwächer, als käme ihr Mann zu einer Schlussfolgerung oder erinnerte sich, wie es einst gewesen war, wenn ihn ein kleiner Scherz von ihr belustigte.

»Ich werde ihn finden«, sagte er. »Dann nehme ich ihn mir zur Brust und sage ihm, was ich denke. Erkläre ihm, dass hier Platz für ihn ist, solange er Gott gehorcht, seine Gebote befolgt und rechtschaffen ist. Dass ich ihm nicht als Erster den Rücken zuwenden werde. Dass es seine Entscheidung ist, uns zu verlassen.«

»Kann ein Mann ein Tzaddik ha-Dor sein, aber sich vor sich selbst und allen um sich herum verstecken?«

»Ein Tzaddik ha-Dor ist immer versteckt. Das gehört zum Wesen eines Tzaddik. Vielleicht sollte ich ihm das erklären. Ihm sagen, dass diese … diese Gefühle …, die er verspürt und gegen die er kämpft, auf gewisse Weise der Beweis für seine Eignung zum Regieren sind.«

»Vielleicht läuft er gar nicht vor der Hochzeit mit diesem Mädchen davon«, sagte sie. »Vielleicht ist es gar nicht das, was ihm Angst macht. Womit er nicht leben kann.« Der Satz, den sie gegenüber ihrem Mann nie ausgesprochen hatte, nahm seinen gewohnten Posten auf ihrer Zungenspitze ein. In den vergangenen vierzig Jahren hatte sie ihn verfasst und verfeinert und Elemente herausgestrichen, so wie ein Gefangener, dem Papier und Stift verwehrt sind, die Strophen eines Gedichts verfasst. »Vielleicht gibt es noch eine andere Selbsttäuschung, mit der zu leben er sich nicht anfreunden kann.«

»Er hat keine Wahl«, sagte ihr Mann. »Selbst wenn er in Unglauben gefallen ist. Selbst wenn er Heuchelei und Scheinheiligkeit riskiert, weil er hierbleibt. Ein Mann mit seinen Gaben, seinen Talenten darf nicht durch die Gegend ziehen und arbeiten und sein Schicksal da draußen, in der unreinen Welt, aufs Spiel setzen. Er wäre eine Gefahr für jeden. Insbesondere für sich selbst.«

»Das ist nicht die Selbsttäuschung, die ich meine. Ich meine die Art, in der … in der sich alle Verbover üben.«

Stille. Dann drohend, weder schwer noch leicht, das gewaltige Schweigen eines Luftschiffs vor der statischen Entladung.

»Mir ist keine andere Selbsttäuschung bewusst, die ihn betrifft.«

Sie ließ ihren Satz fallen; zu lange lief sie da schon durch die Luft, um längere Zeit nach unten sehen zu können.

»Dann müssen wir ihn also hier festhalten«, sagte sie. »Mit oder ohne sein Einverständnis.«

»Glaube mir, meine Liebe. Und versteh mich richtig. Die Alternative wäre weitaus schlimmer.«

Kurz wankte sie, dann stürzte sie aus ihrem Ankleidezimmer, um zu sehen, was in den Augen ihres Mannes war, als er, wie sie es damals verstand, das Leben seines eigenen Sohnes bedrohte für die Sünde, das zu sein, wozu Gott ihn gemacht hatte. Doch still wie ein Luftschiff war er davongeschwebt. Sie fand nur Betty vor, die zurückgekommen war, um erneut die Bitte der Besucher vorzutragen. Betty war ein gutes Dienstmädchen, aber sie hatte die Schwäche der Filipinos, sich unbändig an Skandalen zu ergötzen. Es fiel ihr schwer, ihre Wonne über die Botschaft zu verbergen, die sie nun überbrachte.

»Missus, eine Dame sagt, sie bringt Nachricht von Mendel«, sagte Betty. »Sagt, er kommt leider nicht nach Hause. Keine Hochzeit heute!«

»Er kommt nach Hause«, sagte Mrs. Shpilman und kämpfte gegen den Drang, Betty ins Gesicht zu schlagen. »Mendel würde nie …« Sie hielt inne, bevor sie die Worte ausgesprochen hatte: Mendel würde nie gehen, ohne sich zu verabschieden.

Die Frau, die eine Nachricht von ihrem Sohn überbrachte, war keine Verbover. Sie war eine moderne Jüdin, aus Respekt vor der Gegend bescheiden in einen langen, gemusterten Rock und einen schicken dunklen Mantel gekleidet. Zehn oder fünfzehn Jahre älter als Mrs. Shpilman. Eine schwarzäugige, schwarzhaarige Frau, die einmal sehr schön gewesen sein musste. Als Mrs. Shpilman eintrat, sprang sie vom Lehnstuhl am Fenster auf und gab ihren Namen mit Brukh an. Ihre Freundin war ein plumpes Ding, offenbar sehr fromm, vielleicht eine Satmarerin, in einem langen schwarzen Kleid, schwarzen Strümpfen und einem breitkrempigen, tief über den minderwertigen Schajtl gezogenen Hut. Die Strümpfe waren ausgeleiert, und die Strassschnalle an ihrem Hutband löste sich langsam, die Arme. Der Schleier war oben links auf eine Art hochgebauscht, die Mrs. Shpilman mitleiderregend fand. Beim Blick auf dieses hilflose Wesen vergaß sie für einen Moment die furchtbare Neuigkeit, die diese beiden Frauen in ihr Haus geführt hatte. Ein Segensspruch wallte mit solcher Macht und Dringlichkeit in ihr auf, dass sie ihn kaum zurückhalten konnte. Sie wollte die schäbige Frau in die Arme nehmen und sie so küssen, dass es haften blieb, dass ihre Traurigkeit vertrieben wurde. Sie fragte sich, ob es sich so anfühlte, Mendel zu sein.

»Was soll dieser Unfug?«, sagte sie. »Setzen Sie sich.«

»Es tut mir sehr leid, Mrs. Shpilman«, sagte die Brukh und nahm wieder Platz, hockte auf der Kante, als wolle sie zeigen, dass sie nicht zu bleiben beabsichtige.

»Haben Sie Mendel gesehen?«

»Ja.«

»Und wo ist er?«

»Bei einem Freund. Er wird nicht lange dort bleiben.«

»Er kommt natürlich zurück.«

»Nein. Nein, es tut mir leid, Mrs. Shpilman. Aber Sie werden Mendel nur durch diese Person erreichen können. Wann immer es nötig ist. Wohin er auch geht.«

»Was für eine Person, bitte? Wer ist dieser Freund?«

»Wenn ich Ihnen das sage, müssen Sie versprechen, dieses Wissen ganz für sich zu behalten. Sonst, sagt Mendel —« Sie warf ihrer Freundin einen Blick zu, als hoffe sie auf moralische Unterstützung, um die nächsten sieben Wörter herauszubekommen. » — werden Sie nie wieder von ihm hören.«

»Aber meine Liebe, ich will nie wieder von ihm hören«, sagte sie. »Es ist also ganz überflüssig, mir zu sagen, wo er ist, nicht wahr?«

»Ich denke nicht.«

»Nur dass ich Sie, wenn Sie mir nicht sagen, wo er ist, zur Garage der Rudashevskys bringen lasse, wo man Ihnen Informationen entlocken wird, wie man es dort gerne tut, und das ist kein Spaß.«

»Oh, ich habe keine Angst vor Ihnen«, sagte die Brukh mit einem erstaunlichen, angedeuteten Lächeln in der Stimme.

»Nein? Und warum nicht?«

»Weil Mendel mir gesagt hat, dass ich keine Angst zu haben brauche.«

Und sie spürte die Selbstsicherheit, vernahm deren Echo in der Stimme und Haltung dieser Brukh. Dieses Necken, diese Verspieltheit, die Mendel im Umgang mit seiner Mutter an den Tag legte, auch mit seinem ehrwürdigen Vater. Mrs. Shpilman hatte dieses Verhalten immer auf den Teufel in ihm geschoben, aber nun sah sie, dass es vielleicht nur ein Mittel zum Überleben war, ein Selbstschutz. Federn für das Vögelchen.

»Er hat gut reden: keine Angst haben. Läuft vor seiner Aufgabe und seiner Familie davon. Warum versucht er es nicht bei sich mit seinem Zauber? Können Sie mir das sagen? Warum bringt er seine armselige, feige Gestalt nicht hierher und erspart seiner Familie diese Schande und die Peinlichkeit, ganz zu schweigen von dem schönen, unschuldigen Mädchen?«

»Das würde er, wenn er könnte«, sagte die Brukh, und die Witwe neben ihr, die bisher geschwiegen hatte, seufzte auf. »Das glaube ich wirklich, Mrs. Shpilman.«

»Und warum kann er nicht? Verraten Sie mir das.«

»Das wissen Sie.«

»Ich weiß gar nichts.«

Aber sie wusste es. Und offenbar wussten es auch diese seltsamen Frauen, die gekommen waren, um sie weinen zu sehen. Mrs. Shpilman ließ sich auf das bestickte Kissen eines geweißten Louis-XIV-Stuhls fallen, ohne darauf zu achten, dass die Seide ihres Kleides durch das plötzliche Herabsinken Knitterfalten bekam. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Wegen der Schande, der Demütigung. Wegen der Zerstörung von monatelangem, ach, jahrelangem Planen und Hoffen und Diskutieren, von endlosen Botschaften, die zwischen den Höfen von Verbov und Shtrakenz ausgetauscht worden waren. Doch am meisten, gesteht sie, weinte sie um sich selbst. Weil sie mit ihrer ihr eigenen Entschlossenheit bestimmt hatte, dass sie ihren einzigen Sohn, ihren geliebten, niederträchtigen Sohn, niemals wiedersehen würde. Was für eine selbstsüchtige Frau! Erst später brachte sie ein wenig Bedauern für die Welt auf, die nun nicht mehr von Mendel erlöst werden würde.

Nachdem sie ein oder zwei Minuten lang geweint hatte, erhob sich die altmodische Witwe von dem anderen Lehnstuhl und stellte sich neben Mrs. Shpilman.

»Bitte«, sagte sie mit schwerer Stimme und legte eine plumpe Hand auf Mrs. Shpilmans Arm, eine Hand, deren Fingerknöchel mit feinem goldenem Haar bedeckt waren. Es war schwer zu glauben, dass Mrs. Shpilman diese Hand vor nur zwanzig Jahren ganz in den Mund hatte stecken können.

»Du spielst mit mir«, sagte sie, sobald sie die Macht der Vernunft zurückgewonnen hatte. Im Fahrwasser des ersten Schocks, der ihr Herz aussetzen ließ, empfand sie ein sonderbares Gefühl der Erleichterung. Wenn Mendel aus neun Schichten bestand, so waren die ersten acht Schichten reine Güte. Eine viel größere Güte, als sie und ihr Gatte, harte Menschen, die in einer harten Welt überlebt und Erfolg gehabt hatten, ohne göttliche Fürsprache aus ihrem Fleisch erzeugt haben konnten. Aber die innerste Schicht, die neunte Schicht von Mendel Shpilman, war immer schon der Teufel gewesen, ein Schejgetz, der seiner Mutter gerne Herzinfarkte bescherte. »Du spielst mit mir!«

»Nein.«

Er lüpfte den Schleier und ließ sie seinen Schmerz, seine Unsicherheit sehen. Sie merkte, dass er fürchtete, einen großen Fehler zu begehen. Die Entschlossenheit, mit der er gewillt war, ihn zu machen, erkannte sie als ihre eigene.

»Nein, Mama«, sagte Mendel. »Ich wollte mich verabschieden.« Als er ihren Gesichtsausdruck sah, fügte er mit unsicherem Lächeln hinzu: »Und nein, ich bin kein Transvestit.«

»Wirklich nicht?«

»Nein!«

»Du siehst mir wie ein Transvestit aus.«

»Die berühmte Expertin.«

»Ich will, dass du das Haus verlässt.« Aber sie wollte nur, dass er blieb, versteckt auf ihrer Seite des Hauses, verkleidet in diese Lumpen, ihr Baby, ihr Prinzchen, ihr teuflischer Junge.

»Ich gehe.«

»Ich will dich nie wiedersehen. Ich will dich nicht anrufen, ich will nicht, dass du mich anrufst. Ich will nicht wissen, wo du bist.«

Sie müsste jetzt nur ihren Mann rufen, dann würde ihr Junge für immer bleiben. Irgendwie, auf irgendeine Weise, die nicht undenkbarer war als die ihrem bequemen Leben zugrunde liegenden Tatsachen, würde man ihn zum Bleiben zwingen.

»Gut, Mama«, sagte er.

»Nenn mich nicht so.«

»Gut, Mrs. Shpilman«, sagte er, und aus seinem Mund klang es liebevoll, vertraulich. Wieder begann sie zu weinen. »Nur damit du es weißt. Ich wohne bei einem Freund.«

Hatte er eine Geliebte? War es möglich, dass er ein zweites Leben im Geheimen geführt hatte?

»Einem ›Freund‹?«, sagte sie.

»Ein alter Freund. Er hilft mir nur. Mrs. Brukh hier hilft mir auch.«

»Mendel hat mir das Leben gerettet«, sagte Mrs. Brukh. »Vor sehr langer Zeit.«

»Na, toll«, sagte Mrs. Shpilman. »Er hat Ihnen also das Leben gerettet. Man sieht ja, was er davon hat.«

»Mrs. Shpilman«, sagte Mendel. Er nahm ihre Hände und drückte sie fest zwischen seine warmen Handteller. Seine Haut brannte zwei Grad wärmer als die anderer Menschen. Wenn man ihm die Temperatur maß, zeigte das Thermometer 38 Grad.

»Nimm deine Hände weg«, brachte sie heraus. »Sofort.«

Er küsste sie auf den Kopf, und selbst durch die Schicht fremden Haars schien der Abdruck seines Kusses haften zu bleiben. Dann ließ er ihre Hände los, senkte den Schleier und trampelte mit rutschenden Strümpfen aus dem Zimmer, und die Brukh eilte ihm nach.

Lange Zeit saß Mrs. Shpilman auf dem Louis-XIV-Stuhl, Stunden, Jahre. Eine Kälte erfüllte sie, ein eisiger Ekel vor der Schöpfung, vor Gott und seinem verkorksten Werk. Zuerst schien sich das Grauen, das sie verspürte, auf ihren Sohn und seine Sünde zu richten, dass er sich zu kapitulieren weigerte, doch dann wurde daraus ein Grauen vor sich selbst. Sie dachte an die Verbrechen und Verletzungen, die zu ihrem Vorteil begangen worden waren, und all das Böse war nur ein Tropfen Wasser in einem großen schwarzen Meer. Ein schrecklicher Ort, dieses Meer, dieser Golf zwischen Absicht und Tat, den die Menschen »Welt« nannten. Mendels Flucht war nicht die Weigerung zu kapitulieren; sie war eine Kapitulation. Der Tzaddik ha-Dor reichte seinen Rücktritt ein. Er konnte nicht das sein, was die Welt und die Juden mit ihrem Kummer und ihren Regenschirmen von ihm wollten, was seine Mutter und sein Vater von ihm wollten. Er konnte nicht einmal sein, was er selbst sein wollte. Sie hoffte — das betete sie, dort sitzend —, dass er eines Tages immerhin einen Weg finden würde zu sein, was er war.

Kaum war das Gebet ihrem Herzen entflogen, vermisste sie ihren Sohn. Sie sehnte sich nach ihrem Sohn. Sie machte sich bittere Vorwürfe, Mendel fortgeschickt zu haben, ohne in Erfahrung zu bringen, wo er sich aufhielt, wohin er gehen würde, wie sie ihn von Zeit zu Zeit sehen oder nur seine Stimme hören könne. Dann nahm sie die Hände auseinander, die er ein letztes Mal in den seinen gehalten hatte, und fand, zusammengerollt auf ihrem rechten Handteller, einen kleinen Faden.

26.

»Ja«, sagt sie, »ich habe von ihm gehört. Hin und wieder. Ich möchte nicht, dass es zynisch klingt, Detective, aber es war meistens, wenn er Ärger hatte oder Geld brauchte. Umstände, die in seinem Fall — möge sein Name zum Segen sein — oft gemeinsam auftraten.«

»Wann war das letzte Mal?«

»Früher im Jahr. Im Frühling. Ja, jetzt weiß ich wieder, dass es der Tag vor Erew Pessach war.«

»Im April also. So um —«

Madame Rudashevsky holt ein schickes Masik-Shoyfer hervor, drückt auf mehrere Tasten und nennt das Datum des Tages vor dem ersten Abend von Pessach. Ein wenig überrascht stellt Landsman fest, dass es ebenfalls der letzte vollständige Tag im Leben seiner Schwester war.

»Von wo aus rief er an?«

»Vielleicht aus einem Krankenhaus. Ich weiß es nicht. Ich konnte eine Ansage hören, einen Lautsprecher im Hintergrund. Mendel sagte, er würde untertauchen. Er müsse eine Weile fort, er würde nicht anrufen können. Er bat mich, Geld an einen Briefkasten in Povorotny zu schicken, den er manchmal benutzte.«

»Hörte es sich an, als hätte er Angst?«

Der Schleier zittert wie ein Theatervorhang, die Bewegungen dahinter bleiben verborgen. Langsam nickt Mrs. Shpilman.

»Hat er gesagt, warum er untertauchen müsse? Hat er gesagt, er würde verfolgt?«

»Ich glaube nicht. Nein. Nur dass er Geld brauchte und verschwinden würde.«

»Und das war’s.«

»Soweit ich weiß — nein. Ich habe ihn gefragt, ob er etwas gegessen hätte. Manchmal … vergessen sie zu essen.«

»Ich weiß.«

»Und er sagte, keine Sorge, meinte er, ich hab gerade ein riesengroßes Stück Kirschkuchen gegessen.«

»Kuchen«, wiederholt Landsman. »Kirschkuchen.«

»Sagt Ihnen das etwas?«

»Man weiß nie«, sagt er, aber er spürt, wie sein Brustkorb unter seinem hämmernden Herzen vibriert.

»Mrs. Shpilman, Sie haben gerade erzählt, Sie hörten im Hintergrund eine Ansage. Halten Sie es für möglich, dass er von einem Flughafen aus anrief?«

»Jetzt, wo Sie fragen: ja.«

Das Auto wird langsamer und hält an. Landsman rückt vor und blickt durch das geschwärzte Glas. Sie stehen vor dem Hotel Zamenhof. Mrs. Shpilman fährt ihr Fenster mit einem Schalter herunter, und der graue Nachmittag weht in den Wagen. Sie hebt den Schleier und späht die Hotelfassade hinauf. Lange betrachtet sie das Gebäude. Zwei kaputte Kerle, Alkoholiker, schwanken aus der Hotellobby, halten einander umschlungen, ein menschliches Bollwerk gegen den Regen. Landsman hielt den einen mal davon ab, versehentlich dem anderen in den Hosenaufschlag zu pinkeln. Sie führen eine kleine Tanznummer mit einem Zeitungsblatt und dem Wind auf, dann taumeln sie weiter in die Nacht, zwei verbrannte Motten. Die Königin von Verbov Island lässt ihren Schleier wieder hinunter und fährt die Scheibe hoch. Landsman spürt die vorwurfsvollen Fragen durch den schwarzen Stoff brennen. Wie kann er in so einem Drecksloch leben? Warum hat er nicht besser auf ihren Sohn aufgepasst?

»Woher wissen Sie, dass ich hier wohne?«, fällt ihm plötzlich ein. »Ihr Schwiegersohn?«

»Nein, Detective, der hat mir das nicht erzählt. Ich habe es von dem anderen Detective Landsman erfahren. Mit dem Sie verheiratet waren.«

»Sie hat Ihnen von mir erzählt?«

»Sie rief heute an. Vor vielen Jahren hatten wir einmal Probleme mit einem Mann, der Frauen verletzte. Ein sehr böser Mann, ein kranker Mann. Das war damals in Harkavy, auf der S. Ansky Street. Die Frauen, die verletzt worden waren, wollten nicht mit der Polizei sprechen. Ihre Exfrau hat mir damals sehr geholfen, ich stehe immer noch in ihrer Schuld. Sie ist eine gute Frau. Eine gute Polizistin.«

»Zweifellos.«

»Sie gab mir zu verstehen, dass es nicht völlig falsch wäre, Ihnen ein wenig zu vertrauen, falls Sie zufällig vorbeikommen sollten.«

»Das war lieb von ihr«, sagt Landsman völlig aufrichtig.

»Sie hat in höheren Tönen von Ihnen gesprochen, als ich mir vorgestellt hätte.«

»Wie Sie schon sagten, Ma’am: Sie ist eine gute Frau.«

»Trotzdem haben Sie sie verlassen.«

»Nicht weil sie eine gute Frau ist.«

»Sondern weil Sie ein schlechter Mann sind?«

»Ich denke schon«, sagt Landsman. »Sie war nur zu höflich, das zu sagen.«

»Es ist viele Jahre her«, sagt Mrs. Shpilman. »Aber so wie ich mich erinnere, ist Höflichkeit nicht unbedingt eine große Stärke dieser speziellen Jüdin.«

Sie betätigt den Knopf, der die Verriegelung aufhebt. Landsman schiebt die Tür auf und steigt aus der Limousine.

»Ich bin jedenfalls froh, dass ich dieses grässliche Hotel noch nicht kannte, sonst hätte ich Sie niemals in meine Nähe gelassen.«

»Es ist nicht viel«, sagt Landsman, und der Regen prasselt auf seinen Hut. »Aber es ist mein Zuhause.«

»Nein, ist es nicht«, sagt Batsheva Shpilman. »Aber es macht es bestimmt einfacher für Sie, sich das vorzustellen.«

27.

»Die Vereinigung jiddischer Polizisten«, sagt der Kuchenmann.

Über die Edelstahltheke seines Ladens wirft er Landsman einen Blick zu und verschränkt die Arme, um ihm zu zeigen, dass er die Tricks der Juden durchschaut. Er kneift die Augen zusammen, als versuche er, einen Druckfehler auf dem Zifferblatt einer gefälschten Rolex zu erkennen. Landsmans Amerikanisch ist gerade gut genug, um nicht verdächtig zu wirken.

»Allerdings«, sagt Landsman. Er ärgert sich, dass von seinem Mitgliedsausweis der »Hände Esaus«, der internationalen Bruderschaft jüdischer Polizisten, Ortsgruppe Sitka, eine Ecke abgebrochen ist. Unten rechts ist ein kleines sechseckiges Symbol. Der Text ist Jiddisch. Der Ausweis bevollmächtigt zu nichts und hat keinerlei Bedeutung, nicht einmal für Landsman, der seit zwanzig Jahren angesehenes Mitglied dieser Vereinigung ist. »Wir sind über die ganze Welt verteilt.«

»Das wundert mich kein bisschen«, sagt der Kuchenmann nachdrücklich schroff. »Aber ich verkaufe nur Kuchen, Mister.«

»Wollen Sie nun Kuchen oder nicht?«, fragt die Frau vom Kuchenmann. Wie ihr Gatte ist sie stattlich und blass. Ihr Haar hat die farblose Farbe von Alufolie in fahlem Licht. Die Tochter steht hinten, zwischen den Beeren und Teigen. Bei den Buschpiloten, Jägern, Rettungsmannschaften und anderen Stammkunden, die regelmäßig den Flugplatz Yakovy aufsuchen, gilt es als Glücksfall, einen Blick auf die Tochter des Kuchenmanns zu erhaschen. Landsman hat sie seit Jahren nicht gesehen. »Wenn Sie keinen Kuchen wollen, gibt es keinerlei Grund, hier am Tresen rumzutrödeln. Die Leute hinter Ihnen wollen ihr Flugzeug erreichen.«

Sie nimmt ihrem Mann den Ausweis ab und reicht ihn Landsman zurück. Er kann ihr ihre Ruppigkeit nicht verübeln. Für die Rechtsverdreher, Scharlatane, Diplombetrüger und Grundstücksstrohmänner dieser Welt ist der Flugplatz von Yakovy eine Schlüsselstation auf dem Weg nach Norden. Für Wilderer, Schmuggler, ungeratene Russen. Drogenkuriere, kriminelle Indianer, verbrecherische Yankees. Der gerichtliche Zuständigkeitsbereich von Yakovy wurde nie endgültig festgelegt. Juden, Indianer und Klondikes stellen gleichermaßen Ansprüche. Der Kuchen dieser Frau hat eine höhere Moral als die Hälfte ihrer Kundschaft. Die Kuchenfrau hat keine Veranlassung, Landsman mit seinem Talmi-Ausweis und der kahlgeschorenen Stelle am Hinterkopf zu vertrauen oder auf ihn einzugehen. Und doch verspürt Landsman angesichts ihrer Grobheit einen stechenden Schmerz des Bedauerns, seine Dienstmarke eingebüßt zu haben. Hätte er sie noch, könnte er jetzt sagen: Die Leute hinter mir können mich mal am Arsch lecken, Madam, und Sie können sich gern mal einen netten Boysenbeereneinlauf machen. Stattdessen mustert er demonstrativ die in einer mäßig langen Schlange hinter ihm anstehenden Personen: Fischer, Kajakfahrer, Geschäftsleute, einige Wirtschaftsvertreter.

Jeder Einzelne signalisiert ihm mit den Augenbrauen oder einem Geräusch, dass er begierig auf Kuchen ist und langsam die Geduld mit Landsman und seinem eselsohrigen Ausweis verliert.

»Ich nehme ein Stück Apfelstreusel«, sagt Landsman. »Daran habe ich schöne Erinnerungen.«

»Apfelstreusel ist mein Lieblingskuchen«, sagt die Kuchenfrau und wird etwas milder. Mit einem Nicken schickt sie ihren Mann an die hintere Theke. Da steht der Apfelstreusel auf einem schimmernden Sockel, frisch, noch nicht angeschnitten. »Kaffee?«

»Ja bitte.«

»A la mode?«

»Nein danke.« Landsman schiebt das Bild von Mendel Shpilman über den Tresen. »Und? Schon mal gesehen?«

Die Frau beäugt das Foto, die Hände sorgfältig in die jeweils gegenüberliegende Achselhöhle geschoben. Landsman spürt, dass sie Mendel Shpilman sofort erkennt. Dann dreht sie sich um und nimmt ihrem Mann den Pappteller mit dem Stück Streuselkuchen ab. Sie stellt den Teller zusammen mit einem kleinen Styroporbecher Kaffee und einer in eine Papierserviette gerollten Gabel auf ein Tablett.

»Zwei fünfzig«, sagt sie. »Setzen Sie sich zu dem Bären.«

Der Bär wurde in den Sechzigern von Jids erschossen. Nach ihrem Aussehen auf dem Foto zu urteilen, waren es Ärzte mit Skimützen und Pendleton-Mänteln. Sie verbreiten die seltsame, bebrillte Männlichkeit aus den goldenen Jahren des Distrikts Sitka. Neben der Aufnahme dieser fünf fatalen Männer klebt ein auf Jiddisch und Englisch beschriebenes Schild. Es informiert den Betrachter, dass der Bär, der bei Lisianski erlegt wurde, ein drei Meter siebzig großer, vierhundert Kilo schwerer Braunbär war. Nur sein Skelett wird heute noch in dem Glaskasten aufbewahrt, neben den sich Landsman nun mit seinem Apfelkuchen und dem Kaffeebecher setzt. Er hat hier schon viele Male gesessen und bei einem Stück Kuchen dieses furchtbare elfenbeinfarbene Xylophon betrachtet. Das letzte Mal war er hier mit seiner Schwester, vielleicht ein Jahr vor ihrem Tod. Er war mit dem Gorsetmacher-Fall beschäftigt. Sie hatte gerade eine aus der Wildnis zurückkehrende Gruppe Fischer abgesetzt.

Landsman denkt an Naomi. Die Erinnerung ist ein Luxus, wie ein Stück Kuchen. So gefährlich und begehrenswert wie Alkohol. Er ersinnt ein Gespräch mit Naomi, die Worte, mit denen sie sich über ihn lustig machen und ihn verspotten würde, wenn sie hier wäre. Wegen seines blutigen Überschlags im Schnee bei diesen trotteligen Zilberblats. Weil er mit einer frommen alten Dame im Fond einer hypertrophen Limousine Ginger Ale getrunken hat. Weil er glaubt, sein Alkoholproblem aussitzen und lange genug high bleiben zu können, um den Mörder von Mendel Shpilman zu finden. Weil er seine Dienstmarke eingebüßt hat. Weil ihm die angemessene Hektik angesichts der Reversion abgeht, weil er keine Meinung dazu hat. Naomi behauptete, Juden zu hassen, weil sie sich dem Schicksal demütig unterwerfen, weil sie Gott und den Christen bedenkenlos vertrauen. Aber Naomi hatte eine Meinung zu allem. Sie kontrollierte und wartete ihre Meinungen, polierte und pflegte sie. Und sie hätte, denkt Landsman, seinen Entschluss kritisiert, den Kaffee nicht à la mode zu nehmen.

»Die Vereinigung jiddischer Polizisten«, sagt die Tochter des Kuchenmanns, als sie sich neben Landsman auf die Bank setzt. Sie hat ihre Schürze abgenommen und die Hände gewaschen. Über den Ellenbogen sind ihre sommersprossigen Arme mit Mehl bestäubt. Sie hat Mehl in den blonden Augenbrauen. Das Haar trägt sie mit einem schwarzen Gummiband zurückgebunden. Sie ist eine eindringlich schlichte Frau mit wässrigblauen Augen, ungefähr in Landsmans Alter. Ein Geruch von Butter, Tabak und das säuerliche Aroma von Teig gehen von ihr aus, was Landsman seltsam erotisch findet. Sie zündet sich eine Mentholzigarette an und bläst ihm eine Rauchwolke ins Gesicht. »Das ist mal was Neues.«

Sie steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen und streckt die Hand nach dem Mitgliedsausweis aus. Sie tut so, als bereite ihr der Text keine Probleme.

»Doch, ich kann Jiddisch lesen«, sagt sie schließlich. »Ist ja schließlich nicht so ’n Scheiß-Aztekisch oder so.«

»Ich bin wirklich bei der Polizei«, sagt Landsman. »Heute ermittle ich bloß privat. Deshalb benutze ich nicht meinen Dienstausweis.«

»Zeigen Sie mir das Bild«, sagt sie. Landsman reicht ihr das Polizeifoto von Mendel Shpilman. Sie nickt, und kurz reißt der Panzer ihres Überdrusses an einer flüchtigen Naht auf.

»Kannten Sie ihn, Miss?«

Sie reicht das Bild zurück. Schüttelt den Kopf, runzelt abwehrend die Stirn.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragt sie.

»Er wurde ermordet«, sagt Landsman. »In den Kopf geschossen.«

»Das ist hart«, sagt sie. »O Gott.«

Landsman holt eine neue Packung Papiertaschentücher aus seiner Manteltasche und schiebt sie ihr hinüber. Sie putzt sich die Nase und knüllt das Taschentuch dann in der Faust zusammen.

»Woher kannten Sie ihn?«, fragt Landsman.

»Ich habe ihn mitgenommen«, sagt sie. »Einmal. Das war alles.«

»Wohin?«

»Zu einem Motel, unten an der Route 3. Ich mochte ihn. Er war lustig. Er war lieb. Irgendwie unkompliziert. Irgendwie durch den Wind. Er sagte, er hätte ein Problem, nun ja. Mit Drogen. Aber er wolle davon loskommen. Es sah so aus, er hatte einfach so eine Art.«

»Tröstlich?«

»Hm. Nein. Er war einfach, hm, ach, weiß nicht. Einfach da. Eine gute Stunde lang dachte ich, ich wäre in ihn verliebt.«

»Waren Sie aber nicht?«

»Ich schätze, ich hatte keine Möglichkeit, das herauszufinden.«

»Hatten Sie Sex mit ihm?«

»Sie sind Bulle, okay«, sagt sie. »Ein Nos, heißt das bei euch nicht so?«

»Richtig.«

»Nein, ich hatte keinen Sex mit ihm. Ich wollte. Ich hab mich sozusagen in sein Motelzimmer eingeladen. Ich schätze, ich hab mich ihm ziemlich, hm, an den Hals geworfen. Damit will ich nichts Schlechtes über ihn sagen. Wie gesagt, er war superlieb und so, aber er war echt durch den Wind. Seine Zähne sahen aus … Jedenfalls denke ich, dass er es merkte.«

»Dass er was merkte?«

»Dass ich … dass ich ein kleines Problem habe. Wenn ich in die Nähe von Männern komme. Deshalb gehe ich ihnen lieber aus dem Weg. Verstehen Sie mich nicht falsch, Sie sind überhaupt nicht mein Fall.«

»Ja, Ma’am.«

»Ich habe eine Therapie gemacht. Zwölf Schritte. Wurde neu geboren. Das Einzige, was wirklich hilft, ist Kuchenbacken.«

»Deshalb sind die also so gut.«

»Ha.«

»Er hat Ihr Angebot nicht angenommen.«

»Hätte er niemals. Er war ganz süß. Hat meine Bluse zugeknöpft. Ich fühlte mich wie ein kleines Mädchen. Dann hat er mir etwas gegeben. Er sagte, ich könne es behalten.«

»Was war das?«

Sie senkt den Blick, und das Blut färbt ihr Gesicht so dunkel, dass Landsman es fast pulsieren hört. Die nächsten Worte kommen nur langsam und geflüstert aus ihr heraus.

»Seinen Segen«, sagt sie. Dann, deutlicher: »Er sagte, er würde mir seinen Segen geben.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er schwul war«, sagt Landsman. »Ich meine nur.«

»Ich weiß«, sagt sie. »Hat er mir gesagt. Er hat das Wort nicht benutzt. Er hat eigentlich überhaupt keine Worte benutzt, und wenn, dann kann ich mich nicht daran erinnern. Ich denke, was er sagen wollte, war, dass er keine Lust mehr hatte, sich damit abzugeben. Er meinte, Heroin sei einfacher und zuverlässiger. Heroin und Bridge.«

»Schach. Er spielte Schach.«

»Egal. Aber seinen Segen habe ich trotzdem bekommen, nicht?«

Es schien, als müsse die Antwort auf diese Frage Ja lauten.

»Ja«, sagt Landsman.

»Komischer kleiner Jude. Das Abgefahrene daran ist … keine Ahnung. Es hat irgendwie funktioniert.«

»Was hat funktioniert?«

»Der Segen. Ich meine, ich habe jetzt einen Freund. Einen richtigen. Wir sind total verknallt, echt komisch.«

»Das freut mich für Sie«, sagt Landsman und spürt einen stechenden Neid auf sie, auf all die Menschen, die das Glück hatten, von Mendel Shpilman gesegnet zu werden. Er überlegt, wie oft er direkt an Mendel vorbeigegangen sein muss, wie viele Chancen er vertan hat. »Sie sagten also, als Sie ihn mitnahmen, zu diesem Motel, fuhr er einfach per Anhalter. Sie haben ihn nur mitgenommen, weil Sie … Sie wissen schon.«

»Einen reingeschoben haben wollte? Nein.« Mit der Spitze ihres Schaffellstiefels tritt sie ihre Zigarette aus. »Es war ein Gefallen. Für eine Freundin. Ihn dahin zu fahren, meine ich. Sie kannte den Typ. Frank hieß er, sagte sie. Sie hat ihn von irgendwo hergeflogen. Sie war Pilotin. Sie hat mich gebeten, ihn mitzunehmen und ihm zu helfen, eine Unterkunft für ihn zu finden. Irgendwas Unauffälliges, meinte sie. Also habe ich das gemacht.«

»Naomi«, sagt Landsman. »Das war Ihre Freundin?«

»Mmh, ja. Kannten Sie sie?«

»Ich weiß, wie gerne sie Kuchen mochte«, sagt Landsman. »Dieser Frank, war das ein Kunde von ihr?«

»Glaub schon. Weiß nicht genau. Ich habe nicht gefragt. Aber die beiden kamen zusammen mit dem Flugzeug. Er muss es gechartert haben. Das können Sie doch bestimmt rausfinden mit Ihrem schicken Ausweis.«

Landsman spürt, dass sich eine Taubheit über seine Glieder legt, eine willkommene Taubheit, ein Gefühl von Schicksal, fast identisch mit Friedlichkeit, so wie der Biss einer Schlange, die ihre Opfer lieber lebendig und in Ruhe verschluckt. Die Tochter des Kuchenmanns neigt den Kopf dem unberührten Stück Apfelstreusel auf dem Pappteller zu, der den leeren Platz auf der Bank zwischen ihnen einnimmt.

»Das verletzt mich wirklich sehr«, sagt sie.

28.

Auf allen Fotos, die die Landsman-Sprösslinge über einen längeren Zeitraum in ihrer Kindheit zeigen, posiert Landsman mit dem Arm um die Schultern seiner Schwester. Auf den frühen Bildern reicht Naomis Kopf gerade bis zu seinem Bauch. Auf dem letzten ist der Geist eines Schnurrbarts auf Landsmans Oberlippe erkennbar, und er ist seiner Schwester nur noch vier, fünf Zentimeter voraus. Auf den ersten Fotos wirkt diese Geste noch niedlich: Der große Bruder kümmert sich um seine kleine Schwester. Sieben oder acht Bilder später bekommt die beschützende Haltung etwas Drohendes. Nach einem Dutzend macht man sich allmählich Sorgen um diese Landsman-Geschwister. Zusammengedrängt unter dem beschirmenden Arm lächeln sie tapfer in die Kamera wie zwei Kinder in der Adoptionsrubrik einer Zeitung, die ein neues Zuhause verdient haben.

»Waisen einer Tragödie«, sagte Naomi eines Abends, als sie in einem alten Fotoalbum blätterte. Die Seiten waren aus gewachstem Karton und mit einer knittrigen Polyurethanfolie überzogen, damit die Bilder nicht herausfielen. Die Plastikschicht verlieh der im Album dargestellten Familie etwas Konserviertes, als sei sie wie ein Asservat aufbewahrt worden. »Zwei liebenswerte Blagen suchen ein Zuhause.«

»Bloß war Freydl da noch nicht tot«, sagte Landsman, wohl wissend, dass er seiner Schwester damit eine dicke Vorlage gab. Ihre Mutter war nach kurzem, erbitterten Kampf gegen den Krebs gestorben, hatte gerade so lange gelebt, dass Naomi ihr mit dem Abgang vom College das Herz brechen konnte.

Naomi sagte: »Musst du gerade sagen.«

Wenn Landsman in letzter Zeit diese Bilder betrachtet, kommt es ihm vor, als wollte er seine Schwester festhalten, sie davor bewahren, fortzufliegen und an einem Berg zu zerschellen.

Naomi war ein robustes Kind, viel robuster, als Landsman je sein musste. Sie war zwei Jahre jünger, also nah genug dran, um alles, was Landsman tat oder sagte, als Leistungsmarke zu sehen, die übertrumpft, oder als Theorie, die widerlegt werden musste. Sie war jungenhaft als Mädchen und männlich als Frau. Wenn ein betrunkener Narr sie fragte, ob sie lesbisch sei, antwortete sie gerne: »In jeder Hinsicht, nur nicht sexuell.«

Und tatsächlich hatte sie sich von einem frühen Freund den Fliegervirus eingefangen. Landsman fragte Naomi nie, was sie daran so attraktiv fand, warum sie so lange und hart gearbeitet hatte, um die Fluglizenz zu bekommen und die homophobe Welt männlicher Buschpiloten zu erschüttern. Für nutzlose Spekulationen war sie nicht zu haben, seine forsche Schwester. Aber so wie Landsman es versteht, kämpfen die Tragflächen eines Flugzeugs unablässig gegen die sie umschließende Luft, krümmen, täuschen und verwinden sie, drücken und weisen sie ab. Bekämpfen die Luft, so wie der Lachs gegen die Strömung des Flusses kämpft, in dem er sterben wird. Wie beim Lachs — jener Zionist des Wassers mit seinem ewigen Traum von der tödlichen Heimat — war es Naomis Art, ihre Kraft und Energie im Kampf zu verbrennen.

Aber nicht dass sich diese Anstrengung je in ihrer gradlinigen Art, ihrem anmaßenden Auftreten, ihrem Lächeln niedergeschlagen hätte. Wie Errol Flynn machte sie nur bei Scherzen ein ernstes Gesicht und grinste wie ein Lottogewinner, wenn es richtig ernst wurde. Hätte man dieser Jüdin einen kleinen Bleistiftschnurrbart angemalt, hätte sie sich, den Säbel in der Hand, vom Rigg eines Dreimasters schwingen können. Sie war unkompliziert, Landsmans kleine Schwester, und in dieser Hinsicht einzigartig unter den Frauen, die er kannte.

»Die war total durchgedreht«, sagt der Flugverkehrsleiter vom Informationsdienst des Flugplatzes Yakovy. Er heißt Larry Spiro, ein magerer, buckliger Jude aus Short Hills, New Jersey. Ein »Mexikaner«, wie die Juden von Sitka ihre Verwandten aus dem Süden nennen; die Mexikaner wiederum nennen die Sitka-Juden »Eisberge« oder auch »die Eiserwählten«. Spiros dicke Brille gleicht eine Hornhautverkrümmung aus, seine Augen dahinter flackern skeptisch. Drahtiges, graues Haar steht ihm vom Kopf ab wie Zornesstrahlen in einem Zeitungscomic. Er trägt ein weißes Oxfordhemd mit seinem Monogramm auf der Brusttasche und eine rote Krawatte mit goldenen Streifen. In Erwartung des Whiskeys vor sich schiebt er langsam die Ärmel hoch. Seine Zähne haben dieselbe Farbe wie sein Hemdkragen.

»Christ!« Wie die meisten im Distrikt arbeitenden Mexikaner klammert sich Spiro unheimlich an die englische Sprache. Für einen Ostküstenjuden ist der Distrikt Sitka das Exil aller Exile, Hotzeplotz, der Hinterhof von Nirgendwo. Englisch zu sprechen bedeutet für einen Juden wie Spiro, weiter in der realen Welt zu leben, sich selbst zu versprechen, dass er bald zurückkehren wird. Er lächelt. »Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die so viel Ärger hatte.«

Sie sitzen in Ernie’s Skagway Bar and Grill in dem flachen Aluminiumklotz, der das Terminal beherbergte, als der Flughafen noch eine Piste am Rande der Wildnis war. In einer weiter hinten gelegenen Ecke warten sie auf ihre Steaks. Viele behaupten, dass es bei Ernie’s Skagway das einzig vernünftige Steak zwischen Anchorage und Vancouver gebe. Ernie fliegt das Fleisch täglich von Kanada ein, blutig und auf Eis gepackt. Die Einrichtung ist so minimalistisch wie in einer Pommesbude: Vinyl, Laminat und Stahl. Die Teller sind aus Plastik, die Servietten so knittrig wie das Papier auf dem Untersuchungstisch eines Arztes. Man bestellt das Essen an der Theke und setzt sich mit einem Zettel, auf dem eine Nummer steht, an einen Tisch. Die Kellnerinnen sind berühmt für ihr fortgeschrittenes Alter, ihre schlechte Laune und die körperliche Ähnlichkeit mit dem Führerhaus eines Trucks. Die Atmosphäre des Etablissements ist das Ergebnis seiner Schankerlaubnis und seiner Stammgäste: Piloten, Jäger und Fischer und die übliche Yakovy-Mischung aus Schtarkern und Untergrundtricksern. An einem Freitagabend in der Hochsaison kann man von Elchfleisch bis zu Ketaminen alles kaufen oder verkaufen und einige der unglaublichsten Lügen hören, die je ersonnen wurden.

Um sechs Uhr an einem Montagabend sind es hauptsächlich Flughafenmitarbeiter und ein paar vereinzelte Piloten, die die Bar am Laufen halten. Ruhige Juden, hart arbeitende Menschen, Männer mit Strickkrawatten und ein mäßig Jiddisch sprechender amerikanischer Buschpilot, der gerne behauptet, er habe einmal erst nach dreihundert Meilen gemerkt, dass er auf dem Kopf flog. Die Theke selbst ist ein unförmiger Koloss aus Eiche, pseudo-viktorianisch, gerettet aus dem ruinierten Franchise-Betrieb einer amerikanischen Steakhauskette mit Cowboymotto unten in Sitka.

»Ärger«, sagt Landsman. »Bis zum bitteren Ende.« Spiro runzelt die Stirn. Er war in Yakovy der Verantwortliche vom Dienst, als Naomis Flugzeug gegen Mount Dunkelblum prallte. Spiro hätte nichts tun können, um den Absturz zu verhindern, aber das Thema tut ihm weh. Er zieht seine Nylonaktentasche auf und holt einen dicken blauen Ordner hervor. Er enthält ein von einer großen Büroklammer zusammengehaltenes dickes Dokument und einige lose Blätter.

»Ich habe mir die Zusammenfassung noch mal angeguckt«, sagt er in feierlichem Tonfall. »Das Wetter war ordentlich. Die nächste Wartung ihres Flugzeugs war fällig. Ihre letzte Meldung war Routine.«

»Hm«, sagt Landsman.

»Suchen Sie einen neuen Anhaltspunkt?« In Spiros Ton klingt kein Mitleid mit, aber die Bereitschaft, es im Notfall zu zeigen.

»Ich weiß nicht, Spiro. Ich gucke nur.«

Landsman nimmt den Ordner und blättert schnell durch das dicke Dokument, eine Kopie des Abschlussberichts der Flugaufsichtsbehörde, legt es beiseite und greift zu einem der losen Blätter.

»Das ist der Flugplan, nach dem Sie gefragt haben. Für den Morgen vor dem Absturz.«

Landsman liest das Formular, das die Absicht der Pilotin Naomi Landsman bekräftigt, ihre Piper Super Cub mit einem Passagier von Peril Strait in Alaska nach Yakovy, Distrikt Sitka, zu fliegen. Das Formular sieht wie ein Computerausdruck aus, die Kästchen säuberlich gefüllt in Times New Roman, 12 Punkt.

»Sie hat den Flug also telefonisch angemeldet, ja?« Landsman prüft die Zeitangaben. »Am Morgen, fünf Uhr dreißig.«

»Sie hat das automatische System benutzt, ja. Machen die meisten.«

»Peril Strait«, sagt Landsman. »Das ist wo? Draußen bei Tenakee, oder?«

»Südlich davon.«

»Das heißt, wir sprechen hier von — was, einem Zweistundenflug von dort nach hier?«

»Mehr oder weniger.«

»Da war sie wohl ziemlich optimistisch«, sagt Landsman. »Sie hat ihre voraussichtliche Ankunftszeit mit Viertel nach sechs angegeben. Eine Dreiviertelstunde nach Einholen der Flugerlaubnis.«

Spiro hat ein Hirn, das von Anomalien angezogen und abgestoßen wird. Er nimmt Landsman den Ordner ab und dreht ihn um. Er blättert durch den Stapel von Unterlagen, die er zusammengesucht und kopiert hat, nachdem er Landsmans Einladung zu einem Steak annahm.

»Sie ist aber wirklich um Viertel nach sechs eingetroffen«, sagt er. »Steht hier im Logbuch des Fluginformationsdienstes. Sechs Uhr siebzehn.«

»Also, entweder — verstehe ich das richtig? Entweder hat sie den Zweistundenflug von Peril Strait nach Yakovy in weniger als 45 Minuten geschafft«, sagt Landsman, »oder … oder sie hat ihren Flugplan geändert, als sie schon unterwegs war. Hat einfach die Richtung geändert.«

Die Steaks kommen; die Kellnerin nimmt ihre Zettel entgegen und lässt die schweren Scheiben kanadischen Rindes auf dem Tisch zurück. Sie riechen gut und sehen gut aus. Spiro ignoriert sie. Er hat sein Getränk vergessen. Er geht noch einmal den Papierstapel durch.

»Also, das hier ist der Tag davor. Sie flog mit drei Passagieren von Sitka nach Peril Strait. Um vier startete sie, um halb sieben meldete sie sich ab. Gut, dann war es also dunkel, als sie da ankam. Sie hat vor, über Nacht zu bleiben. Am nächsten Morgen dann …« Er hält inne. »Hm.«

»Was?«

»Hier ist … ich schätze, das war ihr ursprünglicher Flugplan. Sieht aus, als hätte sie vorgehabt, am nächsten Morgen nach Sitka zu fliegen. Ursprünglich. Nicht nach Yakovy.«

»Mit wie vielen Passagieren?«

»Keinem.«

»Aber dann hat sie, nachdem sie eine Weile geflogen ist, vermeintlich Richtung Sitka und allein, aber tatsächlich mit einem geheimnisvollen Passagier an Bord, plötzlich ihr Ziel geändert und Kurs auf Yakovy genommen.«

»So sieht es aus.«

»Peril Strait«, sagt Landsman. »Was gibt es in Peril Strait?«

»Was soll es dort schon geben? Elche, Bären. Rotwild. Fische. Alles, was ein Jude töten will.«

»Das glaube ich nicht«, sagt Landsman. »Ich glaube nicht, dass das ein Angelausflug war.«

Spiro runzelt die Stirn, dann steht er auf und geht hinüber an die Theke. Er schiebt sich an den amerikanischen Piloten heran und unterhält sich mit ihm. Der Pilot wirkt argwöhnisch, vielleicht ist das eine ihm angeborene Eigenschaft. Aber er nickt und folgt Spiro an den Tisch.

»Rocky Kitka«, sagt Spiro. »Detective Landsman.«

Dann setzt er sich und widmet sich seinem Steak.

Kitka trägt eine schwarze Lederhose und eine passende Weste auf der nackten Haut, die von den Handgelenken bis zur Kehle und bis zum Hosenbund mit tätowierten Indianermotiven bedeckt ist. Wale mit großen Zähnen und Biber, am linken Bizeps eine Schlange oder ein Aal mit verschlagenem Blick.

»Sind Sie Pilot?«, fragt Landsman.

»Nein, ich bin Polizist.« Kitka lacht mit rührender Freude über diese Kostprobe seines Witzes.

»Peril Strait«, sagt Landsman. »Waren Sie da schon mal?«

Kitka schüttelt den Kopf, aber Landsman ist sich sofort sicher, dass das nicht stimmt.

»Wissen Sie was darüber?«

»Nur wie es von oben aussieht, Detective.«

»Kitka«, sagt Landsman. »Das ist ein Indianername.«

»Mein Vater ist Tlingit. Meine Mutter ist schottischirisch, deutsch und schwedisch. Außer jüdisch ist bei mir so gut wie alles vertreten.«

»Gibt es viele Indianer in Peril Strait?«

»Ausschließlich.« Kitka sagt es mit schlichter Autorität und erinnert sich dann an seine Behauptung, nichts über Peril Strait zu wissen. Sein Blick weicht Landsman aus, fällt auf das Steak. Er wirkt extrem hungrig.

»Keine Weißen?«

»Ein oder zwei vielleicht, versteckt in den Buchten.«

»Und Juden?«, fragt Landsman.

Kitka bekommt einen harten Gesichtsausdruck, einen sich schützenden Blick.

»Wie gesagt. Ich kenne es nur vom Vorbeifliegen.«

»Ich mache eine kleine Ermittlung«, sagt Landsman. »Es sieht aus, als gebe es da was, das einen Juden aus Sitka interessieren könnte.«

»Da ist man in Alaska«, sagt Kitka. »Ein jüdischer Bulle, bei allem Respekt, Detective, aber der kann dort den ganzen Tag Fragen stellen. Da ist keiner, der darauf antworten müsste.«

Landsman macht Platz auf der Bank.

»Komm, mein Schejner«, sagt er auf Jiddisch. »Nimm es. Es gehört dir. Ich habe es nicht angefasst.«

»Wollen Sie es nicht essen?«

»Ich habe keinen Appetit, weiß auch nicht, warum.«

»Das ist das New York Steak, oder? Das New York mag ich besonders gerne.«

Kitka setzt sich, und Landsman schiebt ihm den Teller zu. Er trinkt seinen Kaffee und beobachtet, wie die beiden Männer ihr Essen vertilgen. Als Kitka fertig ist, sieht er deutlich glücklicher aus und weniger argwöhnisch, weniger besorgt, hereingelegt zu werden.

»Verdammt, ist das Fleisch gut«, sagt er und trinkt einen großen Schluck Eiswasser aus einem roten Plastikhumpen. Er sieht Spiro an, dann zur Seite, dann Landsman, dann wieder zur Seite. Er starrt in das Wasserglas.

»Preis des Essens«, sagt er bitter. Dann: »Es gibt da so eine Art Besserungsanstalt. Habe ich gehört. Für gläubige Juden, die abhängig von Drogen oder wer weiß was sind. Ich schätze, selbst die mit den langen Bärten geraten manchmal an Drogen und Alkohol und begehen Bagatelldelikte.«

»Leuchtet ein, dass sie es irgendwo weitab vom Schuss machen«, sagt Spiro. »So etwas ist eine ziemlich große Schande.«

»Ich weiß nicht«, sagt Landsman. »Es ist nicht einfach, die Erlaubnis zu bekommen, jenseits der Grenze ein jüdisches Unternehmen aufzuziehen. Nicht mal eine wohltätige Einrichtung.«

»Wie gesagt«, sagt Kitka. »Ich hab nur dies und das gehört. Ist wahrscheinlich Blödsinn.«

»Seltsam«, sagt Spiro. Er ist wieder in der Welt des Dossiers versunken, blättert vor und zurück.

Landsman sagt: »Was ist seltsam?«

»Hm, ich guck das hier durch, und wissen Sie, was ich nicht finde? Ich finde nicht den Flugplan für … für den tödlichen Flug. Von Yakovy zurück nach Sitka.« Er holt sein Shoyfer hervor und drückt auf zwei Tasten, wartet. »Ich weiß, dass sie ihn abgegeben hat. Ich kann mich erinnern, ihn gesehen zu haben. Bella? Hier Spiro. Hast du kurz Zeit? Hm, ja. Gut. Hör zu. Kannst du kurz etwas für mich nachsehen? Du müsstest mir einen Flugplan aus dem Computer holen.« Er nennt der diensthabenden Kollegin Naomis Namen sowie Datum und Uhrzeit ihres letzten Fluges. »Kannst du das eingeben? Ja.«

»Kannten Sie meine Schwester, Mr. Kitka?«, fragt Landsman.

»Kann man so sagen«, sagt Kitka. »Hat mir mal in den Arsch getreten.«

»Willkommen im Club«, sagt Landsman.

»Das kann nicht sein«, sagt Spiro in angespanntem Tonfall. »Kannst du noch mal gucken?«

Jetzt spricht keiner mehr. Sie sehen nur noch zu, wie Spiro Bella am anderen Ende der Leitung lauscht.

»Da stimmt was nicht, Bella«, sagt Spiro schließlich. »Ich komme rüber.«

Spiro legt auf. Er sieht aus, als würde ihm das gute Steak wieder hochkommen.

»Was ist?«, fragt Landsman. »Spiro, was ist los?«

»Sie kann den Flugplan im Computer nicht finden.« Er steht auf und sammelt die verstreuten Blätter von Naomis Akte ein. »Aber ich weiß, dass das nicht sein kann, weil die Nummer hier im Absturzbericht steht.« Er hält inne. »Oder auch nicht.«

Wieder schlägt er die eng betippten Blätter des dicken, geklammerten Bündels vor und zurück, das die Ermittlungsergebnisse der Flugaufsichtsbehörde im Fall von Naomis tödlicher Begegnung mit dem Nordwesthang von Mount Dunkelblum umfasst.

»Da ist einer dran gewesen«, sagt er schließlich, zuerst unwillig, sein Mund ein Schlitz. Als die Schlussfolgerung sich in seinem Kopf ausbreitet, entspannt er sich ein wenig. Wird lockerer. »Jemand ganz oben.«

»Ganz oben«, sagt Landsman. »So weit oben, wie man beispielsweise sein muss, um die Genehmigung für ein jüdisches Rehabilitationszentrum auf Indianerland zu bekommen?«

»Zu weit oben für mich«, sagt Spiro. Er schlägt die Akte zu und schiebt sie sich unter den Arm. »Ich kann nicht länger bleiben, Landsman. Tut mir leid. Danke für das Steak.«

Als er gegangen ist, holt Landsman sein Mobiltelefon hervor und wählt eine Nummer mit der Vorwahl von Alaska. Als sich am anderen Ende eine Frau meldet, sagt er: »Wilfred Dick, bitte.«

»Heiliger Josef!«, sagt Kitka. »Passen Sie auf!«

Aber Landsman bekommt nur einen Sergeant an den Apparat.

»Der Inspector is’ nicht da«, sagt der Sergeant. »Worum geht’s, Detective Landsman?«

»Haben Sie vielleicht mal was gehört, keine Ahnung, über eine Besserungsanstalt draußen in Peril Strait?«, sagt Landsman. »Ärzte mit Bärten?«

»Beth Tikkun?«, sagt der Sergeant, als handele es sich um ein amerikanisches Mädchen, dessen Nachname sich auf »chicken« reimt. »Kenne ich.«

Dieses Wissen, verrät sein Ton, hat ihm bisher keine Freude beschert und wird es auch in nächster Zeit wohl nicht tun.

»Ich will denen vielleicht einen kleinen Besuch abstatten«, sagt Landsman. »Sagen wir, morgen. Meinen Sie, das wäre in Ordnung?«

Der Sergeant scheint keine angemessene Erwiderung auf diese offenbar einfache Frage zu finden.

»Morgen«, sagt er schließlich.

»Ja, ich dachte, ich könnte rüberfliegen. Mich da mal umsehen.«

»Hm.«

»Was ist los, Sergeant? Dieses Beth Tikkun, ist das eine ehrliche Sache?«

»Um die Frage zu beantworten, müsste ich eine Meinung haben, Detective«, sagt der Sergeant. »Aber das will Inspector Dick nicht. Ich sag ihm auf jeden Fall, dass Sie angerufen haben.«

»Haben Sie ein eigenes Flugzeug, Rocky?«, fragt Landsman und beendet das Gespräch mit dem Mittelfinger.

»Hab ich verloren«, sagt Kitka. »Beim Pokern. Deshalb arbeite ich für einen jüdischen Besitzer.«

»Nichts für ungut.«

»Stimmt«, sagt Kitka. »Nichts für ungut.«

»Sagen wir mal, ich würde diesem Tempel der Heilung da draußen in Peril Strait einen Besuch abstatten wollen.«

»Ich muss morgen jemanden abholen«, sagt Kitka. »Drüben in Freshwater Bay. Auf dem Weg dahin könnte ich einen kleinen Abstecher nach rechts machen. Aber ich bleibe nicht mit laufender Uhr stehen und warte auf Sie.« Er grinst ein Biberzahngrinsen. »Und es kostet Sie eine ganze Stange mehr als ein Steak.«

29.

Eine Brosche aus Gras, ein an das Schlüsselbein eines Berges geheftetes grünes Abzeichen auf einem weiten schwarzen Mantel aus Tannen. In der Mitte der Lichtung steht ein runder Brunnen, um den speichenförmig ein halbes Dutzend in braune Schindeln gekleidete Gebäude gruppiert sind, verbunden durch Pfade und getrennt durch wattierte Rasen- und Kiesflächen. Am hinteren Ende ein Spielfeld, abgekreidet für Fußball, umrundet von einer ovalen Laufbahn. Das Ganze hat die Atmosphäre eines Internats, einer hinterwäldlerischen Akademie für ungeratene Söhne aus besseren Kreisen. Ein halbes Dutzend Männer in kurzen Hosen und Sweatshirts kreist über die Laufbahn. Andere sitzen oder liegen ausgestreckt auf dem Rasen, dehnen sich vor dem Training, Arme und Beine im Winkel auf dem Boden. Ein über ein grünes Blatt verstreutes Alphabet junger Männer. Als das Flugzeug über dem Spielfeld eine Tragfläche senkt, richten sich die Kapuzen der Sweatshirts wie die Mündungen einer Flugabwehrkanone auf seinen Rumpf. Von oben ist es schwer zu sehen, aber nach Landsmans Urteil dehnen diese Männer ihre blassen langen Beine und bewegen sich, als wären sie jung und bei hervorragender Gesundheit. Ein weiterer Mann in einem dunklen Overall kommt aus den Falten des Waldes. Er verfolgt den Flug der Cessna. Den rechten Arm im Ellenbogen angewinkelt und gegen das Gesicht gedrückt, gibt er den Ruf aus: Wir haben Gesellschaft. Hinter den Wäldern erhascht Landsman ein Flackern fernen Grüns, ein Dach, vereinzelte weiße Klumpen, die auch Schneehaufen sein können.

Kitka zieht das Flugzeug mit einem Schaudern, einem Rasseln und einem Stöhnen herum, dann fallen sie urplötzlich vom Himmel, danach nur noch langsam, und schließlich treffen sie mit einem letzten Klatschen auf dem Wasser auf. Vielleicht war es Landsman, der gestöhnt hat.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde«, sagt Kitka, als er den Lycoming-Motor in Leerlauf schaltet und die beiden ihre eigenen Gedanken hören können. »Aber sechshundert Dollar scheinen mir doch nicht genug zu sein.«

Eine halbe Stunde hinter Yakovy beschloss Landsman, den gemeinsamen Flug durch eine wohlüberlegte Gabe Erbrochenes zu würzen. Die Kabine wurde von einem Geruch nach zwanzig Jahre altem, fauligem Elchfleisch und Landsman von Gewissensbissen gepeinigt, seinen nach Naomis Tod abgelegten Schwur gebrochen zu haben, nämlich von Reisen in sehr kleinen Flugzeugen Abstand zu nehmen. Seine Demonstration von Luftkrankheit ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, wie wenig er in den letzten Tagen gegessen hat.

»Tut mir leid, Rocky«, sagt Landsman und versucht, seine Stimme aus seinen Socken zu holen. »Ich denke, ich war noch nicht wieder bereit zum Fliegen.«

Seine letzte Flugreise unternahm Landsman in der Super Cub seiner Schwester, ohne irgendeine nachteilige Wirkung. Aber das war ein ordentliches Flugzeug, und Naomi war eine geschickte Pilotin, das Wetter war gut und Landsman betrunken. Diesmal forderte er den Himmel in einem bitteren Zustand der Nüchternheit heraus. Drei Becher schlechten Motelkaffees attackierten sein Nervensystem. Er war der vereinten Gnade einer vom Yukon hereinwehenden steifen Brise und eines schlechten Piloten ausgesetzt, dessen Vorsicht ihn leichtsinnig und dessen Selbstzweifel ihn kühn machten. Landsman schaukelte im Segeltuchgewebe der müden alten 206, die die Geschäftsleitung von Türkei Regional Airways als geeignet erachtete, sie Rocky Kitka anzuvertrauen. Das Flugzeug rumpelte, vibrierte und zitterte. Alle Dübel und Bolzen in Landsmans Skelett lösten sich, sein Kopf wurde nach hinten gedreht, die Arme fielen ihm ab, sein Augapfel rollte unter die Kabinenheizung. Irgendwo über den Moore Mountains kam Landsmans Vorsatz ins Stocken.

Kitka wirft die Tür auf und springt mit der Festmacherleine auf die schwimmende Plattform. Landsman schwankt aus der Kabine und stürzt auf die ergrauten Zedernplanken. Da steht er, blinzelt, taumelt, atmet in tiefen Zügen die Luft mit ihrem reinigenden Geruch von Kiefernnadeln und Seetang ein. Er richtet seine Krawatte und setzt den Hut auf den Kopf.

Peril Strait ist eine Ansammlung von Booten, eine Zapfsäule und eine Reihe verwitterter Häuser von der Farbe verrosteter Motoren. Die Häuser hocken auf ihren Pfählen wie dünnbeinige Damen. Ein schäbiger Plankenweg tastet sich an den Häusern vorbei, um zu der Slipanlage dahinter hinabzuwandern und sich dort zur Ruhe zu begeben. Alles scheint von einem Gewirr aus Trossen, verhedderten Angelschnüren und einem zerrissenen Ringwadennetz mit verkrusteten Schwimmern zusammengehalten zu werden. Das gesamte Dorf mag lediglich aus Treibholz und Draht bestehen, Strandgut einer fernen, versunkenen Stadt.

Der Flugzeugponton hat offenbar nichts mit dem Holzsteg oder dem Dorf Peril Strait zu tun. Er ist solide, kräftig gebaut und wirkt neu, weißer Beton und grau gestrichene Planken. Stolz kündet er von der Ingenieurskunst und den logistischen Bedürfnissen reicher Männer. Am Ufer endet er vor einem Stahltor. Hinter dem Tor ist eine Metalltreppe in den Hang gestickt, die sich bis zu einer Lichtung hinaufwindet. Entlang der Treppe schneidet sich eine steile Eisenbahn geradewegs bergauf. Eine mit einem Geländer umgrenzte Plattform soll nach oben befördern, was nicht die Treppe nehmen kann. Ein kleines, in die Reling des Pontons geschraubtes Metallschild verkündet auf Jiddisch und Englisch REFUGIUM BETH TIKKUN, darunter, nur auf Englisch: PRIVAT-BESITZ. Landsman fixiert die jiddischen Buchstaben. An diesem wilden Flecken von Baranof Island wirken sie fehl am Platz und erinnern an zu Hause, eine Versammlung torkelnder kleiner jüdischer Polizisten in schwarzen Anzügen und Filzhüten.

Kitka füllt seinen Stetson mit Wasser aus einem Hahn am Ponton und lässt es in das Flugzeug klatschen, einen Hut untrinkbaren Wassers nach dem anderen. Landsman schämt sich bis auf die Knochen, diese Arbeit notwendig gemacht zu haben, aber Kitka und Kotze scheinen alte Bekannte zu sein. Der Mann büßt sein Grinsen nie ganz ein. Mit dem Rand einer laminierten Karte, die die Wal- und Fischarten Alaskas aufführt, wischt der Pilot ein Gemisch aus Vomitus und Seewasser aus der Kabinentür. Er spült die Karte ab, schüttelt sie. Dann steht er in der Tür, hängt mit einer Hand im Türbogen und schaut hinab zu Landsman auf dem Ponton. Das Meer plätschert gegen die Schwimmer der Cessna und das Pfahlwerk. Der vom Stikine River herunterwehende Wind summt in Landsmans Ohren und rüttelt an der Krempe seines Hutes. Drüben im Dorf erhebt sich die raue Stimme einer Frau, sie staucht ihr Kind oder ihren Mann zusammen. Es folgt das parodierende Kläffen eines Hundes.

»Nehme an, die wissen, dass Sie kommen«, sagt Kitka. »Die Leute da oben.« Sein Grinsen wird dümmlich, verengt sich fast zu einem Schmollmund. »Nehme an, dafür haben wir gründlich gesorgt.«

»Ich habe diese Woche schon jemandem einen Überraschungsbesuch abgestattet, der lief nicht besonders gut«, sagt Landsman. Er holt Berkos Beretta aus der Tasche, zieht den Ladestreifen heraus, prüft das Magazin. »Ich bezweifle, dass man die hier wirklich überraschen kann.«

»Wissen Sie, wer die sind?«, fragt Kitka, die Augen auf die Scholem gerichtet.

»Nein«, sagt Landsman und schiebt das Magazin wieder hinein. »Weiß ich nicht. Sie?«

»Ehrlich, Kumpel«, sagt Kitka. »Ich würd’s Ihnen sagen. Auch wenn Sie mir in die Maschine gekotzt haben.«

»Egal, wer die sind«, sagt Landsman. »Die haben vielleicht meine kleine Schwester umgebracht.«

Kitka bedenkt diese Aussage, als suche er nach Schwachpunkten oder Schlupflöchern.

»Ich muss um zehn in Freshwater sein«, sagt er mit aufgesetztem Bedauern.

»Okay«, sagt Landsman. »Verstehe ich.«

»Sonst würde ich Ihnen Rückendeckung geben, echt, Kumpel.«

»He, schon gut. Was reden Sie da? Ist doch nicht Ihr Problem.«

»Ja, aber ich meine, Naomi. Die war ein echt harter Typ.«

»Da sagen Sie was.«

»Genau genommen hat sie mich nicht besonders gern gemocht.«

»Sie konnte extrem launisch sein«, sagt Landsman und steckt die Pistole in seine Jackentasche. »Manchmal.«

»Na gut«, sagt Kitka und kickt mit der Spitze seines Roper-Stiefels einen Schwung Wasser aus dem Flugzeug. »Hey, seien Sie vorsichtig, ja?«

»Ich weiß nicht, wie man das macht«, gibt Landsman zu.

»Das hatten Sie wohl gemein«, sagt Kitka. »Sie und Ihre Schwester.«

Landsman stapft über den Ponton und versucht aus Spaß, am Knauf des Stahltors zu drehen. Dann wirft er seine Tasche auf die andere Seite, erklimmt das Gatter und schwingt sich hinüber. Dabei verfängt sich ein Fuß in den Gitterstäben. Sein Schuh fällt herunter. Landsman schlägt auf der anderen Seite mit einem fleischigen Geräusch auf. Er beißt sich auf die Zunge, schmeckt sein salziges Blut. Er staubt sich ab und schaut zurück zum Ponton, um sich zu vergewissern, dass Kitka auch alles mitbekommen hat. Landsman winkt, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung ist. Nach einem Moment winkt Kitka zurück. Er schließt die Kabinentür. Klackernd erwacht der Motor zum Leben. Der Propeller verliert sich im dunklen Schimmer seiner eigenen Rotation.

Landsman beginnt den langen Anstieg die Treppe hinauf. Soweit das möglich ist, befindet er sich jetzt in einem noch schlechteren Zustand als am Freitagmorgen, als er versuchte, die Treppe im Mietshaus der Shemets’ zu erobern. In der vergangenen Nacht hat er wach auf dem harten, knirschenden Paket einer Motelmatratze gelegen. Vor zwei Tagen wurde er im Schnee angeschossen und zusammengeschlagen. Alles tut ihm weh. Er keucht. Er verspürt einen geheimnisvollen Schmerz in den Rippen und einen anderen im linken Knie. Auf halbem Wege muss er innehalten, um eine mahnende Zigarette zu rauchen. Er dreht sich um und sieht die Cessna summend in die niedrigen morgendlichen Wolken taumeln. Sie überlässt Landsman einem, wie es sich im Moment anfühlt, einsamen Schicksal.

Landsman hängt am Geländer, hoch über dem verlassenen Strand und Dorf. Tief unten auf dem krummen Holzsteg sind einige Menschen aus ihren Häusern gekommen, um seinen Aufstieg zu beobachten. Er winkt ihnen zu, höflich winken sie zurück. Dann tritt er auf das Ende seiner Papiros und stapft gleichmäßig weiter nach oben. Gesellschaft leisten ihm das Rauschen des Wassers in der Meeresbucht und das ferne Kreischen der Krähen. Dann verklingen diese Geräusche. Er hört nur noch seinen eigenen Atem, das Läuten seiner Sohlen auf den Metallstufen der Treppe und den knarzenden Riemen seiner Tasche.

Oben flattern zwei Fahnen an einem weißen Mast. Eine ist die Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika. Die andere ist eine bescheidene weiße Ausgabe, geschmückt mit einem blassblauen Davidsstern. Der Fahnenmast ragt aus einem Ring weißer Steine empor, wiederum umringt von einer Betonschürze. Auf dem Fundament des Mastes verkündet eine kleine Metalltafel FAHNENMAST GESTIFTET VON BARRY UND RHONDA GREENBAUM, BEVERLY HILLS, KALIFORNIEN. Ein Gehweg führt von der ringförmigen Schürze zum größten Gebäude, das Landsman schon aus der Luft gesehen hat. Die anderen sehen aus wie Crackerpackungen, verkleidet mit Zedernholz, aber das Hauptgebäude versucht es mit so etwas wie Stil. Das Dach aus Rippenstahl ist dunkelgrün gestrichen. Die Fenster haben Sprossen und Mittelpfosten. Eine tiefe Veranda umschließt das Gebäude von drei Seiten, sie steht auf Tannenstämmen, die noch ihre Rinde tragen. Breite Stufen führen von dem betonierten Weg hinauf zur Mitte der Veranda.

Zwei Männer stehen auf der obersten Stufe und sehen Landsman entgegen. Beide haben dicke Bärte, aber keine Schläfenlocken. Keine Strümpfe, keine schwarzen Hüte. Der linke ist jung, höchstens dreißig. Er ist groß, fast hochgewachsen, mit einer Stirn wie ein Betonbunker und einem Kiefer wie ein Fundament. Sein Bart ist renitent, neigt zu schwarzen Kringeln, jede Wange ziert ein Wirtel nackter Haut. Seine großen Hände baumeln seitlich herab, zucken wie zwei Kopffüßer. Er trägt einen großzügig geschnittenen schwarzen Anzug und eine dunkle Ripskrawatte. Landsman bemerkt ein sehnsüchtiges Zucken in den Fingern des großen Mannes und tastet mit den Augen dessen Weste nach dem Umriss einer Waffe ab. Als Landsman näher kommt, kühlen die Augen des Großen zu einem lichtlosen Schwarz ab.

Der andere Mann hat ungefähr das gleiche Alter, die gleiche Größe und Statur wie Landsman, ist schlank fast bis zur Schmächtigkeit, aber mit breiten Schultern. In der Mitte ist er weicher als Landsman, er stützt sich auf einen aus einem dunklen, glänzenden Holz gefertigten, geschwungenen Stock. Sein Bart sieht aus wie Holzkohle, gestutzt, fast lässig. Er trägt einen Tweedanzug, komplett mit Weste, und pafft nachdenklich an einer Pfeife. Er wirkt zufrieden, wenn nicht sogar erfreut, Landsman auf sich zukommen zu sehen, neugierig, ein Arzt, der eine leichte Anomalie oder einen Makel in der üblichen Präsentation erahnt. An den Füßen trägt er Mokassins, geschnürt mit Ledersenkeln.

Landsman hält auf der untersten Stufe inne und stellt seine Tasche ab. Ein Baumspecht rappelt mit seinem Knobelbecher. Einen Augenblick lang sind das und die zischend fallenden Tannennadeln die einzigen Geräusche. Sie könnten die letzten drei Männer in Südostalaska sein. Aber Landsman spürt andere Augen, die ihn durch geteilte Gardinen, durch Visiere, Periskope und Gucklöcher beobachten. Er spürt, dass das Leben dieses Ortes, die morgendlichen Übungen, das Spülen von Kaffeetassen unterbrochen wurde. Er kann in Butter angebrannte Eier riechen, getoastetes Brot.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen soll«, sagt der große Mann mit dem ungleichmäßigen Bart. Seine Stimme scheint zu lange in seiner Brust herumzuhüpfen, ehe sie herauskommt. Die Worte lösen sich nur schwer, werden langsam mit einer Kelle geschöpft. »Aber Ihr Taxi ist gerade ohne Sie abgeflogen.«

»Will ich irgendwohin?«, sagt Landsman.

»Hier bleiben Sie jedenfalls nicht, mein Freund«, sagt der Mann im Tweedanzug. Bei dem Wort Freund scheint jegliche Freundlichkeit aus ihm zu sickern.

»Aber ich habe reserviert«, sagt Landsman, ohne die ruhelosen Hände des großen Kerls aus den Augen zu lassen. »Ich bin jünger, als ich aussehe.«

Ein Geräusch wie Knochen in einem Eimer, irgendwo im Wald.

»Gut, ich bin kein Kind mehr, und ich habe auch nicht reserviert, aber ich habe wirklich ein Alkoholproblem«, sagt Landsman. »Das ist doch schon mal was.«

»Mister —«, sagt der Mann im Tweedanzug und steigt eine Stufe tiefer. Landsman kann den bitteren Tabak in seiner Pfeife riechen.

»Hören Sie«, sagt Landsman. »Ich hab von der guten Arbeit gehört, die ihr hier macht, okay? Ich habe alles versucht. Ich weiß, es ist verrückt, aber ich weiß wirklich nicht mehr weiter und habe keine Ahnung, wo ich sonst hingehen soll.«

Der Mann im Tweedanzug dreht sich zu dem großen Kerl weiter oben um. Die beiden scheinen keine Ahnung zu haben, wer Landsman ist oder was sie von ihm halten sollen. Der ganze Spaß der vergangenen Tage, insbesondere der marternde Flug von Yakovy hierher, hat offensichtlich den Nos ein wenig von Landsmans Ausstrahlung genibbelt. Er hofft und fürchtet, dass er wie ein Loser aussieht, der sein Pech in einer Tasche mit sich herumschleppt.

»Ich brauche Hilfe«, sagt er, und zu seiner Überraschung werden seine Augen heiß von Tränen. »Mir geht’s dreckig.« Seine Stimme bricht. »Das gebe ich gerne zu.«

»Wie heißen Sie?«, sagt der große Mann langsam. Seine Augen sind warm, aber ohne Freundlichkeit. Sie bedauern Landsman, ohne sich sonderlich für ihn zu interessieren.

»Felnboyger«, probiert Landsman. Den Namen zieht er aus einem alten Festnahmeprotokoll. »Lev Felnboyger.«

»Weiß jemand, dass Sie hier sind, Mr. Felnboyger?«

»Nur meine Frau. Und der Pilot natürlich.«

Die beiden Männer schauen sich an, und Landsman merkt, dass sie sich gut genug kennen, um sich, ohne zu sprechen oder etwas anderes als die Augen zu bewegen, einen heftigen Streit liefern zu können.

»Ich bin Dr. Roboy«, sagt der Lange schließlich. Er schwenkt eine Hand in Landsmans Richtung wie eine Kranladung am Ende eines Seils. Landsman will ihr aus dem Weg gehen, ergreift aber dennoch die kühle, trockene Masse. »Bitte, Mr. Felnboyger, kommen Sie doch herein.«

Er folgt den beiden über die geschliffenen Tannenbohlen der Veranda. Oben in den Balken entdeckt er ein Wespennest, und kurz sucht Landsman es auf Lebenszeichen ab, aber es wirkt so verlassen wie jedes andere Bauwerk auf diesem Berg.

Sie gelangen in einen leeren Empfangsraum, der mit weichen beigen Schaumstoffquadern eingerichtet ist wie eine Fußpflegepraxis. Langweiliger, niederfloriger Teppich, eierkartongrau. An der Wand hängen abgedroschene Markenzeichen des Lebens in Sitka, Lachsboote und Jeschiwa-Jungmänner, die Café-Gesellschaft auf der Monastir Street, ein swingender Klezmer, der ein stilisierter Nathan Kalushiner sein könnte. Wieder hat Landsman das unbehagliche Gefühl, dass das alles erst am Morgen so hergerichtet wurde. In den Aschenbechern ist keine einzige Ascheflocke. Das Regal mit dem Informationsmaterial ist gut bestückt: Drogenabhängigkeit — Wer braucht das? Und Leben: geborgt oder für immer? Ein Thermostat an der Wand seufzt, als leide es unter der Eintönigkeit. Der Raum riecht nach neuem Teppich und gelöschter Pfeife. Über der Tür zu einem mit Teppich ausgelegten Flur steht auf einem Schild: EINRICHTUNG DES EINGANGSBEREICHS GESTIFTET VON BONNY UND RONALD LEDERER, BOCA RATON, FLORIDA.

»Nehmen Sie bitte Platz«, sagt Dr. Roboy mit seiner schweren schwarzen Sirupstimme. »Fligler?«

Der Mann im Tweedanzug geht zurück zur Eingangstür, öffnet den linken Flügel und prüft die Verriegelung oben und unten. Dann schließt er ihn wieder, verriegelt die Tür und steckt den Schlüssel ein. Er geht an Landsman vorbei, streift ihn mit seiner gepolsterten Tweedschulter.

»Fligler«, sagt Landsman und greift vorsichtig nach dem Arm des kleinen Mannes. »Sind Sie auch Arzt?«

Fligler schüttelt Landsmans Hand ab. Er holt ein Streichholzheft aus der Tasche.

»Und wie«, sagt er ohne jede Aufrichtigkeit oder Überzeugung.

Mit den Fingern der rechten Hand schält er ein Streichholz aus dem Heftchen, reißt es an und hält es an den Kopf seiner Pfeife, alles in einer fließenden Bewegung. Während die rechte Hand Landsman mit dieser kleinen Vorstellung unterhält, taucht die linke in die Tasche von Landsmans Sakko und holt die ‚22 hervor.

»Das hier ist Ihr Problem, genau das«, sagt Fligler und hält die Waffe hoch, sodass jeder sie sehen kann. »Und jetzt sehen Sie sich den Arzt an.«

Landsman schaut gehorsam zu, wie Fligler die Waffe hebt und sie mit dem scharfen Blick eines Mediziners mustert. Doch eine Minute später schlägt eine Tür irgendwo in Landsman Kopf zu, und danach wird er — eine halbe Sekunde lang — vom Summen Tausender Wespen abgelenkt, die durch die Veranda seines linken Ohres hereinfliegen.

30.

Auf dem Rücken liegend, kommt Landsman zu sich, über ihm eine Reihe riesiger, gusseiserner Kessel. Mit ihren kräftigen Haken baumeln sie an einem Gitter exakt einen Meter über seinem Kopf. In Landsmans Nase mischt sich der nostalgische Geruch von Zeltlagerküche, Gas und Spülmittel, von verschmorten Zwiebeln und hartem Wasser mit dem schwachen Gestank einer Angelkiste. Unter seinem Kopf spürt er Metall, ein kalter Schauer böser Vorahnung. Er liegt ausgestreckt auf einer langen Edelstahltheke, die Hände in Handschellen unter sich, gegen sein Kreuzbein gedrückt. Barfuß, sabbernd und bereit, ausgenommen und mit einer Zitrone und vielleicht einem hübschen Salbeizweig in der Bauchhöhle dekoriert zu werden.

»Ich hab schon so einiges über Sie gehört«, sagt Landsman. »Kannibalismus war nicht dabei.«

»Ich würde Sie nicht essen, Landsman«, bekräftigt Baronshteyn. »Selbst dann nicht, wenn ich der hungrigste Mann in Alaska wäre und Sie mir mit einer silbernen Gabel vorgesetzt würden.« Er sitzt auf einem Barhocker links von Landsman, die Arme hinter dem Vorhang seines üppigen schwarzen Bartes verschränkt. »Ich habe nicht viel übrig für sauer Eingelegtes.«

Baronshteyn trägt nicht seine Berufskleidung, sondern eine neue blaue Arbeitshose und ein in die Hose gestecktes, fast völlig zugeknöpftes Flanellhemd. Einen dicken Ledergürtel mit schwerer Schnalle und schwarze Rangerstiefel. Das Hemd ist zu groß für seine Statur, die Hose steif wie ein Plätteisen. Abgesehen von seiner Jarmulke sieht Baronshteyn aus wie ein mageres kleines Kind, das sich für eine Schulaufführung als Holzfäller verkleidet hat, falscher Bart inklusive. Er hat die Stiefelabsätze in die Querstrebe des Hockers gehakt, sodass sein Hosenbein hochwandert und einige strumpflose Zentimeter schmalen Schienbeins verrät.

»Wer ist dieser Jid?«, sagt der hagere Riese Roboy. Landsman verrenkt sich den Hals, um den Arzt zu sehen, der auf einem Barhocker zu seinen Füßen thront — wenn er denn Arzt ist. Ringe unter den Augen wie Graphitspuren. Neben ihm steht Krankenpfleger Fligler, den Gehstock über den Arm gehakt, und sieht zu, wie eine Papiros in der Obhut seiner rechten Hand stirbt. Die linke Hand steckt unheilvoll in der Tasche seines Tweedsakkos. »Woher kennen Sie ihn?«

Ein Arsenal von Messern, Hackebeilen und anderen Werkzeugen an einer magnetischen Schiene entlang der Küchenwand befindet sich in bequemer Reichweite des fleißigen Küchenchefs oder Schlossers.

»Der Jid ist ein Schammes namens Landsman.«

»Er ist Polizist?«, sagt Roboy. Er sieht aus, als hätte er gerade in ein Bonbon mit scharfer Füllung gebissen. »Er hat keinen Ausweis. Fligler, hatte der Mann einen Ausweis?«

»Ich habe keinen Ausweis und keine andere Form von Etikettierung als Gesetzesvertreter bei ihm gefunden«, sagt Fligler.

»Weil ich ihm seinen Ausweis habe abnehmen lassen«, sagt Baronshteyn. »Stimmt das, Detective?«

»Ich stelle hier die Fragen«, sagt Landsman und windet sich in dem Versuch, bequemer auf seinen gefesselten Händen zu liegen. »Wenn es Sie nicht stört.«

»Es ist unwichtig, ob er einen Ausweis hat«, meint Fligler. »Hier draußen ist ein jüdischer Ausweis einen Ziegendreck wert.«

»Ich habe nichts übrig für diese Ausdrucksweise, Freund Fligler«, sagt Baronshteyn. »Wie ich, glaube ich, bereits erwähnt habe.«

»Haben Sie, aber ich kann es einfach nicht oft genug hören«, sagt Fligler.

Baronshteyn sieht ihn an. In den Abgründen seines Schädels verborgene Drüsen sondern Gift ab.

»Freund Fligler hat dafür plädiert, Sie zu erschießen und Ihre Leiche im Wald zu verscharren«, sagt er liebenswürdig, den Blick weiterhin auf den Mann mit der Waffe in der Tasche gerichtet.

»Ganz weit draußen«, sagt Fligler. »Mal sehen, was so vorbeikommt und an Ihrer Leiche knabbert.«

»Ist das Ihr Behandlungsplan, Doc?«, fragt Landsman und dreht den Kopf, um Roboy in die Augen sehen zu können. »Kein Wunder, dass es Mendel Shpilman letztes Frühjahr so eilig hatte, hier wegzukommen.«

Einen Moment nagen sie am Fleisch von Landsmans Bemerkung, schätzen ihren Geschmack und Vitamingehalt ab. Dann lässt Baronshteyn eine Prise Tadel in seinen vergifteten Blick fließen. Ihr hattet den Jid, sagt der Blick, den er Dr. Roboy zuwirft. Und ihr habt ihn entkommen lassen.

Baronshteyn beugt sich vor, krant sich auf seinem Hocker heran und spricht leise mit der ihm eigenen, bedrohlichen Zartheit. Sein Atem ist schal und beißend. Käserinden, Brotkanten, Bodensatz einer Tasse.

»Was machen Sie hier, Freund Landsman«, sagt er, »so weit draußen, wo Sie nicht hingehören?«

Baronshteyn wirkt aufrichtig verwirrt. Der Jude verlangt, informiert zu werden. Es mag, denkt Landsman, das einzige Verlangen sein, das dieser Mann sich zu empfinden gestattet.

»Das könnte ich auch Sie fragen, Baronshteyn«, sagt Landsman und überlegt, ob Baronshteyn mit diesem Ort vielleicht gar nichts zu tun hat, sondern nur ein Gast ist wie er selbst. Vielleicht ist er auf derselben Spur, vielleicht folgt auch er der letzten Flugbahn Mendel Shpilmans, versucht den Punkt zu finden, wo der Sohn des Rebbes auf den Schatten stieß, der ihn umbrachte. »Was ist das hier, ein Internat für missratene Verbover? Was sind das für Gestalten? Sie haben übrigens eine Gürtelschlaufe ausgelassen.«

Baronshteyns Finger irren zu seiner Taille, dann lehnt er sich zurück und macht ein Gesicht, das einem Lächeln ähnelt.

»Wer weiß, dass Sie hier sind, Landsman?«, sagt er. »Außer dem Pilot?«

Plötzlich empfindet Landsman stechende Angst um Rocky Kitka, der Hunderte von Meilen auf dem Kopf durchs Leben fliegt, ohne es zu merken. Landsman weiß nicht sehr viel über die Jids von Peril Strait, aber es scheint ziemlich klar, dass sie für einen Buschpiloten furchtbar unangenehm werden können.

»Was für ein Pilot?«, sagt er.

»Ich denke, wir müssen vom Schlimmsten ausgehen«, sagt Dr. Roboy. »Diese Einrichtung ist eindeutig gefährdet.«

»Sie haben zu viel Zeit mit diesen Leuten hier verbracht«, sagt Baronshteyn. »Sie fangen an, wie die zu reden.« Er löst die Schnalle seines Gürtels und schiebt ihn durch die vernachlässigte Schlaufe, ohne den Blick von Landsman zu lösen. »Aber vielleicht haben Sie recht, Roboy.« Mit einem entschiedenen Anflug von Selbstbestrafung zurrt er den Gürtel fest. »Trotzdem könnte ich wetten, dass Landsman niemandem etwas erzählt hat. Nicht mal seinem fetten Indianerkollegen. Landsman ist in einer gefährdeten Position, und das weiß er. Er hat keine Unterstützung. Keinen Zuständigkeitsbereich, keinen Einfluss, nicht mal einen Ausweis. Er würde keinem sagen, dass er ins Indianerland geht, weil er Angst hätte, dass man es ihm ausreden würde. Oder noch schlimmer, es ihm verbieten. Man würde ihm sagen, dass sein Urteilsvermögen durch den Wunsch beeinträchtigt ist, den Tod seiner Schwester zu rächen.«

Roboy verschränkt die Augenbrauen über der Nase wie zwei nervöse Hände.

»Seine Schwester?«, sagt er. »Wer ist seine Schwester?«

»Habe ich recht, Landsman?«

»Ich würde Ihnen gerne recht geben, Baronshteyn. Aber ich habe eine ausführliche Darstellung aller Dinge, die ich über Sie und dieses Unternehmen weiß, schriftlich niedergelegt.«

»Stimmt das?«

»Über diese falsche Pflegeeinrichtung für Jugendliche.«

»Aha«, sagt Baronshteyn mit aufgesetztem Ernst. »Eine falsche Pflegeeinrichtung für Jugendliche. Ganz schön schockierend.«

»Eine Fassade für Ihre Machenschaften mit Roboy und Fligler und deren mächtigen Freunden.« Landsmans Herz zittert vom wilden Herumraten. Fragt sich, wozu ein Jude so eine große Einrichtung hier draußen brauchen oder wollen kann und wie man die Indianer überreden konnte, sie bauen zu dürfen. Kann es sein, dass die Juden ein Stück Indianerland gekauft haben, um ein neues McSchtetl zu errichten? Oder soll das hier der Umschlagplatz für ein menschenschmuggelndes Unternehmen werden, eine Art Luftbrücke, um die Verbover ohne Visa oder Reisepässe aus Alaska zu schaffen? »Über die Tatsache, dass Sie Mendel Shpilman und meine Schwester umgebracht haben, damit sie nicht erzählen können, was Sie hier im Schilde führen. Dann haben Sie über Roboy und Fligler Ihre Beziehungen zu Regierungskreisen genutzt, um den Absturz zu vertuschen.«

»Das haben Sie alles aufgeschrieben, ja?«

»Ja, und es meinem Anwalt geschickt, damit es geöffnet wird, falls ich beispielsweise plötzlich von der Bildfläche verschwinden sollte.«

»Ihrem Anwalt.«

»Genau.«

»Und wer soll das sein?«

»Sender Slonim.«

»Sender Slonim, aha«, sagt Baronshteyn und nickt, als sei er vollständig überzeugt von Landsmans Behauptung. »Ein guter Jude, aber ein schlechter Anwalt.« Er rutscht von seinem Hocker, das Aufschlagen seiner Stiefelsohlen setzt einen Punkt hinter die Befragung seines Gefangenen. »Ich bin zufrieden. Freund Fligler.«

Man hört ein Sniky Sohlen quietschen über Linoleum, und als Nächstes sieht Landsman einen drohenden Schatten über seinem rechten Auge. Der Raum zwischen Stahlspitze und Landsmans Hornhaut lässt sich im Klimpern einer Augenwimper messen. Landsman reißt den Kopf zur Seite, doch Fligler am anderen Ende des Messers packt sich Landsmans Ohr und zieht daran. Landsman krümmt sich zu einer Kugel zusammen und versucht, von der Theke zu rollen. Mit dem Knauf seines Stocks schlägt Fligler auf Landsmans verbundene Wunde, und ein zackiger Stern explodiert hinter Landsmans Augen. Er kann nur noch wie eine Glocke der Schmerzen klingeln. Fligler dreht ihn auf den Bauch, klettert auf ihn, reißt seinen Kopf nach hinten und setzt ihm das Messer an die Kehle.

»Ich habe vielleicht keinen Ausweis«, bringt Landsman mühsam hervor. Er wendet sich an Dr. Roboy, der seinem Gefühl nach der am wenigsten entschlossene Jid im Raum ist. »Aber ich bin immer noch ein Nos. Wenn ihr mich umbringt, gibt es eine Menge Ärger für das, was ihr hier laufen habt.«

»Wahrscheinlich nicht«, sagt Fligler.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht«, stimmt Baronshteyn zu. »Keiner von euch Jids wird in zwei Monaten überhaupt noch Polizist sein.«

Die dünne Kette von Kohlenstoff- und Eisenatomen, die die Form einer Messerschneide angenommen haben, brennt noch heißer an Landsmans Luftröhre.

»Fligler …«, sagt Roboy und wischt sich mit seiner riesigen Hand über den Mund.

»Bitte, Fligler«, sagt Landsman. »Schneiden Sie mir die Kehle durch. Ich wäre Ihnen dankbar. Na los, Sie Memme.«

Auf der anderen Seite der Küchentür brausen erregte Männerstimmen auf. Zwei Füße scharren über den Flur, zögern, wollen klopfen. Nichts geschieht.

»Was ist?«, fragt Roboy bitter.

»Auf ein Wort, Herr Doktor«, sagt eine Stimme, jung, amerikanisch, auf Englisch.

»Tun Sie nichts«, sagt Roboy. »Warten Sie.«

Kurz bevor die Tür hinter Roboy ins Schloss fällt, hört Landsman eine Stimme, die zu sprechen beginnt, ein Sturm eckiger Silben, die sein Kopf als kehlige Laute registriert.

Fligler drückt sein Gewicht noch schwerer in Landsmans Kreuz. Es folgt die gewisse Befangenheit von Fremden in einem Fahrstuhl. Baronshteyn sieht auf seine feine Schweizer Uhr.

»Wie viel davon war richtig?«, sagt Landsman. »Nur damit ich Bescheid weiß.«

»Ha«, sagt Fligler. »Dass ich nicht lache.«

»Roboy ist ein ausgebildeter Rehabilitationstherapeut«, sagt Baronshteyn mit demonstrativ geduldiger Toleranz. Er klingt erstaunlich wie Bina, wenn sie mit einem der fünf Milliarden Menschen spricht, die ihrer Meinung nach letztendlich Idioten sind, inklusive Landsman. »Man hat hier wirklich versucht, dem Sohn des Rebbe zu helfen. Mendels Aufenthalt war absolut freiwillig. Als er sich entschied zu gehen, hatte man keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten.«

»Das hat Ihnen bestimmt das Herz gebrochen«, sagt Landsman.

»Was meinen Sie damit?«

»Ich nehme an, ein geheilter Mendel Shpilman bedeutete keine Gefahr für Sie? Für Ihren Status als gesetzlicher Erbe?«

»Oj«, sagt Baronshteyn. »Was wissen Sie schon.«

Die Tür geht auf, und Roboy schlüpft wieder herein, die Augenbrauen erhoben. Kurz bevor die Küchentür zufällt, erhascht Landsman einen Blick auf zwei bärtige junge Männer in schlecht sitzenden schwarzen Anzügen. Große Jungs, einer mit der schwarzen Schnecke eines Kopfhörers in der Ohrmuschel. Außen an der Tür steht auf einem kleinen Schild KÜCHENAUSSTATTUNG GESTIFTET VON MR. UND MRS. LANCE PEARLSTEIN, PIKESVILLE, MD.

»In acht Minuten«, sagt Roboy. »Maximal zehn.«

»Kommt jemand?«, fragt Landsman. »Wer? Heskel Shpilman? Oder weiß er sogar, dass Sie hier sind, Baronshteyn? Sind Sie hier, um mit diesen Leuten ins Geschäft zu kommen? Will man hier in Verbover Geschäfte einsteigen? Was hatten die mit Mendel vor? Wollten Sie ihn benutzen, um den Rebbe zum Handeln zu zwingen?«

»Mir scheint, Sie müssten Ihren Brief nochmal durchlesen«, bemerkt Baronshteyn. »Oder sich von Sender Slonim erzählen lassen, was drinsteht.«

Auf der anderen Seite der Tür hört Landsman Leute herumlaufen. Stuhlbeine kreischen über den Holzboden. In der Ferne das Surren und Klicken eines elektrischen Motors, ein davonsirrender Golfcaddy.

»Wir können das jetzt nicht machen«, sagt Roboy und stellt sich neben Landsman, ragt drohend über ihm auf. Sein dichter Bart beflockt sein gesamtes Gesicht von den Wangenknochen abwärts, floriert in seinen Nasenlöchern, windet sich in feinen Ranken von seinen Ohrläppchen hinab. »Das Letzte, was er will, ist irgendeine Schweinerei. Gut, Detective.« Seine langsame Stimme wird sirupartig und sofort wärmer. Eine oberflächliche Zuneigung durchzieht sie, und Landsman wird starr, wartet auf das Schlimme, das nun sicherlich folgen wird. Es stellt sich als ein Stich in den Arm heraus, schnell und gekonnt.

In den verträumten Sekunden, die dem Verlust seines Bewusstseins vorangehen, läuft die gutturale Sprache, die Landsman Roboy sprechen hörte, wie eine Aufnahme in seinem Ohr ab, und Landsman vollführt einen verblüffenden Sprung in eine unmögliche Erkenntnis. Er gleicht dem plötzlichen Gewahrwerden in einem Traum, dass man eine großartige Theorie erfunden oder ein schönes Gedicht geschrieben hat, was sich am nächsten Morgen als Geschwurbel herausstellt. Diese Juden auf der anderen Seite der Tür, sie reden über Rosen und Weihrauch. Sie stehen im Wüstenwind, unter Dattelpalmen, und Landsman ist bei ihnen, in fließenden Gewändern, die ihn vor der biblischen Sonne schützen, sie sprechen Hebräisch, und alle sind sie Freunde und Brüder, und die Berge springen wie Widder und die Hügel wie kleine Lämmer.

31.

Landsman erwacht aus einem Traum, in dem er sein rechtes Ohr in die Propellerblätter einer Cessna 206 hält. Er reckt sich unter einer feuchtkalten, nicht angeschlossenen Heizdecke in einem Zimmer, das nicht viel größer ist als das Feldbett, auf dem er ausgestreckt liegt. Mit einem vorsichtigen Finger betastet er seinen Kopf. Wo Fligler ihn ursprünglich bewusstlos schlug, ist die Haut geschwollen und feucht. Seine linke Schulter tut ebenfalls höllisch weh.

Durch das schmale Fenster über dem Feldbett lässt ein Rollo aus Metallrippen das enttäuschte Grau eines Novembernachmittags in Südostalaska sickern. Es ist weniger ein hereinsickerndes Licht als vielmehr ein Lichtrückstand, ein Tag, der von der Erinnerung an die Sonne gequält wird.

Landsman versucht, sich aufzusetzen, und stellt fest, dass seine Schulter derart stark schmerzt, weil jemand so freundlich war, sein linkes Handgelenk an ein Metallbein des Bettrahmens zu ketten. Im Schlaf hat Landsman den Arm über den Kopf gerissen und seine Schulter durch Herumwerfen und -wälzen mit einer brutalen Methode chiropraktisch bearbeitet. Dieselbe freundliche Seele, die ihn ankettete, war zuvorkommend genug, seine Hose, sein Hemd und seine Jacke zu entfernen, sodass er, wieder einmal, nicht mehr als ein Mann in Unterhose ist.

Am Kopfende kommt er auf die Füße. Dann schiebt er sich rückwärts von der Matratze, damit er so kauern kann, dass sich der linke Arm in einem natürlicheren Winkel befindet. Die gefesselte Hand ruht auf dem Boden. Der Boden ist aus gelbem Linoleum, es hat die Farbe eines gebrauchten Zigarettenfilters und ist so kalt wie das Stethoskop eines Arztes. Es wartet mit einer umfangreichen Sammlung von Wollmäusen, perückenähnlichen Staubflocken und einer schwarzen Sichel toter Kriebelmücken auf. Die Wände bestehen aus Hohlziegeln, die in einem schweren, hochglänzenden Zahnpastablau gestrichen wurden. An der Wand direkt neben Landsmans Kopf hat eine vertraute Hand in dem Mörtel zwischen zwei Hohlziegeln eine kleine Botschaft für ihn hinterlassen: HAFTZELLE GESTIFTET VON NEAL UND RISA NUDELMAN, SHORT HILLS, NEW JERSEY. Er möchte lachen, aber beim Anblick der drolligen Buchstaben seiner Schwester an diesem Ort richten sich seine Nackenhaare auf.

Abgesehen vom Bett ist der einzige weitere Gegenstand ein Mülleimer aus Metall in der Ecke hinter der Tür. Er ist für Kinder, blau und gelb, darauf tollt ein Comichund über eine Gänseblümchenwiese. Lange starrt Landsman den Mülleimer an, denkt an nichts, denkt an Kindermüll und Comichunde. Zum Beispiel an das mulmige Gefühl, das Pluto immer in ihm auslöste, ein Hund in Besitz einer Maus, tagtäglich konfrontiert mit dem grausam mutierten Goofy. Ein unsichtbares Gas umwölkt Landsmans Gedanken, Abgase von einem Bus, der mit laufendem Motor mitten in seinem Hirn parkt.

Er kauert noch eine weitere Minute oder länger neben dem Bett, sammelt sich wie ein Bettler, der auf dem Bürgersteig verstreute Münzen aufklaubt. Dann schleppt er das Feldbett zur Tür und setzt sich darauf. Mit nackten Fersen tritt er gegen die Tür, systematisch und unkontrolliert zugleich. Es ist eine hohle Stahltür, die beim Dagegentreten ein donnerndes Geräusch erzeugt. Anfangs ist es erfreulich, aber die Freude verblasst schnell. Als Nächstes versucht es Landsman mit dem wiederholten lauten Ruf: »Hilfe, ich habe mich geschnitten und verblute!« Er schreit, bis er heiser ist, und tritt, bis seine Füße pochen.

Irgendwann ist er des Tretens und Schreiens müde. Er muss urinieren. Dringend. Er betrachtet den Mülleimer, dann die Tür. Vielleicht ist es der Rest des Medikaments in seinem Blut oder der Hass, den er auf dieses winzige Zimmer verspürt, in dem seine Schwester ihre letzte Nacht auf Erden verbrachte, der Hass auf diese Männer, die ihn nackt darin anketteten. Vielleicht hat sein wütendes Geschrei ihn tatsächlich wütend gemacht. Aber die Vorstellung, in einen Mülleimer von Shnapish dem Hund pinkeln zu müssen, macht Landsman sauer.

Er schleppt das Bett zum Fenster und drückt die klappernden Jalousienstäbe zur Seite. Die Fensterscheibe ist aus geriffeltem Glas. Eine wellenförmige, grüngraue Welt in einem schweren Metallrahmen. Irgendwann — vielleicht noch vor Kurzem — gab es einen Riegel, aber seine zuvorkommenden Gastgeber haben ihn entfernt. Jetzt ist das Fenster nur noch auf eine Art zu öffnen. Landsman geht zum Mülleimer und zieht das Bett dabei hinter sich her wie ein handliches Symbol. Er hebt den Mülleimer hoch, zielt und schleudert ihn gegen das geriffelte Glas. Der Eimer prallt ab, fliegt zu Landsman zurück und trifft ihn mitten auf der Stirn. Kurz darauf schmeckt er zum zweiten Mal an diesem Tag Blut, das ihm die Wange hinunter in den Mundwinkel rinnt.

»Shnapish, du Sau«, sagt er.

Er schiebt das Bett durch das Zimmer zur langen Wand und kippt mit der freien Hand die Matratze aus dem Rahmen. Er lehnt sie an die gegenüberliegende Wand. Dann ergreift er den nun nackten Bettrahmen an beiden Enden, drückt die Knie durch und hievt ihn hoch. Kurz steht er so da, den klapprigen Rahmen parallel zum Körper. Er schwankt unter dem unerwarteten Gewicht, das gar nicht so groß ist, aber seine Kraft dennoch strapaziert. Er macht einen Schritt zurück, senkt den Kopf und schleudert den Rahmen durch das Fenster. Nebel und grüner Rasen platzen in Landsmans geblendeten Blick. Bäume, Krähen, sirrende Hornissen zerbrochenen Glases, das gewehrlaufgraue Wasser der Meerenge, ein strahlend weißes, rot abgesetztes Schwimmflugzeug. Dann reißt sich der Bettrahmen von Landsman los und springt durch die klaffenden gläsernen Fangzähne hinaus in den Morgen.

Als Schulkind hatte Landsman immer gute Noten in Physik. Newton’sche Mechanik, Körper in Ruhe und in Bewegung, Aktion und Reaktion, Schwerkraft und Masse. Physik ergab mehr Sinn als alles andere, was man Landsman je beizubringen versuchte. Beispielsweise die Vorstellung von Triebkraft, die Neigung eines in Bewegung befindlichen Körpers, in Bewegung zu bleiben. Daher sollte Landsman eigentlich nicht allzu überrascht sein, als der Bettrahmen sich nicht damit begnügt, das Fenster zu zerschmettern. Heftig reißt er an Landsmans Schulter, reißt sie fast aus dem Gelenk, und wieder wird er von dem namenlosen Gefühl ergriffen, das ihn beim Einstieg in Mrs. Shpilmans fahrende Limousine befiel: Die plötzliche Erkenntnis, wie eine umgekehrte Satori-Erfahrung, dass er einen schlimmen, wenn nicht gar tödlichen Fehler begangen hat.

Landsmans Glück ist: Er landet in einem Schneehaufen. Es ist eine hartnäckige Stelle, tief im Schatten auf der Nordseite der Wohnheime oder Kaserne versteckt. Der einzig sichtbare Schnee der gesamten Anlage, und Landsman fällt mitten hinein. Seine Kiefer knallen aufeinander, und jeder Zahn lässt seinen eigenen reinen Ton erklingen, derweil Landsmans Hintern auf dem Erdboden auftrifft und mit Landsmans Knochen sein Newton’sches Spiel veranstaltet.

Er hebt den Kopf aus dem Schnee. Kalte Luft streicht ihm über den Nacken. Zum ersten Mal, seit er sich in die Luft schwang, stellt er fest, dass er friert. Er richtet sich auf, noch immer summt sein Kiefer. Sein Rücken ist vom Schnee gezeichnet wie von den Striemen einer Stacheldrahtpeitsche. Unter dem Gewicht des Bettrahmens taumelt und wankt Landsman nach links. Der Rahmen lädt ihn ein, sich wieder zu ihm in den Schnee zu setzen. Darin zu versinken, den schmerzenden Kopf in den sauberen kalten Schneehaufen zu stecken. Die Augen zu schließen. Loszulassen.

In eben diesem Moment vernimmt Landsman das weiche Scharren von Sohlen, die um die Ecke des Gebäudes kommen, zwei Gummisohlen, die die Spuren ihres eigenen Voranschreitens ausradieren. Ein fehlerhafter Gang, das Hoppeln und Schlurfen eines hinkenden Mannes. Wieder ergreift Landsman den Bettrahmen und hievt ihn empor, dann drückt er sich mit dem Rücken gegen die schindelbedeckte Seite des Wohnheims. Als er einen Wanderstiefel und den Tweedaufschlag von Fliglers Hosenbein sieht, schleudert er den Rahmen von sich. Als Fligler um die Ecke biegt, trifft ihn die Metallkante des Rahmens mitten ins Gesicht. Eine Hand roten Blutes spreizt ihre Finger über seine Wangen und Stirn. Sein Gehstock schnellt in die Höhe und trifft mit einem Marimbaton auf dem Pflaster auf. Als traue sich der Bettrahmen nicht ohne seinen besten Freund, zerrt er Landsman hinter sich her. Der Geruch von Fliglers Blut erfüllt Landsmans Nase. Er rappelt sich auf und entwindet mit seiner freien Hand die Scholem Fliglers schlaffen Fingern.

Er hebt die Automatik und erwägt, den am Boden liegenden Mann mit schwarzer Bereitwilligkeit zu erschießen. Dann schweift sein Blick zum Haupthaus hinüber, hundertfünfzig Meter weiter. Dunkle Gestalten bewegen sich hinter den Terrassentüren. Sie stoßen sie auf, und die o-lippigen Visagen von großen jungen Jids in Anzügen füllen die Türrahmen. Landsman beneidet sie um ihre jugendliche Fähigkeit des Staunens, hebt aber dennoch die Pistole in ihre Richtung. Sie ducken sich und ziehen sich zurück, wodurch ein großer, schlanker, hellhaariger Mann ins Blickfeld gerät. Der Neuankömmling, frisch aus dem Bauch seines strahlend weißen Wasserflugzeugs. Sein Haar ist wirklich auffällig, wie ein Sonnenstrahl auf einer Metallplatte. Pinguin-Pullover, weite Kordhose. Kurz runzelt der Mann im Pinguin-Pullover die Stirn und schaut verwirrt drein. Dann zerrt ihn jemand von der Tür fort, weil Landsman ihn anvisiert.

Die Handschelle schneidet in Landsmans Handgelenk, sie ist so scharf, dass sie seine Haut abscheuert. Er überlegt es sich anders und zielt mit der Pistole auf seinen linken Arm. Vorsichtig gibt er einen einzigen Schuss ab, und die Handschelle löst sich, baumelt an seinem Gelenk. Mit leichtem Bedauern stellt Landsman den Bettrahmen ab, als sei es der Körper eines wichtigtuerischen, aber loyalen Faktotums, das den Landsmans treue Dienste erwiesen hat. Dann macht er sich auf in Richtung Wald, steuert auf eine Lücke zwischen den Bäumen zu. Es müssen mindestens zwanzig gesunde junge Juden hinter ihm her sein. Sie schreien, fluchen, erteilen Befehle. In der ersten Minute rechnet er damit, den verzweigten Blitz eines Schusses in seinem Hirn zu sehen und im langsamen Donnergrollen niederzusinken. Aber es geschieht nichts; es gab wohl Anweisung, nicht zu schießen.

Das Letzte, was er will, ist irgendeine Schweinerei.

Landsman stellt fest, dass er über einen Feldweg läuft, akkurat angelegt und gut gepflegt, gesäumt von roten Reflektoren an Metallstäben. Er erinnert sich an den fernen Streifen Grüns, den er aus der Luft erblickte, hinter dem Wald, betupft mit Schneehaufen. Er nimmt an, dass dieser Weg dorthin führt. Irgendwohin muss er ja führen.

Landsman läuft durch den Wald. Auf dem Weg liegen Tannennadeln, sie dämpfen den Aufprall seiner nackten Fersen. Fast kann er sehen, wie die Wärme aus seinem Körper weicht, wie er sie in schimmernden Wellen hinter sich herzieht. Hinten im Mund hat er einen Geschmack, der dem Geruch von Fliglers Blut ähnelt. Die Glieder der zerschossenen Kette baumeln klirrend an der Handschelle. Irgendwo hämmert sich ein Baumspecht die Seele aus dem Leib. Landsmans Seele ist ebenfalls schwer beschäftigt, will aus diesen Männern und ihren Angelegenheiten schlau werden. Aus diesem verkrüppelten Professorentyp, dessen TEC-9 Landsman jetzt bei sich trägt. Aus dem Arzt mit der Betonstirn. Aus den verlassenen Zimmern in den Wohnheimen. Aus dieser Besserungsanstalt, die keine ist. Aus den strammen Jungs auf dem Gelände, die ungeduldig mit den Hufen scharren. Aus dem goldenen Mann im Pinguin-Pulli, der keine Schweinerei will.

Derweil ist ein anderer Teil seines Hirns mit der Einschätzung der Außentemperatur beschäftigt — circa zwei, drei Grad — und macht dann weiter mit der Berechnung oder dem Abruf von Tabellen mit Zeitangaben, die Landsman einmal gesehen haben mag, wie lange es dauert, bis ein jüdischer Polizist in Unterhose an Unterkühlung stirbt. Doch die kommandoführenden Zellen seines großen ruinierten Organs, betäubt und verwirrt, befehlen ihm zu laufen, einfach nur weiterzulaufen.

Abrupt endet der Wald, und Landsman steht vor einem Maschinenschuppen, graues Stahlblech, keine Fenster, gewelltes Plastikdach. Ein skrotales Paar Propangastanks drückt sich an die Außenwand des Gebäudes. Der Wind ist hier noch schneidender, Landsman spürt ihn wie kochend heißes Wasser auf der Haut. Er läuft auf die andere Seite des Schuppens, der am Rand einer kahlen, mit Stroh bedeckten Fläche steht. Weit in der Ferne löst sich ein Streifen grünen Grases im wabernden Nebel auf. Ein Kiesweg führt entlang dem nackten Strohfeld vom Schuppen weg. Fünfzig Meter weiter gabelt sich der Weg. Ein Zinken führt nach Osten, auf den Grünstreifen zu. Der andere verläuft geradeaus und verschwindet zwischen dunklen Bäumen. Landsman dreht sich wieder zum Schuppen um. An der Seite ist ein großes Rolltor. Donnernd schiebt Landsman es auf. In Einzelteile zerlegte Kühler, kryptische Maschinenteile, eine mit arabischen Schriftzeichen aus schwarzen Gummischläuchen bedeckte Wand. Und direkt neben dem Tor dieser kleine dreirädrige elektrische Wagen namens Zumzum (nach Mobiltelefonen der Marke Shoyfer der zweitgrößte Exportartikel des Distrikts). Dieses Gefährt verfügt über eine Ladefläche, die wiederum von einem Ring schlammbeschmierten schwarzen Gummis umgeben ist. Landsman klettert hinters Lenkrad. So kalt sein Hintern und der vom Yukon herüberwehende Wind auch sind — der Vinylsitz des Zumzums ist noch kälter. Landsman drückt auf den Startknopf. Er tritt auf das Pedal, und mit einem Bumm und einem Surren des Differenzialgetriebes geht es los. Er rumpelt hoch bis zu der Weggabelung und kann sich nicht entscheiden zwischen dem Wald und dem heiteren grünen Band, das wie ein Versprechen von Friedlichkeit im Nebel verschwindet. Dann drückt er das Pedal durch.

Kurz bevor er die Tannen erreicht, schaut er sich um und sieht, dass die Jids von Peril Strait ihm auf den Fersen sind. Ein großer schwarzer Ford Caudillo rast um den Lagerschuppen, dass der Kies nur so spritzt. Landsman hat keine Ahnung, woher das Auto gekommen ist oder wie es überhaupt hierhergelangte; aus der Luft hat er keine Wagen gesehen. Es ist fünfhundert Meter hinter Landsmans Zumzum und holt schnell auf.

Im Wald weicht der Schotter einem schlichten Pfad, der vorbeihuscht an hübschen Sitka-Fichten, erhaben und verschwiegen. Während Landsman dahinsurrt, erblickt er einen hohen Maschendrahtzaun zwischen den Tannen, gekrönt von bunt blitzenden Stacheldrahtlocken. Der Maschendraht ist mit grünen Plastikstäben durchwoben. An einigen Stellen sind Lücken im grünen Gewebe des Zauns.

Durch diese Schlitze erhascht Landsman einen Blick auf eine weitere Metallblechhütte, eine Lichtung, Pfähle, Querbalken, verflochtene Kabel. Ein großer Rahmen, in den ein Gepäcknetzgespinst gespannt ist, geschwollene Stacheldrahtspulen, Schaukeln. Es könnte eine sportliche Einrichtung sein, ein therapeutischer Spielplatz für genesende Menschen. Na klar, und die Leute in dem Caudillo wollen Landsman nur seine Hose bringen.

Der schwarze Wagen ist jetzt keine zweihundert Meter mehr entfernt. Der Passagier auf dem Beifahrersitz lässt die Fensterscheibe hinunter und klettert heraus, setzt sich in die Tür. Mit einer Hand hält er sich an der Dachreling fest. Die andere Hand, beobachtet Landsman, ist damit beschäftigt, eine Feuerwaffe zu betätigen. Sie gehört einem lieblichen, jungen, bärtigen Mann mit kurzem Haar, der einen schwarzen Anzug und eine nüchterne Krawatte trägt wie Roboy. Er nimmt sich Zeit mit dem Schuss, rechnet die schwindende Entfernung ein. Um seine Hand herum erblüht ein Blitz, und dann explodiert das kleine Zumzum mit einem Knall in einem Regen aus Fiberglassplittern. Landsman stößt einen Schrei aus und nimmt den Fuß vom Gaspedal. So viel zum Thema »keine Schweinerei«.

Drei oder fünf Meter trägt ihn der Schwung noch rumpelnd weiter, dann ist Schluss. Der junge Mann im Fenster des Caudillo hebt den Schussarm und nimmt sich kurz Zeit, um die Wirkung seines Schusses zu prüfen. Das gezackte Loch in der Fiberglaskarosserie des Zumzums enttäuscht den armen Kerl wahrscheinlich ein wenig. Aber er wird sich freuen, dass sein bewegliches Ziel jetzt stehen geblieben ist. Der nächste Schuss wird deutlich einfacher sein. Der Junge lässt seinen Arm fast ostentativ, fast grausam geduldig und langsam wieder sinken. In seiner Sorgfalt und seinem sparsamen Umgang mit Patronen erkennt Landsman das Gütesiegel harter Ausbildung und das sportliche Verständnis von Ewigkeit.

Kapitulation entrollt sich um Landsmans Herz wie der Schatten einer Flagge. Er kann dem Caudillo nicht entkommen, nicht in einem zerschossenen Zumzum, das an einem guten Tag maximal fünfundzwanzig Stundenkilometer gemacht hat. Eine warme Decke, vielleicht eine heiße Tasse Tee — das erscheint Landsman jetzt die angemessene Entschädigung für sein Versagen. Der Caudillo schießt auf ihn zu und kommt in einer Gischt von Tannennadeln zum Stehen. Drei Türen schwingen auf, drei Männer steigen aus, schwerfällige junge Jids in schlecht sitzenden Anzügen und meteoritenschwarzen Schuhen. Sie richten ihre Automatikwaffen auf Landsman. Die Pistolen scheinen in ihren Händen zu summen, als seien sie wilde Tiere oder als sei ein Kreisel in ihnen verborgen. Die Schützen können sie kaum noch bändigen. Harte Kerle mit fliegenden Schlipsen und sauber getrimmten Bärten und kleinen Jarmulkes, gehäkelten Untertassen.

Die hintere Tür auf Landsmans Seite bleibt fest verschlossen, aber dahinter macht er den Umriss einer vierten Person aus. Die harten Kerle mit den ernsten Frisuren und den einheitlichen Anzügen nähern sich Landsman. Er steht auf und dreht sich mit erhobenen Händen um.

»Ihr seid Klone, stimmt’s?«, sagte er zu den dreien, die ihn umringen. »Am Schluss sind es immer Klone.«

»Shut up«, sagt der harte Kerl, der ihm am Nächsten ist, und Landsman will ihm gerade beipflichten, als er ein Geräusch hört. Es klingt, als würde etwas Faseriges und gleichzeitig Glitschiges langsam entzweigerissen. In der Zeit, die er braucht, um in den Augen der harten Kerle zu erkennen, dass auch sie es hören, wird das Geräusch eindringlicher und schwillt zu einem steten Klatschen an, wie ein Blatt Papier in einem Ventilator. Das Geräusch wird lauter und differenzierter. Wird zum trockenen Husten eines alten Mannes. Zu einem schweren Schraubenschlüssel, der auf einen kalten Betonboden scheppert. Zu den Blähungen eines im Wohnzimmer aufgeblasenen und dann losgelassenen Luftballons, der eine Lampe umwirft. Durch die Tannen hindurch erscheint ein kleines Licht, taumelnd und torkelnd wie eine Hummel, und plötzlich weiß Landsman, was das ist.

»Dick«, sagt er nur, nicht ohne Verwunderung, und erschaudert bis auf die Knochen. Das Licht stammt von einer alten Sechsvoltleuchte, nicht stärker als eine große Taschenlampe, schwach flackernd in der Düsternis des Tannenwalds. Der das Licht zu der Gruppe von Juden treibende Motor ist ein Zweizylinder, eine Spezialanfertigung. Man hört die Federn in der Vordergabel, die jeden Stoß im Boden abfangen.

»Das Arschloch«, murmelt einer der harten Kerle. »Mit seinem verfluchten Spielzeugmotorrad.«

Landsman hat verschiedene Geschichten über Inspector Willie Dick und sein Motorrad gehört. Manche sagen, es sei eine Spezialanfertigung für einen ausgewachsenen Millionär aus Bombay mit einem besonders kleinen Körperbau gewesen, andere behaupten, es sei ursprünglich dem Prinzen von Wales zum dreizehnten Geburtstag geschenkt worden, und wieder andere verbreiten, es habe einst einem waghalsigen Draufgänger in einem Zirkusdorf unten in Texas oder Alabama oder an einem ähnlich exotischen Ort gehört. Auf den ersten Blick ist es eine übliche Royal Enfield Crusader aus dem Jahr 1961, Metallgrau im Sonnenlicht, die herrlichen Chromteile aufwendig restauriert. Man muss sich auf die Maschine setzen oder sie neben einem normal großen Motorrad sehen, um zu erkennen, dass sie in Zweidrittelmaßstab gebaut ist. Willie Dick ist zwar ausgewachsen und siebenunddreißig Jahre alt, aber nur ein Meter achtunddreißig groß.

Er rattert am Zumzum vorbei, hält quietschend an und lässt den ältlichen britischen Motor ersterben. Dann steigt er ab und stolziert auf Landsman zu.

»Was soll der Scheiß?«, sagt er und zieht dabei die Handschuhe aus, schwarze Lederhandschuhe von der Art, wie sie Max von Sydow tragen könnte, wenn er Erwin Rommel spielt. Im Gegensatz zu Dicks jungenhafter Gestalt ist seine Stimme erstaunlich volltönend und tief. Er beschreibt einen langsamen, abschätzenden Kreis um die Blume des jüdischen Gesetzesvollzugs. »Detective Meyer Landsman!« Dann wendet er sich den harten Kerlen zu, inspiziert demonstrativ ihre Härte. »Meine Herren.«

»Inspector Dick«, sagt derjenige, der Landsman befahl, den Mund zu halten. Er hat eine verstohlene, gefeilte Knastattitüde, eine zu einem Ausbruchswerkzeug geschliffene Zahnbürste. »Was führt Sie in unsere abgelegene Ecke?«

»Bei allem Respekt, Mr. Gold — so heißen Sie doch, oder? Ja —, das hier ist verdammt nochmal meine abgelegene Ecke.« Dick tritt aus der Gruppe um Landsman. Er schaut ins Auto, um einen Blick auf die dunkle Gestalt zu werfen, die im Caudillo sitzt und alles beobachtet. Landsman ist sich nicht sicher, aber derjenige, der da sitzt, scheint nicht groß genug für Roboy oder den goldenen Mann im Pinguin-Pulli zu sein. Ein zusammengekauerter kleiner Schatten, heimlichtuerisch und wachsam. »Ich war vor euch hier, und ich bin noch hier, wenn ihr Jids längst wieder weg seid.«

Detective Inspector Wilfred Dick ist ein Vollblut-Tlingit, ein Nachfahre von Chief Dick, der für das letzte Todesopfer in der Geschichte der Beziehungen zwischen Russen und Tlingit verantwortlich war. Er gab einen tödlichen Schuss auf einen übriggebliebenen, halb verhungerten russischen U-Boot-Matrosen ab, den er 1948 dabei erwischte, wie er in der Stag Bay seine Krabbenkörbe plünderte. Willie Dick ist verheiratet und hat neun Kinder mit seiner ersten und einzigen Frau, die Landsman noch nie gesehen hat. Natürlich ist sie angeblich eine Riesin. 1993 oder ’94 schloss Dick das Schlittenhunderennen von Iditarod erfolgreich ab, kam als neunter von siebenundvierzig Teilnehmern ins Ziel. Er hat einen Doktor in Kriminologie von der Gonzaga University in Spokane, Washington. Dicks erste Amtshandlung als erwachsener Mann seines Stammes war, mit einem alten Bostoner Walfänger von seinem Dorf in Stag Bay zum Präsidium der Stammespolizei in Angoon zu fahren, um den Superintendenten dort zu überzeugen, in seinem Fall die minimal erforderliche Größe für Polizeibeamte abzusenken. Die Geschichten, wie er das erreichte, sind verleumderisch, obszön, unglaubhaft oder eine Kombination dieser drei Adjektive. Willie Dick besitzt alle bekannten schlechten Eigenschaften von sehr kleinen, sehr intelligenten Männern: Er ist eitel, überheblich, krankhaft ehrgeizig und hat ein gutes Gedächtnis für Unrecht und Kränkung. Gleichzeitig ist er ehrlich, hartnäckig und furchtlos, und er schuldet Landsman einen Gefallen; Dick hat auch ein gutes Gedächtnis für Gefallen.

»Ich versuche mir vorzustellen, was ihr verrückten Hebräer im Schilde führt, aber jede meiner kleinen Theorien ist beschissener als die nächste«, sagt er.

»Der Mann ist Patient bei uns«, sagt Gold. »Er wollte nur ein bisschen früher gehen, mehr nicht.«

»Deshalb wollten Sie ihn erschießen«, sagt Dick. »Das sind ja vielleicht heftige Therapiemethoden, Jungs. Verdammt! Strikt nach Freud, was?«

Er dreht sich wieder zu Landsman um und mustert ihn von oben bis unten. Dicks dunkles Gesicht ist auf gewisse Weise schön, er hat leidenschaftliche Augen, die aus der Deckung einer klugen Stirn operieren, dazu ein Grübchen am Kinn und eine gerade, gleichmäßige Nase. Als Landsman Dick zum letzten Mal sah, musste der Tlingit mehrmals eine Lesebrille aus der Hemdtasche holen und aufsetzen. Jetzt hat er dem Alter nachgegeben und Gefallen gefunden an einem schicken italienischen Modell aus gebürstetem schwarzem Metall, eine Brille, wie sie alternde britische Rockgitarristen gerne in nachdenklichen Interviews zur Schau stellen. Er trägt eine steife schwarze Jeans, schwarze Cowboystiefel und ein rot-schwarz kariertes Hemd mit offenem Kragen. Über seinen Schultern trägt er, wie immer, eine Art Kurzmantel, festgezurrt mit einem geflochtenen Rohledergürtel, der aus dem Fell eines von ihm selbst gejagten und erlegten Bären gefertigt wurde. Er ist ein affektierter Mensch, dieser Willie Dick — er raucht schwarze Zigaretten —, aber er ist ein guter Kriminalbeamter.

»Herrgott nochmal, Landsman. Du siehst aus wie der Schweinefötus, den ich mal eingelegt in einem Glas gesehen hab.«

Mit den Fingern einer Hand löst er den Flechtgürtel und streift den Mantel ab. Dann wirft er ihn Landsman zu. Im ersten Moment ist er kalt wie Stahl auf Landsmans Haut, dann herrlich warm. Dick behält das höhnische Grinsen bei, löscht aber in Landsmans Interesse — nur er kann es sehen — jede Spur von Humor aus seinem Blick.

»Ich hab mit deiner Exfrau gesprochen«, sagt er, fast im Flüsterton. Es ist die Stimme, mit der er Verdächtige bedroht und Zeugen einschüchtert. »Nachdem ich deine Nachricht bekommen habe. Du hast weniger Recht, hier zu sein, als eine blinde afrikanische Strandratte, Landsman.« Dick hebt fast theatralisch die Stimme. »Detective Landsman, was, habe ich gesagt, würde ich mit Ihrem jüdischen Arsch tun, wenn ich Sie noch einmal dabei erwische, wie Sie unbekleidet im Indianerland herumlaufen?«

»W-weiß ich nicht mehr«, sagt Landsman, ergriffen von einem heftigen Zittern der Dankbarkeit und der Hilflosigkeit. »Sie h-haben so viel gesagt.«

Nun geht Dick zum Caudillo hinüber und klopft an die Tür, als wolle er eintreten. Die Tür öffnet sich, und Dick unterhält sich mit gesenkter Stimme mit demjenigen, der im Wagen sitzt und es warm hat. Nach einer Weile kommt Dick zurück und sagt zu Gold: »Der Verantwortliche will Sie sprechen.«

Gold geht um die offene Tür herum, um mit dem Verantwortlichen zu sprechen. Als er zurückkommt, sieht er aus, als seien seine Nebenhöhlen durch die Ohren herausgezogen worden und als sei Landsman schuld daran. Er nickt Dick zu, einmal.

»Detective Landsman«, sagt Dick. »Es tut mir verdammt leid, aber ich muss Sie verhaften.«

32.

In der Notaufnahme des indianischen Krankenhauses von St. Cyril mustert der Arzt Landsman und erklärt ihn für hafttauglich. Der Arzt heißt Rau und kommt aus Madras, und er hat schon alle Witze über Kolumbus’ Fehler gehört. Er sieht gut aus, ein wenig wie Sal Mineo — große Augen wie Obsidiane und ein Mund wie ein Zuckergussröschen. Leichte Erfrierungen, sagt er zu Landsman, nichts Ernstes, obwohl Landsman eine Stunde und siebenundvierzig Minuten nach seiner Befreiung scheinbar immer noch nicht den Tremor unterdrücken kann, der aus seinem Innersten aufsteigt und seinen Körper erschüttert. Er friert bis in die letzten Zellen seiner Knochen.

»Wo ist der große Hund mit dem kleinen Weinbrandfässchen um den Hals?«, fragt Landsman, nachdem der Arzt ihm sagt, er könne die Decke ablegen und die Gefängniskleidung überziehen, die säuberlich gefaltet neben dem Waschbecken liegt. »Wann kommt der?«

»Mögen Sie Weinbrand?«, fragt Dr. Rau, als lese er aus einem Buch ab, als hätte er nicht das geringste Interesse weder an den Fragen noch an den Antworten, die Landsman hervorbringen mag. Landsman erkennt in der Frage augenblicklich den klassischen Vernehmungston, so kalt, dass es brennt. Dr. Raus Blick bleibt entschlossen auf eine leere Ecke des Raumes gerichtet. »Haben Sie das Gefühl, dass Sie welchen brauchen?«

»Wer hat hier von brauchen geredet?«, sagt Landsman und nestelt am Knopfschlitz seiner abgetragenen Köperhose. Arbeitshemd aus Baumwolle, Leinenschuhe ohne Schnürsenkel. Man will ihn wie einen Säufer kleiden, wie einen Penner oder einen anderen Loser, der nackt an der Anmeldung auftaucht, obdachlos, ohne nachweisbare Einkommensquelle. Die Schuhe sind zu groß, aber sonst passt alles perfekt.

»Kein Verlangen?« In dem A auf dem Namensschild des Doktors ist eine Ascheflocke. Er tupft mit der Fingerkuppe darauf. »Verspüren Sie jetzt nicht das Verlangen, etwas zu trinken?«

»Vielleicht mag ich es einfach«, sagt Landsman. »Haben Sie schon mal daran gedacht?«

»Vielleicht«, sagt der Arzt. »Oder aber Sie mögen einfach große, sabbernde Hunde.«

»Okay, ist gut jetzt, Doc«, sagt Landsman. »Machen wir uns nichts vor.«

»In Ordnung.« Dr. Rau wendet sein leeres Gesicht Landsman zu, und die Pupillen seiner Augen wirken gusseisern. »Auf Grundlage meiner Untersuchung schätze ich, dass Sie gerade einen Alkoholentzug durchmachen, Detective Landsman. Abgesehen von dem längeren Aufenthalt in der Kälte, weisen Sie Dehydrierung, Tremor, Herzrasen und vergrößerte Pupillen auf. Ihr Blutzucker ist niedrig, woraus ich schließe, dass Sie wahrscheinlich nichts gegessen haben. Appetitverlust ist ebenfalls ein Entzugssymptom. Ihr Blutdruck ist erhöht, und Ihr jüngstes Verhalten scheint, wie ich gehört habe, reichlich sprunghaft gewesen zu sein. Sogar gewalttätig.«

Landsman streicht über die faltigen Kragenaufschläge seines Chambrayhemds und versucht, sie zu glätten. Wie billige Jalousien, die sich von selbst aufrollen.

»Herr Doktor«, sagt er, »mal zwischen uns Männern mit Röntgenaugen gesprochen: Ich bewundere Ihren Scharfsinn, aber sagen Sie mir bitte: Wenn der indische Staat abgeschafft würde und Sie in zwei Monaten mit allen, die Sie lieben, in den Schlund des Wolfes geworfen würden, wenn Sie nirgends hingehen könnten, das aber allen scheißegal wäre, und wenn die halbe Welt die letzten tausend Jahre damit verbracht hätte, Hindus umzubringen, glauben Sie nicht, dass Sie dann zur Flasche greifen würden?«

»Entweder das, oder ich würde vor fremden Ärzten Reden schwingen.«

»Der Hund mit dem Weinbrand macht sich nie über den Verschütteten lustig«, sagt Landsman wehmütig.

»Detective Landsman!«

»Ja, Doc.«

»Ich habe Sie in den letzten elf Minuten untersucht, und in diesem Zeitraum haben Sie drei längere Äußerungen von sich gegeben. So etwas nenne ich Reden schwingen.«

»Ja«, sagt Landsman, und jetzt beginnt sein Blut wieder zu fließen: in seine Wangen. »Das kann schon mal vorkommen.«

»Sie halten gerne Monologe?«

»Mal so, mal so.«

»Litaneien.«

»So wurde das auch schon genannt.«

Zum ersten Mal merkt Landsman, dass Dr. Rau heimlich an etwas kaut, es mit den Backenzähnen bearbeitet. Der schwache Geruch von Anis entfleucht seinen zucker-gussrosa Lippen.

Der Arzt notiert etwas auf Landsmans Karteikarte.

»Sind Sie momentan in Behandlung bei einem Psychiater, oder nehmen Sie Medikamente gegen Depressionen?«

»Depressionen? Finden Sie mich depressiv?«

»Das ist nur ein Wort«, sagt der Arzt. »Ich suche nach möglichen Symptomen. Wie mir Inspector Dick sagte und meine eigene Untersuchung bestätigt, scheint es mir zumindest im Bereich des Möglichen zu liegen, dass Sie eventuell an Stimmungsschwankungen leiden.«

»Sie sind nicht der Erste, der das sagt«, sagt Landsman. »Tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen.«

»Nehmen Sie Medikamente?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Eigentlich nicht?«

»Nein. Ich will nicht.«

»Sie wollen nicht.«

»Ich hab … ach. Angst, ich könnte meinen Biss verlieren.«

»Das erklärt das Trinken«, sagt der Arzt, und jetzt haben seine Worte in Landsmans Ohren einen ironischen Lakritzhauch. »Hab gehört, es wirkt Wunder auf den Biss.« Er geht zur Tür, öffnet sie, und ein Indianer-Nos kommt herein, um Landsman abzuführen. »Nach meiner Erfahrung, Detective Landsman, wenn ich das sagen darf«, schließt der Arzt seine eigene kleine Litanei. »Wer sich darum sorgt, seinen Biss zu verlieren, merkt oft nicht, dass ihm schon längst die Zähne ausgefallen sind.«

»Der Swami spricht«, sagt der Indianer-Nos.

»Schließen Sie ihn ein«, sagt der Arzt und wirft Landsmans Krankenakte in einen an der Wand befestigten Korb.

Der Indianer-Nos hat einen Kopf wie eine Rotholzmaserung und die schlimmste Frisur, die Landsman je gesehen hat, eine scheußliche Kreuzung aus einer Tolle und einem Soldatenschnitt. Er führt Landsman durch leere Gänge, eine Stahltreppe hinauf bis in einen Raum am Ende des Gefängnisses von St. Cyril. Der Raum hat eine normale Stahltür, kein Gitter. Er ist einigermaßen sauber und einigermaßen gut beleuchtet. Auf dem Bett liegen eine Matratze, ein Kopfkissen und eine akkurat gefaltete Decke. Die Toilette hat einen Sitz. An der Wand ist ein Metallspiegel.

»Die VIP-Suite«, sagt der Indianer-Nos.

»Sie sollten mal sehen, wo ich wohne«, sagt Landsman. »Ist fast so schön wie hier.«

»Nichts Persönliches«, sagt der Nos. »Der Inspector wollte, dass Sie das wissen.«

»Wo ist er?«

»Kümmert sich um Ihre Sache. Diese Leute haben sich bei uns beschwert, Dick kann sich jetzt mit Scheiße in neun verschiedenen Geschmacksrichtungen rumschlagen.« Ein humorloses Grinsen verzieht sein Gesicht. »Sie haben den dämlichen kleinen Juden ganz schön zugerichtet.«

»Was sind das für Leute?«, fragt Landsman. »Sergeant, was zum Teufel sind das für Juden da draußen?«

»Das ist ein Erholungszentrum«, sagt der Sergeant mit demselben Mangel an Emotion, mit dem Dr. Rau Landsman Fragen zu seinem Alkoholismus gestellt hat. »Für missratene junge Juden, die Verbrechen und Drogen anheimgefallen sind. So habe ich es jedenfalls gehört. Schlafen Sie schön, Detective.«

Als der Indianer-Nos gegangen ist, krabbelt Landsman ins Bett und zieht sich die Decke über den Kopf, und ehe er sich zusammenreißen kann, ehe er Zeit hat, etwas zu fühlen oder zu wissen, dass er etwas fühlt, reißt sich ein Schluchzen aus einer tiefen Nische und erfüllt seine Luftröhre. Die in seinen Augen brennenden Tränen sind wie der Tremor vom Alkohol. Sie sind sinnlos, und er scheint sie nicht in den Griff zu bekommen. Er drückt sich das Kopfkissen aufs Gesicht und fühlt zum ersten Mal, wie völlig allein Naomi ihn gelassen hat.

Um sich zu beruhigen, denkt er an Mendel Shpilman und das Bett in Zimmer 208. Er stellt sich vor, wie es ist, in der tapezierten Zelle auf dem schmalen Bett zu liegen und die Züge von Aljechins zweiter Partie gegen Capablanca 1927 in Buenos Aires durchzugehen, während das Smack das Blut zu einer Zuckerflut und das Hirn zu einer schleckenden Zunge macht. Einst hatte man Mendel den Anzug des Tzaddik ha-Dor angepasst, dann stellte er fest, dass es eine Zwangsjacke war. So weit, so gut. Dann viele vergeudete Jahre. Für Drogengeld von einem Schachspiel zum nächsten. Billige Absteigen. Sich vor dem inkompatiblen Schicksal verstecken, das seine Gene und sein Gott für ihn vorgesehen haben. Eines Tages dann spürt man ihn auf, staubt ihn ab und bringt ihn nach Peril Strait. Ein Ort mit einem Arzt, eine von den großzügigen Spenden der Barrys, Marvins und Susies des amerikanischen Judentums gebaute Einrichtung, wo man ihn in Ordnung bringen und wieder zusammenflicken will. Warum? Weil sie ihn brauchen. Weil sie ihn wieder dem praktischen Nutzen zuführen wollen. Und er will mitmachen, mit diesen Männern. Er willigt ein. Naomi hätte Shpilman und seine Begleiter nie geflogen, wenn sie dabei irgendeine Art von Zwang gespürt hätte. Für Shpilman sprang also etwas dabei heraus — Geld, das Versprechen auf Heilung oder erneuten Ruhm, Versöhnung mit seiner Familie, eine abschließende Auszahlung in Drogen. Aber als Shpilman in Peril Strait eintrifft, um sein neues Leben zu beginnen, sorgt irgendetwas dafür, dass er seine Meinung ändert. Irgendetwas erfährt, erkennt oder sieht er. Vielleicht bekommt er auch einfach nur kalte Füße. Und wendet sich hilfesuchend an die eine Frau, die allen möglichen Menschen, meistens den verlorensten, die einzige Freundin in der Welt war. Und wieder fliegt Naomi ihn hinaus, ändert noch in der Luft ihren Flugplan und besorgt ihm bei der Tochter des Kuchenmanns eine Mitfahrmöglichkeit zu einem billigen Motel. Als Lohn für Naomis Hybris lassen die geheimnisvollen Juden ihr Flugzeug abstürzen. Dann machen sie sich auf die Jagd nach Mendel Shpilman, der wieder untergetaucht ist. Sich vor seinen vielen Identitäten versteckt. Der in seinem Zimmer im Zamenhof liegt, bäuchlings auf dem Bett, zu weit fort, um noch über Aljechin, Capablanca und Damenindisch nachzudenken. Zu weit fort, um das Klopfen an der Tür zu hören.

»Du musst nicht klopfen, Berko«, sagt Landsman. »Wir sind hier im Knast.«

Es klappern Schlüssel, dann wirft der Indianer-Nos die Tür auf. Hinter ihm steht Berko Shemets. Er hat sich wie für eine Safari in den tiefsten Dschungel gekleidet: Jeans, Flanellhemd, hohe geschnürte Wanderstiefel aus Leder, eine gräulich braune Anglerweste mit zweiundsiebzig Taschen, Innentaschen und Inneninnentaschen. Auf den ersten Blick sieht er fast aus wie ein typischer, wenn auch ziemlich großer alaskischer Waldmensch. Man kann das kleine Abzeichen mit den Polostöcken kaum erkennen, das sein Hemd ziert. Berkos sonst unauffällige Jarmulke ist einem übergroßen, bestickten, zylindrischen Exemplar gewichen, einem Minifez. Wenn Berko ins Indianerland reist, trägt er den Juden immer ein bisschen dick auf. Landsman kann es von seinem Platz aus nicht genau erkennen, aber wahrscheinlich hat sein Kollege auch die Handschellen mit dem Davidsstern dabei.

»Tut mir leid«, sagt Landsman. »Ich weiß, es tut mir immer leid, aber diesmal könnte es mir nicht mehr leidtun, glaub mir.«

»Darum kümmern wir uns später«, sagt Berko. »Komm, er will mit uns sprechen.«

»Wer?«

»Der Kaiser der Franzosen.«

Landsman erhebt sich vom Bett, geht zum Waschbecken und wirft sich ein wenig Wasser ins Gesicht.

»Kann ich gehen?«, fragt er den indianischen Nos, als er durch die Zellentür geht. »Sagen Sie mir, dass ich gehen kann?«

»Sie sind ein freier Mann«, sagt der Nos.

»Ist ja nicht zu fassen«, sagt Landsman.

33.

Von seinem Eckbüro im Erdgeschoss des Polizeireviers von St. Cyril aus hat Inspector Dick einen guten Blick auf den Parkplatz. Auf sechs Müllcontainer, die wie eiserne Jungfrauen mit Metallplatten und Stahlbändern vor Bären geschützt sind. Auf eine subalpine Wiese hinter den Containern und dann auf die schneebedeckte Ghettomauer, die ihm die Juden vom Hals hält. Dick hängt in seinem Schreibtischstuhl im Maßstab 2:3, die Arme verschränkt, das Kinn auf der Brust, und starrt durch das Flügelfenster. Nicht auf die Berge oder auf die Wiese, gräulich grün im späten Licht, betupft mit Nebelbäuschchen, nicht einmal auf die gepanzerten Müllcontainer. Sein Blick wandert nicht über den Parkplatz hinaus — nicht weiter als bis zu seiner 1951er Royal Enfield Crusader. Landsman kennt den Ausdruck in Dicks Gesicht. Es ist der Ausdruck, der sich bei Landsman einstellt, wenn er seinen Chevelle Super Sport oder das Gesicht von Bina Gelbfish betrachtet. Die Miene eines Mannes, der das Gefühl hat, in die falsche Welt geboren zu sein. Etwas ist schiefgelaufen; er ist nicht dort, wo er hingehört. Immer wieder spürt er, dass sein Herz — gleich einem Drachen in Telefonleitungen — an Dingen hängen bleibt, die ihm eine Heimat versprechen oder den Weg dorthin weisen könnten. Zum Beispiel ein in seiner fernen Kindheit gebautes amerikanisches Auto oder ein Motorrad, das einst dem zukünftigen König Englands gehörte, oder das Gesicht einer Frau, die mehr wert ist, geliebt zu werden als er.

»Ich hoffe, er hat was an«, sagt Dick, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Das sehnsüchtige Flackern in seinen Augen erlischt. In seinem Gesicht passiert jetzt überhaupt nichts mehr. »Weil das, was ich da im Wald gesehen habe, mein Gott, Landsman, ich hätte fast mein Scheiß-Bärenfell abfackeln müssen.« Er tut, als erschaudere er. »Die Tlingit-Nation zahlt mir nicht ansatzweise genug Entschädigung, um dich in Unterhose zu sehen.«

»Die Tlingit-Nation«, sagt Berko Shemets und spricht es aus wie den Namen eines berüchtigten Coups oder wie die Behauptung, jemand habe Atlantis geortet. Er drängt Dicks Büro seine massige Gestalt auf. »Ach, dann wird hier noch Gehalt gezahlt? Weil Meyer eben meinte, vielleicht auch nicht.«

Jetzt dreht Dick sich um, langsam und träge, und schürzt einen Teil seiner Oberlippe, um mehrere Schneide- und Eckzähne zu entblößen.

»Johnny, der Jude«, sagt er. »So, so, mit Mützchen und allem. Und scheinbar hast du in letzter Zeit reichlich Gelegenheit gehabt, über den einen oder anderen Filipino-Donut den Segen zu sprechen.«

»Leck mich, Dick, du antisemitischer kleiner Zwerg.«

»Leck mich, Johnny, du und deine bekackten Anspielungen auf meine Integrität als Polizeibeamter.«

In seinem rostigen, aber reichhaltigen Tlingit drückt Berko den Wunsch aus, Dick eines Tages tot und ohne Schuhe im Schnee liegen zu sehen.

»Geh kacken ins Meer«, sagt Dick in tadellosem Jiddisch.

Sie treten aufeinander zu, und der große Mann nimmt den kleinen in den Arm. Sie hauen sich gegenseitig auf den Rücken, tasten nach den tuberkulösen Stellen ihrer langsam sterbenden Freundschaft, in den Tiefen dröhnt ihre alte Feindschaft wie eine Trommel. In dem Jahr des Elends, das Berkos Übertritt zur jüdischen Seite seiner Vorfahren voranging, bevor seine Mutter von einer flüchtenden Wagenladung randalierender Juden zerquetscht wurde, entdeckte der junge John Bear das Basketballspiel für sich und für Wilfred Dick, damals ein eins fünfundzwanzig großer Aufbauspieler. Es war Hass auf den ersten Blick, jener großartige, romantische Hass, der bei dreizehnjährigen Jungen nicht von Liebe zu unterscheiden ist oder ihr am nächsten kommt.

»Johnny Bear«, sagt Dick. »Verdammte Scheiße, du Riesenjude!«

Berko zuckt mit den Schultern und reibt sich betreten den Nacken, sodass er aussieht wie ein dreizehnjähriger Centerspieler beim Basketball, an dem gerade etwas Kleines, Hässliches auf direktem Weg zum Korb vorbeihuscht.

»Ja, hey, Willie D.«, sagt er.

»Setz dich, du fetter Hurensohn«, sagt Dick. »Du auch, Landsman, mit den ekligen Flecken in der Arschritze.«

Berko muss grinsen, und alle setzen sich — Dick auf seine Seite des Schreibtischs, die jüdischen Polizisten auf die andere. Die beiden Besucherstühle haben Normalmaß, ebenso die Bücherregale und alles andere im Büro, nur nicht Dicks Schreibtisch und sein Stuhl. Die Wirkung ist zerrspiegelartig, übelkeitserregend. Vielleicht ist es aber nur ein weiteres Symptom des Alkoholentzugs. Dick holt seine schwarzen Zigaretten hervor und schiebt Landsman über den Tisch einen Aschenbecher zu. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und legt die Füße auf den Schreibtisch. Die Ärmel seines Woolrich-Hemds sind hochgekrempelt. Seine Unterarme sind sehnig und braun. Krauses graues Haar späht aus seinem offenen Kragen, und seine schicke Brille steckt zusammengeklappt in der Hemdtasche.

»Es gibt so viele Leute, denen ich jetzt lieber gegenübersitzen würde«, sagt er. »Um genau zu sein: Millionen.«

»Dann mach doch die Augen zu«, schlägt Berko vor.

Dick gehorcht. Seine Augenlider sind dunkel und glänzend, sie schimmern bläulich.

»Landsman«, sagt er, als genieße er das Blindsein, »wie war dein Zimmer?«

»Die Bettdecke roch stärker nach Lavendelwasser, als mir lieb gewesen wäre«, sagt Landsman. »Aber sonst kann ich mich wirklich nicht beschweren.«

Dick öffnet die Augen.

»Es war mein Glück als Gesetzesvertreter in diesem Reservat, in all den Jahren relativ wenig mit Juden zu tun zu haben«, beginnt er. »Ah, und bevor einer von euch wegen meines angeblichen Antisemitismus seinen Schließmuskel zukneift, möchte ich jetzt nur kurz vorausschicken, dass es mir wichsscheißegal ist, ob ich eure Schweineschisserärsche beleidige oder nicht, unterm Strich würde ich sogar sagen, ich hoffe es. Der fette Kerl da weiß ganz genau, sollte er wenigstens, dass ich alle Menschen gleichermaßen hasse, ohne jede Bevorzugung und ohne Rücksicht auf Konfession oder DNA.«

»Versteht sich von selbst«, sagt Berko.

»Uns geht es genauso in Bezug auf dich«, sagt Landsman.

»Ich meine damit: mit Juden zu tun zu haben, heißt Verarschung. Tausend auf Hochglanz polierte Schichten aus Politik und Lügen. Deshalb glaube ich genau verwichste null Komma null Prozent von dem, was mir dieser angebliche Dr. Roboy erzählt hat, dessen Papiere sich übrigens als einwandfrei erwiesen haben. Etwas trübe war nur seine Erklärung, wie es kam, dass du in der Unterbuxe die Straße runtergeflitzt bist, Landsman, und ein jüdischer Cowboy aus einem Wagenfenster Nahaufnahmen von dir machen wollte.«

Landsman will es erklären, aber Dick hebt seine mädchenhafte Hand mit den sauberen, blitzenden Nägeln.

»Lass mich ausreden. Diese Herren, nein, Johnny, die zahlen nicht mein Gehalt, geschissenen Dank auch. Aber über Kanäle, die sich meiner Kenntnis entziehen und über die ich nicht spekulieren will, haben diese Herren Freunde, Tlingit-Freunde, die mein Gehalt bezahlen, oder um genauer zu sein, die in dem Rat sitzen, der mich bezahlt. Und sollten mir diese weisen Stammesältesten zu verstehen geben, dass sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich deinen Kollegen hier anzeige und wegen widerrechtlichen Betretens und Einbruch verknacke, nicht zu vergessen wegen Durchführung einer illegalen, unautorisierten Ermittlung, dann würde ich das tun müssen. Diese jüdischen Wiesel da draußen in Peril Strait — und ich weiß, dass ihr wisst, wie sehr mich das zu sagen schmerzt —, die sind, was auch geschieht, meine verfluchten jüdischen Wiesel. Und ihre Einrichtung steht, solange sie sie in Anspruch nehmen, unter der Flagge und dem vollständigen Schutz der Sicherheitskräfte meines Stammes. Da mache ich mir da draußen die Mühe, deinen verpickelten Arsch zu retten, Landsman, dich herzuschleppen und dich für teures Geld unterzubringen, und dann haben diese verschissenen Juden auf einmal kein Interesse mehr an dir.«

»Das nenne ich mal eine Litanei«, sagt Landsman zu Berko. Dann sagt er zu Dick: »Ihr habt hier einen Arzt, den solltest du wirklich mal aufsuchen.«

»Aber so gerne ich dich auch zurückschicken würde, damit dir deine Exfrau mal so richtig die Eier langzieht, Landsman«, poltert Dick weiter, »und wenn ich mich noch so anstrenge, ich kann euch einfach nicht ziehen lassen, ohne eine bestimmte Frage gestellt zu haben, selbst wenn ich von vornherein weiß, dass ihr beide Juden seid, in gewisser Hinsicht, und dass jede Antwort von euch nur noch mehr Verarsche ist und mich die ganze Scheiße jetzt schon mit ihrem edlen jüdischen Glanz blendet.«

Sie warten auf die Frage, und sie kommt, und dann wird Dicks Verhalten härter. Alles Salbadern und alle Ironie verschwindet. »Reden wir hier von Mord?«, fragt er.

»Ja«, sagt Landsman, und im selben Moment sagt Berko: »Offiziell nicht.«

»Zwei«, beharrt Landsman. »Zwei Morde, Berko. Naomi geht auch auf ihre Rechnung.«

»Naomi?«, sagt Berko. »Meyer, was soll der Scheiß?«

Landsman rekapituliert alles, von Anfang an, lässt nichts Wichtiges aus, beginnt mit dem Klopfen an seiner Zimmertür im Zamenhof bis zu seinem Gespräch mit Mrs. Shpilman, berichtet von der Tochter des Kuchenmanns, die ihn ins Archiv der Flugsicherung schickte, bis zu der Anwesenheit von Aryeh Baronshteyn in Peril Strait.

»Hebräisch?«, sagt Berko. »Mexikaner, die Hebräisch sprechen?«

»So hörte es sich an«, sagt Landsman. »Aber kein Synagogenhebräisch.« Landsman erkennt Hebräisch, wenn er es hört. Aber das Hebräisch, das er kennt, ist die traditionelle Form, die Sprache, die seine Vorfahren durch die Millenien ihres europäischen Exils trugen, ölig und salzig wie ein zum Konservieren geräuchertes Stück Fisch, stark gewürzt vom Jiddischen. Diese Form von Hebräisch wird nie in der menschlichen Unterhaltung verwendet. Sie ist dem Gespräch mit Gott vorbehalten. Wenn es Hebräisch war, das Landsman in Peril Strait hörte, so war es nicht die alte Salzheringsprache, sondern ein stacheliger Dialekt, ein Klang wie Alkali und Steine. Für Landsman hörte es sich an wie das Hebräisch, das die Zionisten nach 1948 herüberbrachten. Jene harten Wüstenjuden klammerten sich im Exil verzweifelt an ihre Sprache, aber wie es vor ihnen schon den deutschen Juden ergangen war, wurden sie vom tönenden Getöse des Jiddischen und von der ewigen schmerzlichen Assoziation ihrer Sprache mit Versagen und Unheil jüngeren Datums überwältigt. Soweit Landsman weiß, existiert diese Art von Hebräisch nicht mehr, nur noch bei den wenigen letzten Aufrechten, die sich jährlich in leeren Sälen treffen. »Ich hab nur ein, zwei Wörter verstanden. Sie redeten so schnell, ich kam nicht mit. War wohl Sinn der Sache.«

Er erzählt ihnen, dass er in dem Zimmer aufwachte, in dem Naomi ihre Inschrift in der Wand hinterließ, erzählt von den Wohnheimen und dem Übungsgelände und von den bewaffneten jungen Männern in Wartestellung.

Ungewollt wird Dicks Interesse immer größer, er stellt Fragen, vertieft sich mit einer instinktiven, hartnäckigen Liebe zum Stunk in die Angelegenheit.

»Ich hab deine Schwester gekannt«, sagt er, als Landsman seine Rede mit der Rettung im Wald von Peril Strait abschließt. »Tut mir leid, dass sie gestorben ist. Und diese heilige Schwuchtel hört sich wie genau die Sorte streunender Köter an, für den sie ihren Arsch aufs Spiel gesetzt hätte.«

»Aber was wollten sie von Mendel Shpilman, diese Juden mit dem Besucher, der keine Schweinerei will?«, fragt Berko. »Das verstehe ich einfach nicht. Was machen die da draußen?«

Diese Fragen erscheinen Landsman unvermeidlich, folgerichtig und entscheidend, bei Dick jedoch kühlen sie die Begeisterung für den Fall merklich ab.

»Ihr habt nichts«, sagt er, und sein Mund ist ein blutleerer Bindestrich. »Und ich will dir was sagen, Landsman, das mit den Juden in Peril Strait, das hat doch nichts mit dem Fall zu tun. Die haben so viel Einfluss im Rücken, meine Herren, ich sage euch, die könnten euch aus einem versteinerten Scheißhaufen einen Diamanten schleifen.«

»Was weißt du über sie, Willie?«, fragt Berko.

»Einen Scheiß weiß ich.«

»Der Mann im Caudillo«, sagt Landsman. »Mit dem du geredet hast. War das auch ein Amerikaner?«

»Nein, eine vertrocknete kleine Rosine von Jude. Hat seinen Namen nicht genannt. Und ich darf nicht danach fragen. Denn die offizielle politische Linie der Stammespolizei an dem Ort lautet, wie ich, glaube ich, bereits erwähnt habe: Einen Scheiß weiß ich.«

»Komm, Wilfred«, sagt Berko. »Wir reden hier von Naomi.«

»Das ist mir klar. Aber ich weiß genug über Landsman, Scheiße, ich weiß genug über die Kollegen von der Mordkommission, um sicher zu sein, dass es hier, Schwester hin oder her, nicht darum geht, die Wahrheit herauszufinden. Es geht nicht darum, die Story zu verstehen. Denn ihr und ich, meine Herren, wir wissen, dass die Story halt so ist, wie wir sie uns zurechtlegen, und wie hübsch und nett das auch sein mag, am Ende macht die Geschichte für die Toten nicht den geringsten Unterschied. Du, Landsman, du willst dich an diesen Schweinen rächen. Aber dazu wird es nie kommen. Du wirst sie nie bekommen. Nie im Leben.«

»Willie-Boy«, sagt Berko. »Los, komm! Dann tu’s nicht für ihn. Tu’s nicht, weil seine Schwester Naomi so ein supertolles Mädel war.«

In dem nun folgenden Schweigen gibt er Dick einen dritten Grund, sie aufzuklären.

»Du willst sagen«, sagt Dick, »dass ich es für dich tun soll.«

»Genau.«

»Weil wir uns im Frühling unseres Lebens so viel bedeutet haben.«

»So weit würde ich vielleicht nicht gehen.«

»Das ist verdammt rührend«, sagt Dick. Er beugt sich vor und drückt auf seine Gegensprechanlage. »Minty, hol mein Bärenfell aus dem Müll und bring es rein, damit ich drauf kotzen kann.« Er lässt die Taste los, ehe Minty antworten kann. »Ich tue einen Scheißdreck für dich, Detective Berko Shemets. Aber weil ich deine Schwester mochte, Landsman, binde ich in euren Kopf denselben Knoten, den diese Wiesel in meinen geknotet haben, und dann lass ich euch herausfinden, was das zum Teufel bedeutet.«

Die Tür geht auf, und eine breite junge Frau kommt herein, wiederum nur halb so groß wie ihr Chef. Sie trägt den Bärenfellumhang, als enthalte er den nur fotografisch sichtbaren Rückstand des auferstandenen Leichnams Jesu Christi. Dick springt auf, greift sich das Fell und bindet es mit einer Grimasse, als befürchte er Verseuchung, mit dem Riemen um den Hals.

»Such dem da einen Mantel und einen Hut«, sagt er, mit dem Daumen auf Landsman weisend. »Irgendwas, das schön stinkt, nach Lachsgedärmen oder Muskateller. Nimm den Mantel von Marvin Klag, der liegt besoffen in A7.«

34.

Im Sommer 1897 versetzten Mitglieder der Bergsteigergruppe des Italieners Abruzzi, frisch zurück von ihrer Bezwingung des Mt. Saint Elias, die Tresenhocker und Telegraphisten in der Stadt Yakutat in helle Aufregung. Sie kehrten von den Hängen des zweithöchsten alaskischen Gipfels mit der Behauptung zurück, eine Stadt im Himmel gesehen zu haben. Straßen, Häuser, Türme, Bäume, flanierende Menschenmassen, qualmende Schornsteine, eine großartige Kultur inmitten der Wolken. Ein gewisser Thornton aus der Gruppe reichte eine Fotografie herum; die auf Thorntons verschwommener Platte festgehaltene Stadt wurde später als Bristol in England identifiziert, rund zweitausendfünfhundert transpolare Meilen entfernt. Zehn Jahre später verspielte der Forschungsreisende Peary ein Vermögen, als er den Versuch machte, Crocker Land zu finden, ein Land voller stolzer Gipfel, das er und seine Männer auf einer früheren Reise gen Norden hoch oben im Himmel erblickt haben wollten. Fata Morgana hieß so etwas. Eine Spiegelung, hervorgerufen durch Witterung und Licht und die Phantasie von Männern, die mit Beschreibungen des Himmels aufwuchsen.

Meyer Landsman sieht Kühe, weiße Milchkühe mit roten Flecken, die wie Engel über breite grüne Triften ziehen.

Die drei Polizisten sind nach Peril Strait hinausgefahren, damit Dick sie mit seiner fragwürdigen Vision beeindrucken kann. Zwei Stunden lang waren sie ins Führerhaus von Dicks Pick-up gezwängt, haben geraucht und sich gegenseitig beschimpft, während sie über die Tribal Route 2 rumpelten. Zurück durch Meilen tiefen Waldes. Schlaglöcher in der Größe von Badewannen. In vandalistischen Mengen stürzte Regen auf die Windschutzscheibe. Wieder durch das Dorf Jims, eine Ansammlung von Stahldächern entlang eines Meeresarms, die Häuser durcheinandergewürfelt wie die zehn letzten Dosen mit Bohnen im Regal eines Lebensmittelgeschäfts, kurz vor dem Hurrikan. Hunde und Jungen und Basketballkörbe, ein alter Pritschenwagen, dessen Form von Unkraut und stacheliger Krähenbeere nachgebildet wird, eine Chimäre aus Lastwagen und Laub. Gleich hinter der fahrbaren Kirche der Pfingstbewegung wich die Tribal Route einer Piste aus Sand und Schotter. Fünf Meilen weiter entwickelte sie sich noch weiter zurück in einen in den Modder geschnittenen Strich. Dick fluchte und kämpfte mit dem Schaltknüppel, während sein großer GMC auf den Wogen aus Schlamm und Kies trieb. Bremse und Gaspedal waren für einen Mann von seiner Statur ausgelegt, und er handhabte sie wie Horowitz, der durch einen Sturm von Liszt segelt. Bei jedem Schlagloch wurde eine kritische Stelle in Landsman von Berkos schwankender Masse eingedrückt.

Als kein Schlamm mehr da war, stiegen sie aus dem Pick-up und marschierten durch dichtgepflanzte Hemlocktannen. Der Boden war rutschig, der Weg eher ein Vorschlag des zerfetzten gelben Polizeiabsperrbands in den Bäumen. Nach zehn platschenden, glucksenden Minuten endete der Pfad vor einem elektrischen Zaun inmitten dichten Nebels, der zeitweise in richtigen Regen übergehen wollte. Tief in die Erde getriebene Betonpylone, straffe, gleichmäßige Drähte. Ein sorgfältig gezogener Zaun, ein guter Zaun. Für Juden eine brutale Geste auf Indianerland, eine Geste ohne Beispiel oder Berechtigung, soweit Landsman weiß.

Auf der anderen Seite des elektrischen Zauns schimmert die Fata Morgana: Gras. Weideland, fett und glänzend. Einhundert hübsche, gefleckte Rinder mit zarten Köpfen.

»Kühe«, sagt Landsman, und das Wort klingt wie ein Muh des Zweifels.

»Sehen aus wie Milchkühe«, sagt Berko.

»Das sind Ayrshires«, sagt Dick. »Als ich das letzte Mal hier war, hab ich ein paar Fotos gemacht. Ein Professor für Landwirtschaft unten in Davis, Kalifornien, hat sie für mich analysiert. ›Eine schottische Rasse‹.« Dick zieht seine Stimme durch die Nase, äfft den kalifornischen Professor nach. »Bekannt für ihre Robustheit und ihre Fähigkeit, in nördlichen Breiten zu gedeihen.«

»Kühe«, sagt Landsman noch einmal. Es will ihm einfach nicht gelingen, das unheimliche Gefühl von Deplatzierung, von Luftspiegelung abzuschütteln, das Gefühl, etwas zu sehen, was nicht da ist. Etwas, das er dennoch kennt, das er erkennt, eine halberinnerte Wirklichkeit aus den Geschichten vom Himmel oder aus seiner eigenen Vergangenheit. Seit den Tagen auf dem »Ickes College«, als die Alaskan Development Corporation Traktoren, Samen und Düngesäcke an die Bootsladungen voller Flüchtlinge verteilte, haben die Juden des Distrikts eine jüdische Farm erträumt und erzweifelt. »Kühe in Alaska.«

Die Generation der Eisbären erlebte zwei große Enttäuschungen. Die erste, die dümmere, entlud sich, als es im sagenumwobenen Norden nicht Eisberge, Eisbären, Walrosse, Pinguine, Tundra, Schnee in rauen Mengen und vor allem keine Eskimos gab. Tausende von Geschäften in Sitka tragen noch heute verbitterte, phantasievolle Namen wie Walross-Apotheke, Haarteile Eskimo oder Nanook’s Taverne.

Die zweite Enttäuschung wurde in beliebten Liedern aus jener Epoche gefeiert, beispielsweise in »Ein grüner Käfig«. Die zwei Millionen Juden, die von Bord gingen, fanden keine wogende, mit Büffeln besprenkelte Prärie vor. Keine federgeschmückten Indianer zu Pferde. Nur eine Kette überfluteter Berge und fünfzigtausend Tlingit, die bereits den Großteil des flachen und nutzbaren Landes in Besitz hatten. Kein Platz, um sich auszudehnen, um zu wachsen, um etwas anderes zu tun, als genauso beengt wie in Vilna oder Lodz zusammenzuhocken. Die Grundbesitzträume von Millionen jüdischer Heimatloser, genährt durch Filme, leichte Literatur und die vom amerikanischen Innenministerium zur Verfügung gestellten Informationsbroschüren, erstarben fast unmittelbar nach der Ankunft. Alle paar Jahre erwarb die eine oder andere utopische Gesellschaft einen grünen Landstrich, der irgendwelche Träumer an eine Kuhwiese erinnerte. Dann gründete man dort eine Kolonie, importierte Vieh, setzte ein Manifest auf. Und dann begannen das Klima, die Märkte und die Prise Verhängnis, die das jüdische Leben stets durchzieht, ihre Wirkung zu entfalten. Die Traumfarm welkte dahin und ging ein.

Jetzt hat Landsman das Gefühl, diesen alten Traum vor sich zu sehen, glänzend und grünend. Ein Trugbild des alten Optimismus, die Hoffnung auf eine Zukunft, mit der er aufwuchs. Die Zukunft selbst, so scheint es ihm jetzt, sie selbst war die Fata Morgana.

»Die eine da ist irgendwie komisch«, sagt Berko. Er blickt durch das Fernrohr, das Dick mitgenommen hat, und Landsman hört, wie etwas an Berkos Stimme zerrt wie ein Fisch am Ende der Leine.

»Gib mal«, sagt Landsman, nimmt das Fernglas und hält es vor die Augen. Er tut sein Bestes, aber er sieht nichts als Kühe. »Komisch wie: sie bringt dich zum Lachen?«

»Die da. Bei den beiden da drüben, die in die andere Richtung guckt.«

Berko führt das Glas mit schroffer Hand, richtet es auf eine Kuh, deren gesprenkeltes Fell vielleicht von einem satteren Rot ist als das ihrer Schwestern, von einem strahlenderen Weiß, deren Kopf kräftiger ist, weniger damenhaft. Wie gierige Finger rupfen ihre Lippen am Gras.

»Die ist ein bisschen anders«, gibt Landsman zu. »Und?«

»Ich weiß nicht«, sagt Berko, und es klingt nicht ganz ehrlich. »Willie, weißt du ganz genau, dass diese Kühe unseren geheimnisvollen Juden gehören?«

»Wir haben die kleinen Cowboyjuden mit eigenen Augen gesehen«, sagt Dick. »Die zu dem Lager oder der Schule gehören oder was auch immer das ist. Haben die Tiere zusammengetrieben. Da runter, zum Campus. So ein herrischer kleiner schottischer Hund hat ihnen dabei geholfen. Meine Jungs und ich sind ihnen eine Zeit lang gefolgt.«

»Sie haben euch nicht bemerkt?«

»Es wurde schon dunkel. Außerdem, was glaubst du eigentlich, natürlich haben die uns nicht bemerkt, wir sind schließlich Indianer, verdammt nochmal. Rund eine halbe Meile weiter ist eine Molkerei, das Neuste vom Neustem. Zwei Silos. Mittelgroßer Betrieb, und er gehört definitiv nur Juden.«

»Was läuft hier eigentlich ab?«, fragt Landsman. »Ist das jetzt eine Entziehungsklinik oder ein Milchhof? Oder eine seltsame Kommandoausbildungseinrichtung, die so tut, als wäre sie beides?«

»Dieses Kommando mag die Milch am liebsten frisch von der Kuh«, sagt Dick.

Sie stehen eine Weile da und betrachten die Kühe. Landsman bekämpft den Drang, sich gegen den elektrischen Zaun zu lehnen. In ihm ist ein närrischer Teufel, der das Rasseln des Stroms spüren will. In ihm ist ein Strom, der den Teufel im Draht spüren will. Etwas stört ihn, nagt an ihm, etwas an dieser Vision, diesem Crocker Land der Kühe. Wie wirklich es auch sein mag, es ist unmöglich. Es sollte nicht hier sein; kein Jid sollte in der Lage sein, einen derartig großen Grundbesitz zu stemmen. Landsman hat viele der großen und bösen Juden seiner Generation gekannt oder mit ihnen zu tun gehabt, mit den Reichen, den verrückten Utopisten, den sogenannten Visionären, den Politikern, die sich die Gesetze auf der Drehbank drechseln. Landsman denkt an die Warlords der russischen Viertel mit ihrem Vorrat an Waffen, Diamanten und Störrogen. Er geht sein geistiges Register von Schmuggelkönigen und Graumarktmogulen durch, von Gurus unbedeutenderer Kulte. Männer mit Einfluss, Beziehungen, unbegrenzten Mitteln. Keiner von ihnen hätte das hier durchziehen können, nicht einmal Heskel Shpilman oder Anatoly Moskowits, das wilde Tier. Egal wie mächtig — jeder Jid im Distrikt ist gefesselt durch die Leine von 1948. Sein Königreich ist an seine Nussschale gebunden. Sein Himmel ist eine gemalte Kuppel, sein Horizont ein Elektrozaun. Er ist nur so frei wie ein Ballon an einer Schnur.

Unterdessen zerrt Berko auf eine Art und Weise am Knoten seiner Krawatte, die Landsman mit dem nahe bevorstehenden Formulieren einer Theorie zu assoziieren gelernt hat.

»Was ist, Berko?«, fragt er.

»Das ist keine weiße Kuh mit roten Flecken«, sagt Berko mit Entschiedenheit. »Das ist eine rote Kuh mit weißen Flecken.«

Er setzt seinen Hut auf den Hinterkopf und schürzt die Lippen. Er macht mehrere Schritte vom Zaun weg und zieht die Hosenbeine hoch. Langsam trottet er auf den Zaun zu. Zu Landsmans Schreck, Schock und leichtem Stolz springt Berko ab. Seine massige Gestalt hebt sich vom Erdboden. Ein Bein streckt er vor, das andere winkelt er nach hinten ab. Seine angehobenen Hosenaufschläge geben den Blick auf grüne Socken und blasse Schienbeine frei. Dann landet er mit kräftigem Prusten auf der anderen Seite des Zauns. Kurz schwankt er unter seinem eigenen Gewicht, dann stürzt er voran in die Welt der Kühe.

»Was soll der Scheiß?«, sagt Landsman.

»Theoretisch muss ich ihn jetzt verhaften«, sagt Dick.

Die Kühe reagieren auf das Eindringen mit Protest und Beschwerde, aber nur sehr geringen Gefühlsausbrüchen. Berko steuert geradewegs auf die zu, die sein Interesse erregt hat, marschiert zu ihr hin. Sie scheut zurück, muht. Er hebt die Arme, die Handteller nach außen gekehrt. Er spricht zu ihr in Jiddisch, Englisch, Tlingit, Alt- und Neubovinisch. Langsam umkreist er sie, mustert sie von oben bis unten. Landsman kann Berko verstehen; diese Kuh ist nicht wie die anderen, weder von der Gestalt noch von der Farbe.

Die Kuh lässt Berkos Inspektion über sich ergehen. Er legt eine Hand auf ihre Ohrmarke, und sie wartet, Hufe gespreizt, x-beinig, den Kopf lauschend geneigt. Berko bückt sich und betrachtet sie von unten. Er fährt mit den Fingern über ihre Rippen, den Nacken hinauf bis zu ihrem hornlosen Schädel, dann zurück über ihre Flanken zur zeltähnlichen Form ihrer Hüften. Dort hält seine Hand inne, mitten in einem weißen Fellflecken. Berko hebt die rechte Hand an den Mund, befeuchtet die Fingerspitzen und reibt dann in kreisförmiger Bewegung über den weißen Fleck am Rumpf der Kuh. Er nimmt die Finger fort, betrachtet sie, grinst, runzelt die Stirn. Dann stapft er über das Feld zurück und bleibt vor Landsman am Zaun stehen.

Er hebt die rechte Hand wie eine feierliche Parodie des indianischen Grußes auf Zigarrenschachteln, und Landsman sieht, dass an seinen Fingern weiße Farbe haftet.

»Aufgemalte Flecke«, sagt er.

Dann nimmt er Anlauf und kommt wieder auf den Zaun zugerannt. Landsman und Dick gehen ihm aus dem Weg, und er ist in der Luft, und dann summt der Boden unter seinem Aufprall.

»Angeber«, sagt Landsman.

»Immer schon«, sagt Dick.

»Und«, sagt Landsman, »was meinst du damit? Ist die Kuh verkleidet?«

»Genau das meine ich.«

»Jemand hat weiße Flecke auf eine rote Kuh gemalt.«

»So sieht es aus.«

»Diese Tatsache ist für dich von Bedeutung.«

»In gewisser Weise«, sagt Berko. »In einem bestimmten Kontext. Ich glaube, die Kuh könnte eine rote Färse sein.«

»Hör mir auf«, sagt Landsman. »Eine rote Färse.«

»Das ist was Jüdisches, nehme ich an«, sagt Dick.

»Wenn der Tempel in Jerusalem wieder errichtet wird«, sagt Berko, »und es Zeit ist, das traditionelle Sühneopfer darzubringen. Die Bibel sagt, dafür braucht man eine besondere Art von Kuh. Eine rote Färse, ohne Makel. Rein. Ich schätze, die sind ziemlich selten, reine rote Färsen. Ich glaube, seit Anbeginn der Zeit gab es nur neun davon. Es wäre wirklich cool, eine zu finden. Das wäre so was wie ein fünf blättriges Kleeblatt.«

»Wenn der Tempel wieder errichtet wird«, sagt Landsman und denkt an den Zahnarzt Buchbinder und sein verrücktes Museum. »Und das ist nach der Ankunft von Messias?«

»Manche meinen«, sagt Berko langsam und beginnt zu verstehen, was Landsman zu verstehen beginnt, »Messias warte so lange, bis der Tempel wieder errichtet sei. Bis der Altardienst wieder eingeführt werde. Blutopfer, Priesterschaft, das ganze Brimborium.«

»Wenn man also, sagen wir mal, eine rote Färse fände. Und die ganzen Werkzeuge zur Verfügung hätte, ja? Die komischen Hüte und all den Kram. Und wenn man, hm, wenn man den Tempel aufbauen würde … dann könnte man Messias praktisch zwingen zu kommen?«

»Ich bin bestimmt kein gläubiger Mensch, weiß Gott nicht«, wirft Dick ein. »Aber ich fühle mich zu dem Hinweis genötigt, dass der Messias schon mal da war und ihr Schweine den Hurensohn abgemurkst habt.«

In der Ferne hören sie eine Menschenstimme, verstärkt durch einen Lautsprecher, sie spricht jenes sonderbare Wüstenhebräisch. Bei dem Klang stolpert Landsmans Herz, und er macht einen Schritt auf den Pick-up zu.

»Lasst uns abhauen«, sagt er. »Ich habe diese Männer schon kennengelernt und den starken Eindruck, dass sie nicht besonders freundlich sind.«

Als sie wieder sicher im Fahrzeughaus sitzen, startet Dick den Motor, lässt ihn aber im Leerlauf und tritt auf die Bremse. Da sitzen sie, erfüllen die Kabine mit Zigarettenrauch. Landsman schnorrt eine von Dicks schwarzen Zigarren und muss zugeben, dass sie ein feines Beispiel für die Kunstfertigkeit des Drehers ist.

»Ich red jetzt einfach mal drauflos, Willie«, sagt Landsman, nachdem er die Nat Sherman halb zu Ende geraucht hat. »Und du versuchst, mich zu widerlegen.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

»Auf dem Weg hier raus haben wir geredet, und du hast auf einen gewissen … ähm, einen gewissen Duft angespielt, den dieser Ort verströmt.«

»Stimmt.«

»Hier stinkt’s nach Geld, hast du gesagt.«

»Diese Cowboys haben Geld im Rücken, gar keine Frage.«

»Aber von dem Augenblick an, als ich zum ersten Mal von dieser Einrichtung gehört habe, hat mich etwas gestört. Ich gehe davon aus, dass ich den größten Teil des Betriebs gesehen habe. Vom Schild am Landeplatz fürs Wasserflugzeug bis hin zu diesen Kühen. Und jetzt stört es mich noch mehr.«

»Was denn?«

»Tut mir leid, aber mir ist egal, mit wie viel Geld die hier rumwerfen. Ich kaufe dir ja ab, dass jemand aus eurem Stammesrat hin und wieder Schmiergeld von den Juden nimmt. Geschäft ist Geschäft, ein Dollar ist ein Dollar und so weiter. Wer weiß, ich habe schon die Theorie gehört, dass illegale Geldschiebereien über die Grenze die äußerste Möglichkeit seien, so etwas wie Frieden, Liebe und Versöhnung zwischen Juden und Indianern hinzubekommen.«

»Wie niedlich.«

»Und diese Juden hier wollen offenbar nicht, dass das, was sie machen, bekannt wird, sie wollen diese Neuigkeiten scheinbar nicht mit anderen Juden teilen. Dabei ist dieser Distrikt ein Haus mit zu vielen Bewohnern und zu wenig Zimmern. Jeder weiß über jeden Bescheid. Niemand in Sitka hat ein Geheimnis, Sitka ist nichts anderes als ein großes Schtetl. Wenn man ein Geheimnis hat, leuchtet es ein, es hier draußen zu verstecken.«

»Aber?«

»Aber Gestank hin oder her, Geschäft hin oder her, Geheimnis hin oder her, tut mir leid, nie und nimmer würden die Tlingit zulassen, dass ein Haufen Juden hierherkommt, ins Herz des Indianerlandes, und das alles baut. Ganz egal, mit wie viel jüdischer Kohle sie um sich werfen.«

»Du willst sagen, nicht mal wir Indianer sind so rückgratlos und verkommen. Um unseren schlimmsten Feind hier derart Fuß fassen zu lassen.«

»Sagen wir lieber, wir Juden sind die schlimmsten Betrüger der Welt, wir regieren die Welt von unserem geheimen Hauptquartier auf der dunklen Seite des Mondes aus. Aber selbst wir haben unsere Grenzen. Gefällt dir das besser?«

»Da widerspreche ich nicht.«

»Die Indianer würden das niemals erlauben, wenn sie nicht mit einem riesigen Gewinn rechneten. Einem gewaltigen. So groß wie der Distrikt, sagen wir mal.«

»Sagen wir mal«, sagt Dick mit belegter Stimme.

»Ich nehme an, der amerikanische Beitrag zu der ganzen Sache war lediglich, Naomis Absturzakte verschwinden zu lassen. Aber kein Jude könnte jemals so einen Gewinn garantieren.«

»Der Pinguin-Pulli«, sagt Berko. »Er sorgt dafür, dass die Indianer den Distrikt zugesprochen bekommen, wenn wir weg sind. Dafür helfen die Indianer den Verbovern und deren Freunden, ihren kleinen geheimen Milchhof da draußen aufzubauen.«

»Aber was hat der Pinguin-Pulli davon?«, fragt Landsman. »Was ist für die USA drin?«

»Jetzt bist du an einem Ort großer Dunkelheit angelangt, Bruder Landsman«, sagt Dick und legt den Gang ein. »Den du, wie ich befürchte, ohne Wilfred Dick wirst betreten müssen.«

»Ich sage das ja nicht gerne, Cousin«, sagt Landsman zu Berko und legt ihm die Hand auf die Schulter, »aber ich glaube, wir müssen runter zum Massakerfeld.«

»God fucking damn it«, sagt Berko.

35.

Zweiundvierzig Meilen südlich der Stadtgrenze von Sitka schwankt ein Haus aus alten Brettern und grauen Schindeln auf zwei Dutzend Pfählen über dem Morast. Ein namenloses Sumpfgebiet, strotzend vor Bären, das zu Methanblähungen neigt. Ein Friedhof für Ruderboote, Ausrüstung, Pick-ups und, irgendwo tief unten, ein Dutzend russischer Pelzjäger mit ihren aleutischen Hundesoldaten. An einem Ende des Sumpfes, hinten im Gestrüpp, steht ein herrliches Langhaus der Tlingit, das von Brombeerrose und Teufelskeule zerpflückt wird. Auf der anderen Seite erstreckt sich ein steiniger Strand, übersät mit Tausenden schwarzer Kiesel, in die ein altes Volk die Formen von Tieren und Sternen ritzte. Es war an diesem Strand im Jahr 1854, wo jene zwölf promyshlenniki und Aleuten unter Jewgeni Simonow ihr blutiges Ende durch die Hände eines Tlingit-Häuptlings namens Kohklux fanden. Über ein Jahrhundert später wurde die Ururenkelin von Häuptling Kohklux, eine Mrs. Pullman, die zweite indianische Frau eines ein Meter fünfundsechzig großen jüdischen Schachspielers und Meisterspions namens Hertz Shemets.

Im Schach wie in der geheimen Staatskunst war Onkel Hertz bekannt für sein Zeitgefühl, seine übertriebene Vorsicht und seine peinlich genaue Vorbereitung. Er besorgte sich Informationen über seinen Gegner, fertigte eine tödliche Studie von ihm an. Er suchte ein Muster von Schwächen, den nicht zu lösenden Komplex, den Tick. Fünfundzwanzig Jahre lang führte er einen geheimen Feldzug gegen die Menschen auf der anderen Seite der Grenze, versuchte, ihre Macht über das Indianerland zu schwächen, und mit der Zeit wurde er zu einer anerkannten Kapazität in Bezug auf ihre Kultur und Geschichte. Er lernte, die Tlingit-Sprache mit ihren bonbonlutschenden Vokalen und zähen Konsonanten zu genießen. Gründlich erforschte er den Duft und das Gewicht von Tlingit-Frauen.

Als er Mrs. Pullman heiratete (niemand nannte die Dame jemals Mrs. Shemets, möge sie in Frieden ruhen), entwickelte er ein Interesse am Sieg ihres Ururgroßvaters über Simonow. Stundenlang saß er in der Bibliothek der Bronfman University und brütete über Landkarten aus der Zarenzeit. Er kommentierte die Interviews von methodistischen Missionaren mit neunundneunzigjährigen Tlingit-Weibern, die sechs Jahre alt gewesen waren, als die Kriegsbeile auf die russischen Quadratschädel einschlugen. Er entdeckte, dass das Massakerfeld in der Erhebung des Geologischen Dienstes von 1949, jener Erhebung, die die Grenzen des Distrikts Sitka festlegte, aus irgendeinem Grund als Tlingit-Land ausgewiesen war. Obwohl es westlich der Baranof-Kette liegt, gehört das Massakerfeld den Ureinwohnern, ein grünes Symbol des Indianertums auf der jüdischen Seite von Baranof Island. Als Hertz diesen Fehler entdeckte, sorgte er dafür, dass Berkos Stiefmutter das Land aufkaufte. Das Geld dafür stammte, wie Dennis Brennan später nachwies, aus Hertz’ Schmiergeldfonds der COINTELPRO. Auf dieses Land baute er sein spinnenbeiniges Haus. Und als Mrs. Pullman starb, erbte Hertz Shemets das Simonow-Massakerfeld. Er erklärte es zum lausigsten Indianerreservat der Welt und sich selbst zum lausigsten Indianer.

»Arschloch«, sagt Berko weniger grollend, als Landsman erwartet haben könnte, und betrachtet durch die Windschutzscheibe des Super Sport die gebrechliche Unterkunft seines Vaters.

»Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«

Berko wendet sich mit verdrehten Pupillen seinem Kollegen zu, als gehe er im Kopf eine Akte über Landsman durch, um eine Frage zu finden, auf die eine Antwort noch weniger nötig gewesen wäre.

»Ich will dich mal was fragen, Meyer. Wenn du ich wärst, wann hättest du ihn dann zum letzten Mal gesehen?«

Landsman parkt den Super Sport hinter dem Buick Roadmaster des Alten, ein schlammverkrustetes blaues Monstrum mit falschem Holz und einem Aufkleber, der auf Jiddisch und Englisch das WELTBERÜHMTE SIMONOW-MASSAKERFELD UND ORIGINAL TLINGIT-LANG-HAUS anpreist. Obgleich die Attraktion schon länger nicht mehr am Straßenrand existiert, ist der Sticker strahlend neu. Im Langhaus stapelt sich ein Dutzend Kartons voller Aufkleber.

»Gib mir einen Tipp«, sagt Landsman.

»Witze über Beschneidung.«

»Ah so.«

»Jeder einzelne je erzählte Witz über Beschneidung.«

»Ich wusste gar nicht, dass es so viele gibt«, sagt Landsman. »Da hast du ja was gelernt.«

»Komm«, sagt Berko und steigt aus dem Auto. »Bringen wir es hinter uns.«

Landsman mustert das gewaltige Originallanghaus im trockenen Dickicht von Brombeerrosenranken und Teufelskeule, eine bunt bemalte Ruine. Tatsächlich ist nichts an dem Langhaus original. Hertz Shemets baute es mit Hilfe von zwei indianischen Schwägern, seinem Neffen Meyer und seinem kleinen Sohn Berko im Sommer, nachdem der Junge auf die Adler Street gezogen war. Er baute es aus Spaß, ohne den Plan, es zu einem Ausflugsziel zu machen. Das versuchte er erst nach seiner Enteignung, leider vergeblich. In jenem Sommer war Berko fünfzehn und Landsman zwanzig. Der Jüngere formte jede Seite seiner Persönlichkeit so, dass sie den Vorgaben Landsmans entsprach. Zwei volle Monate widmete er der Aufgabe, die Stichsäge so wie Landsman zu betätigen, mit einer auf der Lippe hüpfenden Papiros, deren Rauch ihm in den Augen brannte. Damals hatte sich Landsman schon entschlossen, die Aufnahmeprüfung bei der Polizei zu machen, und in jenem Sommer erklärte Berko dieses ebenfalls zu seiner Ambition. Wenn Landsman davon gesprochen hätte, eine Schmeißfliege zu werden, hätte auch Berko eine Möglichkeit gefunden, den Dung zu lieben.

Wie die meisten Polizisten segelt Landsman doppelwandig gegen das Unglück an, geschützt gegen Seegang und Sturm. Es sind die Untiefen, um die er sich sorgen muss, die Haarrisse, die kleinen Launen des Drehmoments. Die Erinnerung an jenen Sommer beispielsweise, oder der Gedanke, dass er schon längst die Geduld eines Jungen erschöpft hat, der einst tausend Jahre gewartet hätte, um eine Stunde lang mit ihm gemeinsam mit dem Luftgewehr Büchsen vom Zaun zu schießen. Der Anblick des Langhauses bricht eine kleine, bisher noch ungebrochene Facette in Landsmans Herz. Alles, was sie hier in jener kurzen Minute in diesem Winkel der Welt gemacht haben, hat sich im Dorngestrüpp von Brombeerrose und Vergessen aufgelöst.

»Berko«, sagt er, als sie durch den halb gefrorenen Morast des lausigsten Indianerreservats der Welt knirschen. Er fasst seinen Cousin am Ellenbogen. »Tut mir leid, dass ich so durch den Wind war.«

»Du musst dich nicht entschuldigen, Meyer«, sagt Berko. »Das ist nicht deine Schuld.«

»Mir geht’s jetzt besser. Ich bin wieder da«, sagt Landsman, und kurz klingen die Worte in seinen Ohren wahr. »Ich weiß nicht, wie das kam. Vielleicht durch die Unterkühlung. Oder durch diese ganze Sache mit Shpilman. Oder, gut, vielleicht auch dadurch, dass ich die Finger vom Sprit gelassen habe. Aber ich bin wieder so wie früher.«

»Hm.«

»Glaubst du das nicht?«

»Doch, Meyer.« Berko könnte genauso gut einem Kind oder einem Irren beipflichten. Er könnte genauso gut gar nicht beipflichten. »Du kommst mir ganz normal vor.«

»Ausdrückliche Unterstützung.«

»Ich will jetzt nicht darüber sprechen, ja, macht das was? Ich will da jetzt einfach nur rein, dem Alten unsere Fragen vorsetzen und dann schnell zurück zu Ester-Malke und den Jungs. Kommst du damit klar?«

»Sicher, Berko. Natürlich.«

»Danke.«

Sie stapfen über erstarrten Schlick aus Schlamm, Schotter und gefrorenen Pfützen, mit einem dünnen Trommelfell aus Eis bespannt. Eine Comictreppe, zersplittert und wackelig, führt zu einer wettergrauen Zedernholztür. Sie hängt schief in den Angeln und ist mit dicken Gummistreifen provisorisch auf den Winter vorbereitet.

»Als du meintest, es wäre nicht meine Schuld«, fängt Landsman an.

»Mann! Ich muss pissen.«

»Das bedeutet doch, dass du mich für verrückt hältst. Für geisteskrank. Dass ich nicht verantwortlich bin für das, was ich tue.«

»Ich klopfe jetzt an diese Tür, Meyer.«

Dann klopft er zweimal, heftig genug, um die Angeln zu gefährden.

»Ungeeignet, eine Dienstmarke zu tragen«, sagt Landsman und wünscht sich von Herzen, das Thema fallen lassen zu können. »In anderen Worten.«

»Das hat deine Exfrau gesagt, nicht ich.«

»Aber du widersprichst ihr nicht.«

»Was weiß ich denn über Geisteskrankheiten?«, sagt Berko. »Ich bin nicht derjenige, der festgenommen wurde, weil er drei Stunden entfernt von zu Hause nackt durch den Wald lief, nachdem er einem Mann mit einem eisernen Bettrahmen den Schädel eingeschlagen hat.«

Hertz Shemets kommt an die Tür, sein Unterkiefer ist so frisch rasiert wie ein Blutstropfen. Er trägt einen grauen Flanellanzug über einem weißen Hemd und einer mohnroten Krawatte. Er riecht nach Vitamin B, Sprühstärke, geräuchertem Fisch. Er ist winziger denn je, zappelig wie eine Holzfigur an einem Stock.

»Alter Junge!«, ruft er Landsman zu und bricht ein paar Knochen in der Hand seines Neffen.

»Siehst gut aus, Onkel Hertz«, sagt Landsman. Bei näherem Hinschauen entdeckt er, dass der Anzug an den Ellenbogen und Knien glänzt. Die Krawatte legt Zeugnis von einer Suppe ab und wurde nicht über den weichen Kragen eines Hemdes geschlungen, sondern um ein weißes Pyjamaoberteil, hastig in die Hose gestopft. Aber Landsman hat gut kritisieren. Er trägt seinen Notfallanzug, herausgerissen aus der Spalte hinten im Kofferraum und glattgezogen, ein schwarzes Teil aus Viskose-Wollgemisch mit Goldknöpfen, die wie römische Münzen aussehen sollen. Einmal lieh er sich den Anzug in letzter Minute für eine Beerdigung, an der teilzunehmen er vorgehabt, aber vergessen hatte, lieh ihn sich von einem unglückseligen Spieler namens Glucksman. Der Anzug bringt es zustande, begräbnisfähig und fröhlich zugleich auszusehen, er hat hartnäckige Falten und riecht nach Detroiter Kofferraum.

»Danke für die Warnung«, sagt Onkel Hertz und lässt Landsmans ruinierte Hand los.

»Der da hätte dich lieber überrascht«, sagt Landsman und nickt Berko zu. »Aber ich weiß, dass du gerne nach draußen gehst und etwas für uns erlegst.«

Onkel Hertz legt die Handflächen zusammen und verbeugt sich. Wie ein wahrer Einsiedler nimmt er seine Pflichten als Gastgeber sehr ernst. Wenn es nicht viel zu jagen gab, wird er etwas schön Marmoriertes aus der Tiefkühltruhe geholt und es mit Möhren, Zwiebeln und einer zerdrückten Handvoll Kräuter, die er anbaut und in der Hütte hinter dem Holzhaus trocknet, auf den Herd gestellt haben. Er wird dafür gesorgt haben, dass Eis für den Whisky und kaltes Bier für den Schmortopf da sind. Vor allem wird er sich rasiert und eine Krawatte umgebunden haben.

Der alte Mann sagt Landsman, er solle ins Haus gehen, und Landsman gehorcht ihm, sodass Hertz seinem Sohn allein gegenübersteht. Landsman schaut zu, ein interessierter Dritter, wie alle jüdischen Männer seit dem Moment, als Abraham Isaak hieß, sich auf den Berg zu legen und seinen pochenden Brustkorb vor dem Himmel zu entblößen. Der alte Mann streckt die Hand aus und greift nach dem Ärmel von Berkos Holzfällerhemd. Er rollt den Stoff zwischen den Fingern. Berko lässt die Prüfung mit aufrichtiger Leidensmiene über sich ergehen. Es muss ihn umbringen, das weiß Landsman, in etwas anderem als seinem besten italienischen Zwirn vor seinen Vater zu treten.

»Und, wo ist deine Holzfälleraxt?«, sagt der alte Mann schließlich.

»Keine Ahnung«, sagt Berko. »Vielleicht da, wo auch deine Schlafanzughose ist.«

Berko streicht die Falte glatt, die sein Vater in den Ärmel gekniffen hat. Er geht an dem alten Mann vorbei und tritt ins Haus.

»Arschloch«, sagt er fast lautlos. Innen kündigt er an, die Toilette besuchen zu müssen.

»Sliwowitz«, sagt der alte Mann und geht zu den Flaschen, eine gedrängte Skyline auf einem schwarzen Lacktablett wie eine Miniaturnachbildung von Shvartser-Yam. »Stimmt’s?«

»Wasser«, sagt Landsman. Als sein Onkel eine Augenbraue hebt, zuckt er mit den Achseln. »Hab einen neuen Arzt. Inder. Will, dass ich mit dem Trinken aufhöre.«

»Und seit wann hörst du auf Ärzte oder Inder?«

»Tue ich nicht«, gibt Landsman zu.

»Selbstbehandlung ist eine Landsman-Tradition.«

»Judesein auch«, sagt Landsman. »Und du siehst ja, was wir davon haben.«

»Seltsame Zeiten für Juden«, stimmt der alte Mann zu. Er wendet sich von der Bar ab und reicht Landsman ein Highballglas mit einer Zitronenscheibe als Jarmulke. Dann schenkt er sich ein großzügiges Glas Sliwowitz ein und hält es Landsman mit einem Ausdruck humorvoller Grausamkeit hin, den Landsman gut kennt und in dem er schon lange keinen Humor mehr erkennen kann.

»Auf seltsame Zeiten«, sagt der Alte.

Er trinkt das Glas aus, und als er Landsman ansieht, glüht er wie ein Mann, der gerade etwas Geistreiches gesagt hat, über das der ganze Raum lacht. Landsman weiß, wie sehr es Hertz wehtun muss zu sehen, dass das Schiff, das er so viele Jahre mit all seinem Geschick und all seiner Kraft durch den Fluss gesteuert hat, nun immer näher an die Wasserfälle der Reversion herantreibt. Er gießt sich schnell ein zweites Glas ein und kippt es ohne jedes Zeichen von Vergnügen hinunter. Jetzt ist es an Landsman, die Augenbraue zu heben.

»Du hast deinen Arzt«, sagt Onkel Hertz. »Und ich habe meinen.«

Onkel Hertz’ Hütte ist ein einziger großer Raum mit einer Galerie, die sich über drei Wände zieht. Der Raum lässt einen über die Anatomie und Verletzlichkeit alles Lebenden grübeln; die gesamte Einrichtung und Dekoration besteht aus Horn, Bein, Sehnen, Fell und Pelz. Die Galerie erreicht man über einen steilen Aufstieg hinten, neben der Küchenzeile. In einer Ecke ist das Bett des alten Mannes, sauber gemacht. Neben dem Bett steht auf einem kleinen runden Tisch ein Schachbrett. Die Figuren sind aus Rosenholz und Ahorn. Einem der weißen Ahornspringer fehlt das linke Pferdeohr. Einer der schwarzen Rosenholzbauern hat eine helle Macke am Kopf. Das Brett wirkt vernachlässigt, chaotisch; zwischen den Figuren steht ein Inhalierstift von Wick, eine mögliche Bedrohung für den weißen Springer auf e 1.

»Ich sehe, du spielst die Menthol-Verteidigung«, sagt Landsman und dreht das Brett, um besser sehen zu können. »Fernschach?«

Hertz bedrängt Landsman, verströmt seinen Zwetschgenbrandatem, und die Unternote von Hering ist so ölig und stechend, dass man die kleinen Gräten regelrecht schmecken kann. Angerempelt kippt Landsman das Schachbrett um. Es klappert wie Knochen auf einem Teller.

»Diesen Zug hast du immer schon meisterhaft beherrscht«, sagt Hertz. »Die Landsman-Eröffnung.«

»Scheiße, Onkel Hertz, tut mir leid.«

Landsman kauert sich hin und tastet unter dem Bett des alten Mannes nach den Figuren.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt sein Onkel. »Ist schon gut. Das war keine Partie, ich hab nur rumprobiert. Ich spiele kein Fernschach mehr. Ich lebe und sterbe für das Opfer. Ich blende meinen Gegenspieler gerne mit einer verrückten, wunderschönen Kombination. Ganz schön schwer auf einer Postkarte. Kennst du diese Figuren?«

Hertz hilft Landsman, die Figuren in die Schachtel zurückzulegen, die ebenfalls aus Ahorn ist, ausgeschlagen mit grünem Samt. Den Inhalierstift schiebt er in seine Tasche.

»Nein«, sagt Landsman. Er war derjenige, der vor vielen Jahren bei einem Wutanfall die Meyer-Verteidigung spielte, die den weißen Springer das Ohr kostete. »Was glaubst du denn? Du hast sie ihm geschenkt.«

Auf dem Nachttisch neben dem Bett liegen fünf Bücher. Eine jiddische Übersetzung von Chandler. Eine französische Biographie von Marcel Duchamp. Ein Taschenbuchangriff auf die verschlagenen Pläne der Dritten Russischen Republik, im letzten Jahr in den USA erfolgreich. Ein Peterson-Handbuch für Meeressäuger. Und ein Buch namens Kampf original auf Deutsch von Emanuel Lasker.

Die Toilette wird gespült, dann folgt das Geräusch von Wasser, das über Berkos Hände rinnt.

»Auf einmal lesen alle Lasker«, sagt Landsman. Er nimmt das Buch in die Hand, schwer, schwarz, der Titel in vergoldeter Frakturschrift geprägt, und ist leicht überrascht zu sehen, dass es nichts mit Schach zu tun hat. Keine Zeichnungen, keine stilisierten Damen oder Springer, nur Seite um Seite dornige deutsche Prosa. »Also war der Mann auch Philosoph?«

»Das hielt er für seine wahre Berufung. Obwohl er ein Genie in Schach und höherer Mathematik war. Leider muss ich sagen, als Philosoph war er vielleicht doch kein so großes Genie. Warum, wer liest denn noch Emanuel Lasker? Den kennt doch inzwischen keiner mehr.«

»Das ist heute sogar noch wahrer als vor einer Woche«, sagt Berko, der seine Hände am Handtuch abtrocknet. Es zieht ihn zum Esstisch. Der große Holzblocktisch ist für drei Personen gedeckt. Die Teller sind aus emailliertem Blech, die Gläser aus Plastik, und die Messer haben Griffe aus Knochen und angsteinflößende Klingen, mit denen man die noch zuckende Leber aus dem Bauch eines Bären schneiden könnte. Auf dem Tisch stehen ein Krug Eistee und eine emaillierte Kaffeekanne. Das Mahl, das Hertz Shemets bereitet hat, ist reichhaltig, heiß und eindeutig elchlastig.

»Elchchili«, sagt der Alte. »Letzten Herbst habe ich das Fleisch durch den Wolf gedreht. Es war in einem Gefrierbeutel in der Tiefkühltruhe. Den Elch habe ich natürlich selbst erlegt. Eine Kuh, ein Tausendpfünder. Das Chili habe ich heute gemacht, es sind Kidneybohnen drin, ich hab auch noch eine Dose schwarze Bohnen reingetan, die ich herumliegen hatte. Dann war ich unsicher, ob es genug wäre, deshalb hab ich noch ein paar andere Sachen warm gemacht, die ich im Kühlschrank hatte. Das da ist Quiche Lorraine, das sind natürlich Eier mit Tomaten und Schinken, der Schinken ist vom Elch. Habe ich selbst geräuchert.«

»Die Eier sind auch vom Elch«, sagt Berko, den aufgeblasenen Tonfall seines Vaters perfekt nachahmend.

Der alte Mann weist auf eine weiße Glasschale, in der sich gleichförmige Fleischklöpse in einer rötlich braunen Soße drängeln.

»Schwedische Klopse«, sagt er. »Aus Elchfleisch. Das da ist kalter Elchbraten, falls jemand ein Sandwich möchte. Das Brot hab ich natürlich auch selbst gebacken. Und die Mayonnaise ist selbst gemacht. Mayonnaise aus dem Glas kann ich nicht ausstehen.«

Sie setzen sich, um mit dem einsamen Alten zu essen. Vor vielen Jahren war sein Esszimmer ein lebendiger Ort, der einzige Tisch auf diesen geteilten Inseln, an dem Indianer und Juden regelmäßig zusammensaßen, wo sie ohne Groll miteinander tafelten. Es gab kalifornischen Wein zu trinken, der wortreich vom alten Mann gerühmt wurde. Stille Typen, Glücksritter und der eine oder andere Geheimagent oder Lobbyist aus Washington mischten sich unter Totemschnitzer, schachspielende Penner und eingeborene Fischer. Der alte Hertz setzte sich den Sticheleien von Mrs. Pullman aus. Er war der Typ des tyrannischen alten Halsabschneiders, der sich eine Frau sucht, die ihn vor seinen Freunden ein wenig herunterputzt. Irgendwie ließ ihn das nur noch stärker erscheinen.

»Ich habe ein, zwei Anrufe getätigt«, sagt Onkel Hertz nach einigen Minuten schachspielähnlicher Konzentration auf das Essen. »Nachdem ihr angerufen und euch angemeldet habt.«

»Ja?«, sagt Berko. »Ein, zwei Anrufe.«

»Genau.« Der Alte hat so ein Grinsen oder eine grinsähnliche Mimik, bei der er allein die Oberlippe auf der rechten Seite hebt, nur eine halbe Sekunde, und einen gelben Schneidezahn blitzen lässt. Es sieht aus, als hätte er einen Angelhaken in der Lippe und jemand risse einmal kurz und kräftig an der Schnur. »Und ich habe erfahren, dass du anderen gehörig auf die Nerven gegangen bist, Meyerle. Unprofessionelles Verhalten. Unberechenbares Benehmen. Ausweis und Waffe verloren.«

Was Onkel Hertz auch sonst noch gewesen sein mag — vierzig Jahre lang war er vereidigter Gesetzesvertreter und hatte einen Bundesausweis in der Brieftasche. Auch wenn er seinen vorwurfsvollen Ton unter Wert verkauft, ist er unverkennbar. Er wendet sich seinem Sohn zu.

»Und ich weiß nicht, was du da gerade so tust«, sagt er. »Noch acht Wochen bis zum großen schwarzen Loch. Zwei Kinder und — Masel-tow und Keijnehore — ein drittes unterwegs.«

Berko macht sich nicht die Mühe zu fragen, woher sein Vater weiß, dass Ester-Malke schwanger ist. Das würde nur die Eitelkeit des Alten befriedigen. Er nickt einfach und verdrückt noch ein paar Fleischklöpse. Sie sind gut, die Klopse, saftig mit einem Hauch von Rosmarin und Rauch.

»Du hast recht«, sagt Berko. »Es ist Wahnsinn. Und ich kann nicht behaupten, dass ich diesen Büffel da liebe oder mich um ihn sorge, sieh ihn dir an, ohne Ausweis, ohne Pistole, belästigt er Leute und läuft mit abgefrorenen Kniescheiben rum, nicht mehr als ich mich um meine Frau oder meine Kinder sorge, denn das tue ich nicht. Oder dass ich es irgendwie logisch finde, seinetwegen die Zukunft meiner Familie aufs Spiel zu setzen, denn das finde ich nicht.« Beim Anblick der Schüssel mit den Klopsen gibt sein Körper einen abgekämpften Laut von sich, einen jiddischen Laut, irgendwas zwischen einem Rülpser und einer Klage. »Aber wenn wir über schwarze Löcher reden, was soll ich sagen, das sind Dinge, mit denen ich nicht ohne Meyer an meiner Seite zu tun haben will.«

»Siehst du, wie treu«, sagt Onkel Hertz zu Landsman. »Genauso ging es mir mit deinem Vater, möge sein Name zum Segen sein, aber der Feigling hat mich so richtig im Stich gelassen.«

Es soll leicht klingen, aber das beschämte Schweigen nach dieser Bemerkung verdunkelt sie nachträglich. Sie kauen das Essen, das Leben fühlt sich lang und schwer an. Hertz steht auf und schenkt sich noch einen Schnaps ein. Er geht ans Fenster, betrachtet den Himmel, der einem aus den Scherben von tausend Spiegeln zusammengesetzten Mosaik gleicht, jede Scherbe hat einen anderen Grau ton. Der Winterhimmel im südöstlichen Alaska ist talmudgrau, ein unerschöpflicher Thorakommentar aus Regenwolken und ersterbendem Licht. Onkel Hertz war immer der tüchtigste, selbstsicherste Mann, den Landsman kannte, präzise wie ein Origami-Flugzeug, ein flinker Papierflieger, mit Akribie gefaltet, unempfindlich gegenüber Turbulenzen. Akkurat, methodisch, leidenschaftslos. Immer schon gab es Hinweise auf Schatten, auf Irrationales und Gewalt, aber sie waren hinter den Mauern von Hertz’ geheimnisvollen indianischen Abenteuern verborgen, versteckt auf der anderen Seite der Grenze, mit dem klugen Scharren eines Tieres überdeckt, das seine eigene Fährte verwischt. Aber jetzt steigt in Landsman eine Erinnerung aus den Tagen nach dem Tod seines Vaters auf, an Onkel Hertz, der zerknüllt wie ein Papiertaschentuch in einer Ecke der Küche auf der Adler Street sitzt, Hemd über der Hose, unordentliches Haar, falsch geknöpftes Hemd. Der schwindende Inhalt einer Flasche Sliwowitz auf dem Küchentisch neben ihm zeigt wie ein Barometer die sinkende Atmosphäre seiner Trauer an.

»Wir hätten da ein Rätsel, Onkel Hertz«, sagt Landsman. »Deshalb sind wir hier.«

»Und wegen der Mayonnaise«, sagt Berko.

»Ein Rätsel.« Der Alte wendet sich vom Fenster ab, sein Blick ist wieder hart und wachsam. »Ich hasse Rätsel.«

»Wir bitten dich ja nicht, es zu lösen«, sagt Berko.

»Sprich nicht in diesem Ton mit mir, John Bear!«, fährt der alte Mann ihn an. »Der gefällt mir nicht.«

»Ton?«, sagt Berko, und seine Stimme ist wie eine Notenlinie mit einem halben Dutzend Tönen befrachtet, ein Kammermusikensemble aus Frechheit, Groll, Sarkasmus, Provokation, Unschuld und Überraschung. »Ton?«

Landsman wirft Berko einen Blick zu, der ihn nicht an sein Alter und seine Stellung im Leben, sondern daran erinnern soll, dass es völlig uncool ist, mit den eigenen Verwandten zu zanken. Es ist ein alter, abgetragener Gesichtsausdruck, der auf die Zeit von Berkos ersten streiterfüllten Jahren bei den Landsmans zurückgeht. Wenn sie zusammen sind, dauert es immer nur wenige Minuten, bis jeder in seinen Urzustand zurückfällt, wie die Überlebenden eines Schiffswracks. Genau das ist eine Familie, denkt Landsman. Und eine Familie ist der Sturm auf See, das Schiff und das unbekannte Ufer. Und die Hütte und das Werkzeug, um aus Bambus und Kokosnüssen Whisky zu destillieren. Und das Feuer, das man entzündet, um wilde Tiere fernzuhalten.

»Wir würden da gerne etwas erklären«, beginnt Landsman von Neuem. »Eine Situation. Und diese Situation hat Aspekte, die uns an dich erinnert haben.«

Onkel Hertz schenkt sich noch einen Sliwowitz ein, trägt ihn zum Tisch und setzt sich.

»Fangt von vorne an«, sagt er.

»Es fängt mit einem toten Junkie in meinem Hotel an.«

»Aha.«

»Du weißt Bescheid.«

»Ich habe so was im Radio gehört«, sagt der alte Mann. »Vielleicht habe ich auch etwas in der Zeitung gelesen.« Er gibt immer den Zeitungen die Schuld an dem, was er weiß. »Er war der Sohn von Heskel Shpilman. Der, auf den sie so große Hoffnung setzten, als er noch klein war.«

»Er wurde umgebracht«, sagt Landsman. »Entgegen dem, was du gelesen haben magst. Als er starb, war er auf der Flucht. Er hat sich den größten Teil seines Lebens vor diesem und jenem versteckt, aber als er starb, hat er, glaube ich, versucht, einigen Männern zu entgehen, die er im Stich gelassen hatte. Ich konnte seine Bewegungen zurückverfolgen bis zum Flugplatz Yakovy im letzten April. Da tauchte er an dem Tag vor Naomis Tod auf.«

»Hat das hier was mit Naomi zu tun?«

»Diese Männer, die Shpilman suchten. Und die ihn auch umbrachten, wie wir annehmen. Letztes Jahr im April engagierten sie Naomi, um den Typ zu ihrer Farm rauszufliegen, das ist so eine Art Therapieeinrichtung für kaputte junge Leute. Draußen in Peril Strait. Aber als er da ankam, bekam er Schiss. Er wollte wieder weg. Er wandte sich an Naomi um Hilfe, und sie brachte ihn heraus, flog ihn in die Zivilisation zurück. Nach Yakovy. Am nächsten Tag starb sie.«

»Peril Strait?«, sagt der alte Mann. »Dann sind das also Indianer? Willst du damit sagen, die Indianer haben Mendel Shpilman umgebracht?«

»Nein«, sagt Berko. »Diese Männer vom Rehazentrum, die wohnen auf gut fünfhundert Hektar nördlich dieses Dorfes. Es sieht aus, als wäre das Zentrum von dem Geld amerikanischer Juden gebaut worden. Die Leute, die es leiten, sind Jids. Und soweit wir sagen können, ist das Ganze nur eine Fassade für eine andere Organisation.«

»Nämlich was? Marihuanaanbau? Das wäre geschickt. Eine als Besserungsanstalt getarnte Marihuanafarm.«

»Also, zum einen gibt es dort eine Herde Ayreshire-Rinder«, sagt Berko. »Vielleicht hundert Stück.«

»Zum einen.«

»Zum anderen scheint es so eine Art paramilitärische Ausbildungseinrichtung zu sein. Der Führer könnte ein alter Jude sein. Wilfred Dick hat ihn gesehen, er war da. Aber Dick kannte den Mann nicht. Wer auch immer es ist, er scheint Verbindungen zu den Verbovern zu haben, zumindest zu Aryeh Baronshteyn. Aber wir wissen nicht, warum und zu welchem Zweck.«

»Ein Amerikaner war auch da«, sagt Landsman. »Er wurde zu einem Treffen mit Baronshteyn und diesen anderen mysteriösen Juden eingeflogen. Sie machten sich alle ein bisschen Sorgen um den Ami. Sie glaubten wohl, er könnte unzufrieden mit ihnen und ihrem Führungsstil sein.«

Der Alte steht vom Tisch auf und geht zu einer Vitrine, die den Essbereich vom Schlafbereich trennt. Aus einem Humidor holt er eine Zigarre und rollt sie zwischen den Handflächen. Lange rollt er sie, vor und zurück, bis sie scheinbar in Vergessenheit geraten ist.

»Ich hasse Rätsel«, sagt er schließlich.

»Das wissen wir«, sagt Berko.

»Das wisst ihr.«

Onkel Hertz hält sich die Zigarre unter die Nase und bewegt sie hin und her, atmet tief ein, die Augen geschlossen, erfreut sich nicht nur des Geruchs, so scheint es Landsman, sondern auch der Kühle des glatten Blattes an der Haut seiner Nase.

»Das ist meine erste Frage«, sagt Onkel Hertz und öffnet die Augen. »Vielleicht auch meine einzige.«

Sie warten auf die Frage, während er die Zigarre abknipst und sie seinen schmalen Lippen anpasst, die sie prüfend umschließen. »Welche Farbe hatten die Kühe?«, sagt er.

36.

»Es war eine Rote dabei«, sagt Berko langsam und ein wenig widerwillig, als hätte er verpasst, wie die Münze in den Ärmel rutschte, obwohl er die Hände des Zauberers genau beobachtet hat.

»Ganz rot?«, fragt der Alte. »Vom Horn bis zum Schwanz?«

»Sie war getarnt«, sagt Berko. »Mit weißer Farbe besprüht. Ich wüsste keinen Grund, warum man das tun sollte, es sei denn, man will sie irgendwie verstecken. Beispielsweise, dass sie, du weißt schon.« Er zuckt. »Ohne Makel ist.«

»Um Himmels willen«, sagt der alte Mann.

»Was sind das für Leute, Onkel Hertz? Du weißt es, oder?«

»Was sind das für Leute?«, sagt Hertz Shemets. »Das sind Jids. Jids mit einem Plan. Ich weiß, das ist eine Tautologie.«

Er scheint sich einfach nicht überwinden zu können, die Zigarre anzuzünden. Er legt sie fort, nimmt sie, legt sie wieder auf den Tisch. Landsman bekommt das Gefühl, als wäge Hertz ein in ihr dunkles Blatt gerolltes Geheimnis ab. Eine Vorgehensweise, einen komplizierten Figurentausch.

»Gut«, sagt er schließlich, »ich habe gelogen. Ich habe noch eine Frage an euch. Meyer, vielleicht kannst du dich an einen alten Jid erinnern. Er kam immer in den Einstein-Schachclub, als du noch ein kleiner Junge warst. Er hat gerne mit dir gealbert, irgendwie konntet ihr es gut miteinander. Er hieß Litvak.«

»Ich habe Alter Litvak vor Kurzem gesehen«, sagt Landsman. »Im Einstein.«

»Ja?«

»Er kann nicht mehr sprechen.«

»Ich weiß, er hatte einen Autounfall, seine Kehle wurde von einem Reifen zerquetscht. Seine Frau kam dabei ums Leben. Passierte draußen auf dem Roosevelt Boulevard, wo die Traubenkirschen stehen. Der einzige Baum, der nicht eingegangen ist, war der, gegen den sie gefahren sind. Die einzige Traubenkirsche im Distrikt Sitka.«

»Ich weiß noch, wie sie diese Bäume gepflanzt haben«, sagt Landsman. »Damals zur Weltausstellung.«

»Werd mir nicht wehmütig«, sagt der Alte. »Ich hab weiß Gott genug mit wehmütigen Juden zu tun, bei mir selbst angefangen. Wehmütige Indianer sieht man nie.«

»Aber nur, weil sie versteckt werden, wenn du kommst«, sagt Berko. »Die Frauen und die wehmütigen Indianer. Hör auf damit und erzähl uns von Litvak.«

»Er hat früher für mich gearbeitet«, sagt Hertz. »Viele Jahre lang.«

Seine Stimme wird flach, und Landsman wundert sich, dass sein Onkel wütend ist. Wie allen Shemets wurde Hertz ein heißblütiges Temperament in die Wiege gelegt, aber es war ihm nicht dienlich bei seiner Arbeit, sodass er es irgendwann abtötete.

»Alter Litvak war ein amerikanischer Spion?«, fragt Landsman.

»Nein, war er nicht. Soweit ich weiß, hat der Mann kein offizielles Gehalt bezogen, da er vor fünfunddreißig Jahren unehrenhaft aus der amerikanischen Armee entlassen wurde.«

»Warum bist du so wütend auf ihn?«, fragt Berko und beobachtet seinen Vater durch die Laternenschlitze seiner Augen.

Hertz erschreckt die Frage, er versucht es aber zu verbergen.

»Ich werde nie wütend«, sagt er. »Nur bei dir, mein Sohn.« Er lächelt. »Er geht also immer noch ins Einstein. Das wusste ich nicht. Er war früher eher ein Kartenspieler als ein Patzer. Er war besser in den Spielen, wo man bluffen muss. Täuschen. Tarnen.«

Landsman erinnert sich an die beiden gut aussehenden jungen Männer, die Litvak als seine Neffen vorstellte. Einer davon war im Wald von Peril Strait, das fällt ihm jetzt ein, er fuhr den Ford Caudillo, auf dessen Rücksitz der schattenhafte Mann saß. Der Schatten eines Mannes, der nicht wollte, dass Landsman sein Gesicht sah.

»Er war da«, sagt Landsman zu Berko. »In Peril Strait. Er war der geheimnisvolle Mann im Auto.«

»Was hat Litvak für dich getan?«, fragt Berko. »Die ganzen Jahre lang?«

Hertz zögert, sein Blick irrt zwischen Berko und Landsman hin und her.

»Dies und das. Alles völlig inoffiziell. Er besaß verschiedene nützliche Talente. Alter Litvak ist vielleicht der begabteste Mann, den ich kenne. Er hat ein Gespür für Systeme und Kontrollen. Er ist geduldig und methodisch. Früher war er unglaublich stark. Ein guter Pilot, ein ausgebildeter Mechaniker. Hervorragender Orientierungssinn. Sehr erfolgreich als Lehrer. Als Ausbilder. Scheiße.«

Mit milder Verwunderung blickt er auf die gebrochenen Zigarrenhälften in seinen Händen. Er lässt sie auf den Teller mit dem Soßenrest fallen und breitet eine Serviette über den Beweis seiner Gefühle.

»Der Jid hat mich verraten«, sagt er. »An diesen Journalisten. Jahrelang hat er Beweise gegen mich gesammelt, dann hat er alles an Brennan weitergegeben.«

»Warum hat er das getan?«, sagt Berko. »Wenn er doch dein Jid war?«

»Ich kann deine Frage wirklich nicht beantworten, mein Kind.« Der Alte schüttelt den Kopf, er hasst Rätsel, und vor diesem wird er bis ans Ende seines Lebens stehen. »Geld, obwohl ich nicht gewusst hätte, dass ihm daran etwas liegen könnte. Frömmigkeit ganz bestimmt nicht. Litvak glaubt an nichts. Er hat keine Überzeugungen. Keine Bindungen, außer zu den Männern, die ihm dienen. Er hat gesehen, was passierte, als seine Leute in Washington an die Macht kamen. Er wusste, dass ich abgeschrieben war, ehe ich es selbst merkte. Ich schätze, er fand einfach, die Zeit wäre reif. Vielleicht hatte er keine Lust mehr, für mich zu arbeiten, wollte meine Stelle selbst haben. Auch nachdem die Amis mich abgeschossen und ihren offiziellen Betrieb eingestellt hatten, brauchten sie jemanden in Sitka. Für ihr Geld konnten sie wirklich keinen besseren als Alter Litvak finden. Vielleicht hatte er einfach keine Lust mehr, im Schach gegen mich zu verlieren. Kann sein, dass er eine Chance sah, mir eins auszuwischen, und sie ergriff. Aber er war nie mein Jid. Der dauerhafte Status hat ihm nie etwas bedeutet. Genauso wenig wie die Sache, für die er jetzt arbeitet, da bin ich mir sicher.«

»Die rote Kuh«, sagt Berko kopfschüttelnd.

»Noch mal zu diesem Plan, entschuldige«, sagt Landsman, »aber erklär’s mir mal langsam. Okay, du hast eine rote Kuh ohne jeden Makel. Und irgendwie schaffst du sie rüber nach Jerusalem.«

»Da schlachtest du sie«, sagt Berko. »Du verbrennst sie und machst eine Paste aus der Asche, und davon tupfst du ein bisschen auf die Priester. Sonst können sie nicht ins Heiligtum gehen, in den Tempel, weil sie unrein wären.« Er schaut seinen Vater fragend an. »Stimmt das so weit?«

»Mehr oder weniger.«

»Gut, aber eine Sache verstehe ich nicht. Steht da nicht, wie heißt sie noch gleich?«, sagt Landsman. »Diese Moschee? Auf dem Hügel, wo früher der Tempel war?«

»Das ist keine Moschee, Meyerle. Das ist ein Schrein«, sagt Hertz. »Qubbat as-Sakhra. Der Felsendom. Die drittheiligste Stätte des Islams. Im siebten Jahrhundert von Abd al-Malik an der Stelle errichtet, wo vorher die beiden Tempel der Juden standen. Die Stelle, wo Abraham Isaak opfern wollte, wo Jakob die Himmelsleiter sah. Der Nabel der Welt. Ja. Wenn man den Tempel wieder aufbauen und die alten Rituale wieder einführen will, um die Ankunft von Messias zu beschleunigen, dann müsste man etwas mit dem Felsendom machen. Er steht im Weg.«

»Bomben«, sagt Berko übertrieben lässig. »Sprengstoff. Gehört das zum Programm von Alter Litvak?«

»Zerstörung«, sagt der alte Mann. Er greift nach seinem Glas, aber es ist weg. »Ja, darin ist der Jid Experte.«

Landsman schiebt sich vom Tisch zurück und steht auf. Er holt seinen Hut vom Türhaken.

»Wir müssen zurück«, sagt er. »Wir müssen mit jemandem reden. Wir müssen es Bina sagen.«

Er klappt sein Handy auf, aber so weit weg von Sitka hat er keinen Empfang. Er geht zum Telefon an der Wand, aber Binas Handy leitet ihn sofort weiter an ihre Mailbox.

»Du musst Alter Litvak finden«, teilt er ihr mit. »Such ihn, halt ihn fest und lass ihn nicht mehr gehen.«

Als er sich wieder dem Tisch zuwendet, sitzen Vater und Sohn immer noch da. Ohne ein Wort zu sagen, stellt Berko Hertz Shemets eine wichtige Frage. Berko hat die Hände wie ein braves Kind im Schoß gefaltet, aber er ist kein braves Kind, und wenn er die Hände ineinander verschränkt, dann nur, um sie davor zu bewahren, Unheil oder Schaden anzurichten. Nach einem Zeitraum, der Landsman sehr lang erscheint, senkt Onkel Hertz den Blick.

»Das Gebetshaus in St. Cyril«, sagt Berko. »Die Krawalle.«

»Die Krawalle von St. Cyril«, stimmt Hertz Shemets zu.

»Verdammt nochmal.«

»Berko —«

»Verdammt nochmal! Die Indianer haben immer behauptet, die Juden hätten das Haus in die Luft gejagt.«

»Du musst verstehen, unter welchem Druck wir standen«, sagt Hertz. »Damals.«

»Oh, das tue ich«, sagt Berko. »Glaub mir. Das Gleichgewicht halten. Der schmale Grat.«

»Diese Juden, diese Fanatiker, die in die umstrittenen Gegenden ziehen. Sie gefährden den Status des gesamten Distrikts. Sie verstärken die schlimmsten Ängste der Amerikaner über das, was hier los wäre, wenn sie uns den dauerhaften Status gewähren würden.«

»Aha«, sagt Berko. »Gut. Okay. Und was ist mit Mom? Hat die auch den Distrikt gefährdet?«

Da spricht Onkel Hertz, vielmehr entweicht die Luft seiner Lunge durch die Toröffnung seiner Zähne so, dass es der menschlichen Sprache ähnelt. Er schaut auf seinen Schoß und gibt wieder diesen Laut von sich, und Landsman erkennt, dass er sich entschuldigt. Eine Sprache spricht, in der er nie unterrichtet wurde.

»Weißt du was? Ich glaube, ich habe es immer gewusst«, sagt Berko und steht auf. Er nimmt seinen Hut und Mantel vom Haken. »Weil ich dich noch nie leiden konnte. Von der ersten Minute an nicht, du Schwein. Komm!«

Landsman folgt seinem Kollegen nach draußen. Als er die Tür passiert, muss er zur Seite treten, weil Berko nochmals hineinwill. Berko wirft Hut und Mantel beiseite. Dann schlägt er sich auf den Kopf, zweimal, mit beiden Händen gleichzeitig. Er zerdrückt eine unsichtbare Kugel von der ungefähren Größe des väterlichen Schädels zwischen den ausgestreckten Fingern seiner Hand.

»Mein ganzes Leben lang habe ich’s versucht«, sagt er schließlich. »Ich meine, guck mich doch an, Mann!« Er reißt sich die Jarmulke vom Hinterkopf und hält sie hoch, betrachtet sie mit plötzlichem Entsetzen, als sei es sein eigener Skalp. Dann wirft er sie dem alten Mann zu. Sie trifft Hertz an der Nase und fällt zu der Serviette, der zerbrochenen Zigarre, der Elchsoße auf den Teller. »Guck dir diese Scheiße an!« Berko zerrt an seinem Hemd und reißt es auf. Es regnet Knöpfe. Er entblößt die reizlose weiße Stoffbahn seines gefransten Vier-Ecken wie die dürftigste Splitterschutzweste der Welt, sein heiliges weißes Teflon, verziert mit einem seewesenblauen Streifen. »Ich hasse dieses Scheißteil.« Das Vier-Ecken wandert über seinen Kopf, er zuckt und schüttelt es ab, bis er in einem weißen Baumwollshirt dasteht. »Jeden verfluchten Tag meines Lebens bin ich morgens aufgestanden und hab dieses Scheißteil angezogen und so getan, als wäre ich was, das ich gar nicht bin. Und nie sein werde. Für dich.«

»Ich habe dich nie gebeten, diese Religion auszuüben«, sagt der alte Mann, ohne aufzusehen. »Ich glaube nicht, dass ich je irgendwelchen —«

»Das hat nichts mit Religion zu tun«, sagt Berko. »Es hat nur was mit, verdammt nochmal, mit Vätern zu tun.«

Natürlich hängt es von der Mutter ab, ob man Jude ist oder nicht. Auch Berko weiß das. Er weiß es seit dem Tag, da er nach Sitka zog. Er sieht es jedes Mal, wenn er in den Spiegel schaut.

»Das ist alles Quatsch«, fährt der alte Mann murmelnd fort, halb zu sich selbst. »Eine Religion der Sklaven. Sich selbst fesseln. Knechtschaftskleidung. Ich hab den Quatsch mein Lebtag nicht angezogen.«

»Nein?«, sagt Berko.

Wie schnell und imposant Berko Shemets von der Tür zum Esstisch springt, überrascht Landsman. Bevor er kapiert, was vor sich geht, zieht Berko dem alten Mann die rituelle Unterwäsche über den Kopf. Er klemmt sich dessen Kopf unter den Arm und windet mit der anderen Hand die geknoteten Fransen um den Schädel, bildet die Gesichtskonturen des Alten in feinen Wollfäden nach. Es ist, als würde er eine Statue für den Transport verpacken. Der alte Mann tritt um sich, krallt sich mit den Fingernägeln in der Luft fest.

»Du hast nie eins getragen, was?«, sagt Berko. »Du hast nie so ’n Scheißteil angehabt! Versuch’s mal mit dem! Versuche mal mit meinem, du Wichser!«

»Hör auf!« Landsman eilt dem Mann zu Hilfe, dessen Sucht nach Täuschungs- und Angriffsattacken vielleicht nicht absehbarerweise, doch unmittelbar zum Tod von Laurie Joe Bear führte. »Komm, Berko. Hör auf.« Er greift nach Berkos Ellenbogen und zieht ihn weg, und als er zwischen den beiden steht, schiebt er den großen Mann Richtung Tür.

»Gut.« Berko hebt die Hände und lässt sich von Landsman einen knappen Meter in Richtung Tür schubsen. »Gut, ich bin fertig. Lass mich los, Meyer.«

Landsman entspannt sich, lässt den Kollegen los. Berko stopft sein T-Shirt in die Hose und will sein Hemd zuknöpfen, doch alle Knöpfe sind fort. Er lässt es offen, glättet sein schwarzes Haardach mit seiner breiten Hand, bückt sich, um seinen Hut und Mantel vom Boden aufzuheben, und geht nach draußen. Mit dem Nebel rollt die Nacht in das Stelzenhaus über dem Wasser.

Landsman dreht sich zu dem alten Mann um, der einfach dort sitzt, den Kopf in das Vier-Ecken gewickelt, wie eine Geisel, die nicht die Gesichter ihrer Entführer sehen darf.

»Brauchst du Hilfe, Onkel Hertz?«, fragt Landsman.

»Geht schon«, sagt der alte Mann mit schwacher Stimme, gedämpft durch den Stoff. »Danke.«

»Willst du da einfach so sitzen bleiben?«

Der alte Mann antwortet nicht. Landsman setzt sich den Hut auf und geht nach draußen.

Als sie gerade ins Auto steigen wollen, hören sie den Schuss, ein Donnern, das in der Dunkelheit die Berge kartographiert, sie mit dem zurückgeworfenen Echo erhellt. Dann ist es leise.

»Scheiße«, sagt Berko. Er ist wieder im Haus, noch bevor Landsman die Treppe erreicht hat. Als Landsman hineinläuft, hockt Berko neben seinem Vater, der eine sonderbare Pose vor dem Bett eingenommen hat, die Haltung eines Hürdenläufers, ein Bein an die Brust gezogen, das andere weit nach hinten gestreckt. In seiner Rechten hält er locker einen schwarzen stupsnasigen Revolver, in der linken die rituellen Fransen. Berko dreht seinen Vater auf den Rücken und fühlt am Hals nach dessen Puls. Rechts auf der Stirn des alten Mannes, direkt über dem Augenwinkel, ist ein glitschiger roter Fleck. Mit Blut verklebtes, versengtes Haar. Ein schlechter Schuss, wie es aussieht.

»Oh, Scheiße«, sagt Berko. »Oh, Scheiße, alter Mann. Du hast es verbockt.«

»Er hat es verbockt«, stimmt Landsman ihm zu.

»Alter!«, ruft Berko, und dann senkt er seine Stimme zu einem gutturalen Raspeln und singt etwas, ein Wort oder zwei in einer Sprache, die er längst vergessen hat.

Sie stillen die Blutung und verbinden die Wunde. Landsman sieht sich nach dem Projektil um und findet das Wurmloch, das es in die Sperrholzwand gestanzt hat.

»Wo hat er die denn her?«, fragt Landsman und hebt die Waffe auf. Es ist ein einfaches Exemplar, an den Kanten abgenutzt, ein altes Teil. »Die ‚38 Detective Special?«

»Keine Ahnung. Er hat viele Waffen. Er mag Waffen. Das ist so ungefähr das Einzige, was wir gemein haben.«

»Ich glaube, das könnte der Revolver sein, den Melekh Gaystik im Café Einstein benutzte.«

»Würde mich nicht im Geringsten wundern«, sagt Berko. Er schultert die Last seines Vaters, und sie tragen ihn hinunter zum Auto und legen ihn auf einen Berg von Handtüchern auf den Rücksitz. Landsman stellt die unsichtbare Sirene an, die er in fünf Jahren vielleicht zweimal benutzt hat. Dann fahren sie zurück über den Berg.

In Nayeshtot gibt es ein Notfallversorgungszentrum, aber da sind viele gestorben, deshalb beschließen sie, den Alten ins Allgemeine Krankenhaus von Sitka zu bringen. Auf dem Weg ruft Berko seine Frau an. Er erklärt ihr, nicht besonders verständlich, dass sein Vater und ein Mann namens Alter Litvak indirekt verantwortlich seien für den Tod seiner Mutter bei den schlimmsten indianisch-jüdischen Krawallen in den sechzig Jahren Distriktgeschichte und dass sein Vater sich in den Kopf geschossen habe. Er erzählt ihr, dass sie den alten Herrn jetzt schnell in die Notaufnahme bringen würden, weil er verdammt nochmal Polizist sei und zu arbeiten habe, und weil der alte Herr von ihm aus ruhig verrecken könne. Ester-Malke scheint diesen Plan so hinzunehmen, wie er ihr vorgetragen wird. Berko legt auf. Zehn oder fünfzehn Minuten verschwinden sie in einem Bereich ohne Funkabdeckung, und als sie ihn verlassen, ohne etwas gesagt zu haben, sind sie fast an der Stadtgrenze, und Berkos Shoyfer klingelt.

»Nein«, sagt Berko, und dann, noch wütender: »Nein.« Etwas weniger als eine Minute lang lauscht er der Argumentation seiner Frau. Landsman hat keine Ahnung, was sie zu ihm sagt, ob sie ihm aus dem Lehrbuch professionellen Verhaltens, der Fibel des Anstands und der Vergebung predigt oder aus dem Buch der Pflichten eines Sohnes gegenüber seinem Vater, die alles andere übersteigen und hinter sich lassen. Schließlich schüttelt Berko einfach nur den Kopf. Er schaut auf den alten Juden, der ausgestreckt auf dem Rücksitz liegt. »Na gut.«

Dann klappt er das Telefon zu.

»Du kannst mich am Krankenhaus absetzen«, sagt er in besiegtem Tonfall. »Ruf mich bloß an, wenn du dieses Arschloch von Litvak findest.«

37.

»Ich muss mit Katherine Sweeney sprechen«, sagt Bina ins Telefon. Sweeney, die stellvertretende Staatsanwältin der Vereinigten Staaten, ist ehrlich und kompetent und hört sich möglicherweise an, was Bina zu sagen hat. Landsmans Hand schießt über den Schreibtisch, mit einer Fingerspitze unterbricht er die Verbindung. Bina starrt ihn mit einem langsamen Flügelschlag ihrer Augenlider an. Er hat sie überrascht. Eine seltene Leistung.

»Die stecken dahinter«, sagt Landsman mit dem Finger auf der Taste.

»Kathy Sweeney steckt dahinter?«, fragt Bina, den Hörer noch immer am Ohr.

»Hm, nein. Das glaube ich nicht.«

»Die amerikanische Staatsanwaltschaft in Sitka steckt dahinter?«

»Vielleicht. Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Aber das Justizministerium schon, meinst du.«

»Ja. Ich weiß nicht. Tut mir leid, Bina. Ich weiß einfach nicht, wie weit das geht.«

Binas Überraschung verblasst; ihr Blick ist ruhig und unerschrocken.

»Gut, Meyer. Jetzt hör mir mal zu. Als Erstes nimmst du deinen behaarten Ekelfinger von meinem Telefon.«

Landsman zieht das anstößige Gliedmaß zurück, bevor die Laserstrahlen aus Binas Augen es sauber am Knöchel durchtrennen können.

»Fass nie wieder mein Telefon an, Meyer.«

»Nie wieder.«

»Wenn die Geschichte wahr ist, die du mir da erzählt hast«, sagt Bina mit dem Tonfall eines Lehrers in einem Raum voller unterbelichteter Fünfjähriger, »dann muss ich das Kathy Sweeney sagen. Wahrscheinlich auch dem Außenministerium. Vielleicht muss ich mich sogar ans Verteidigungsministerium wenden.«

»Aber —«

»Ich weiß nämlich nicht, ob dir das bewusst ist, Meyer, aber das Heilige Land gehört nicht zu unserem Bezirk.«

»Sicher, Bina, natürlich. Aber hör zu. Irgendein einflussreicher Mensch, ein Mensch mit sehr viel Einfluss, hat sich an der Datenbank der Flugsicherheitsbehörde zu schaffen gemacht und die Akte verschwinden lassen. Und jemand mit großem Einfluss hat dem Rat der Tlingit versprochen, dass der Stamm den Distrikt zurückbekommt, wenn Litvak eine Weile von Peril Strait aus operieren darf.«

»Hat Dick das gesagt?«

»Er hat es angedeutet. Und bei allem Respekt vor den Lederers aus Boca Raton, aber ich bin mir sicher, dass diese einflussreichen Personen Schecks für die geheime Seite dieser Operation ausgestellt haben. Für die Ausbildungseinrichtung. Für Waffen und Unterhalt. Viehzucht. Die stecken dahinter.«

»Die amerikanische Regierung.«

»Das will ich damit sagen.«

»Weil sie der Meinung ist, es wäre eine richtig gute Idee, wenn eine Horde verrückter Jids in Palästina rumläuft, Schreine in die Luft jagt, Messias folgt und den Dritten Weltkrieg auslöst.«

»Die Regierung ist so irre, Bina. Das weißt du. Vielleicht hofft sie sogar auf den Dritten Weltkrieg. Vielleicht will sie einen neuen Kreuzzug anzetteln. Vielleicht glaubt sie, Jesus kommt zurück, wenn das alles passiert. Oder vielleicht hat es nichts mit alldem zu tun, sondern es geht nur um Öl, wer weiß, um Versorgungssicherheit bis in alle Ewigkeit. Ich weiß es nicht.«

»Eine Regierungsverschwörung, Meyer.«

»Ich weiß, wie sich das anhört.«

»Sprechende Hühner, Meyer.«

»Tut mir leid.«

»Du hast es versprochen.«

»Ich weiß.«

»Wenn du wieder mit deinem Auto anfängst«, sagt sie, »muss ich dir in den Arsch treten. Und wenn du noch einmal mein Telefon anfasst, Meyer, erschieße ich dich.«

Sie greift zum Hörer und ruft die stellvertretende Staatsanwältin an.

»Bina, bitte! Leg den Hörer auf.«

»Ich bin mit dir in vielen dunklen Ecken gewesen, Meyer Landsman«, sagt sie. »Aber in diese komme ich nicht mit.«

Landsman findet, dass er ihr deswegen keinen Vorwurf machen kann.

Als Sweeney ans Telefon geht, informiert Bina sie über die Eckpfeiler von Landsmans Märchen: Ein Verbover und eine Gruppe messianischer Juden haben sich zusammengetan und bereiten ein Attentat auf einen wichtigen muslimischen Schrein in Palästina vor. Das Übernatürliche und die rein spekulativen Elemente lässt Bina aus. Den Tod von Naomi Landsman und Mendel Shpilman erwähnt sie nicht. Sie lässt es gerade so weit hergeholt klingen, dass es noch glaubhaft ist.

»Ich muss sehen, ob wir vielleicht diesen Litvak aufspüren können«, sagt sie zu Sweeney. »Gut, Kathy. Danke. Ich weiß, stimmt. Ich hoffe es.«

Bina legt auf. Sie nimmt eine Schneekugel mit der Skyline von Sitka vom Schreibtisch, schüttelt sie und schaut dem Schneetreiben zu. Alles andere hat sie aus dem Büro entfernt, den Nippes, die Fotos. Nur die Schneekugel ist noch da, und an der Wand hängen gerahmt ihre Schaffelle. Ein Gummibaum, ein Ficus und eine weißgefleckte rosa Orchidee in einem grünen Glastopf. Alles ist noch immer so anziehend wie ein Bus von unten. Mittendrin sitzt Bina in einem neuen grimmigen Hosenanzug, das Haar aufgetürmt und mit Klammern, Gummibändern und anderen nützlichen Utensilien aus ihrer Schreibtischschublade vor der Auflösung bewahrt.

»Sie hat nicht gelacht«, sagt Landsman. »Oder?«

»Dafür ist sie nicht der Typ«, sagt Bina. »Nein, sie will mehr Informationen. Wie dem auch sei, ich hatte das Gefühl, dass sie den Namen Alter Litvak nicht zum ersten Mal hört. Sie meinte, wenn wir ihn finden, würde sie ihn vielleicht auch ganz gerne mal verhören.«

»Buchbinder«, sagt Landsman. »Dr. Rudolf Buchbinder. Du weißt schon, er kam gerade aus dem Polar-Shtern, als du reingingst.«

»Der Zahnarzt unten von der Ibn-Ezra Street?«

»Er hat mir erzählt, er würde nach Jerusalem umziehen«, sagt Landsman. »Ich hab gedacht, er redet wieder Blödsinn.«

»Dieses Institut soundso«, erinnert sich Bina.

»Mit M.«

»Mirjam.«

»Moriah.«

Sie geht an ihren Computer und findet im Verzeichnis der nicht im Telefonbuch gelisteten Nummern einen Eintrag des Instituts Moriah auf der Max Nordau Street 822, sechste Etage.

»Achthundertzweiundzwanzig«, sagt Landsman. »Hm.«

»Ist das nicht in deiner Gegend?« Bina wählt die gefundene Telefonnummer.

»Direkt gegenüber«, sagt Landsman und kommt sich ein wenig dumm vor. »Das Hotel Blackpool.«

»Anrufbeantworter«, sagt sie. Mit einer Fingerspitze unterbricht sie den Anruf und tippt vier Nummern ein. »Gelbfish hier.«

Sie ordnet an, die Türen und Eingänge des Hotel Blackpool von Streifenpolizisten und Zivilbeamten observieren zu lassen.

Dann legt sie den Hörer wieder auf die Gabel und betrachtet ihn.

»Gut«, sagt Landsman. »Gehen wir.«

Aber Bina bewegt sich nicht. Sie sitzt einfach da und starrt auf das Telefon.

»Weißt du, es war schön, ohne deinen ganzen Schwachsinn zu leben, Meyer. Mir nicht vierundzwanzig Stunden am Tag deine Landsmania anhören zu müssen.«

»Ich beneide dich darum«, sagt Landsman.

»Hertz, Berko, deine Mutter, dein Vater. Ihr alle.« Auf Englisch fügt sie hinzu: »Verfluchter Haufen von kranken Spinnern.«

»Ich weiß.«

»Naomi war die einzig Normale in deiner Familie.«

»Das hat sie auch immer über dich gesagt«, sagt Landsman. »Nur meinte sie immer: ›in der Welt‹.«

Zwei kurze Klopfer an der Tür. Landsman steht auf, weil er denkt, es sei Berko.

»Hi«, sagt der Mann an der Tür. »Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen.«

»Wer sind Sie?«, fragt Landsman.

»Ich bin Ihre Beerdigungsgesellschaft«, sagt der Mann in kläglichem, aber kraftvollem Jiddisch.

»Mr. Spade ist hier, um die Übergangsphase zu beaufsichtigen«, sagt Bina. »Ich glaube, ich habe Ihnen gesagt, dass er eventuell vorbeikommt, Detective Landsman.«

»Glaube ich auch.«

»Detective Landsman«, sagt Spade und fällt gnädig ins Englische zurück. »Der berüchtigte.«

Er ist nicht der schmerbäuchige Golfspieler, den Landsman erwartet hat. Er ist zu jung dafür, hat ein schlichtes Gesicht, breite Brust und Schultern. Spade trägt einen grauen Kammgarnanzug, darunter ein weißes Hemd mit einer Krawatte in getüpfeltem Videoblau. Sein Hals ist eine Ansammlung von Rasiernarben und vergessenen Barthaaren. Der sich vorwölbende Adamsapfel deutet auf unergründliche Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit hin. Im Revers trägt Spade eine Anstecknadel in Form eines stilisierten Fisches.

»Wie wäre es, wenn wir uns einmal kurz mit Ihrer Chefin zusammensetzen?«

»Gut«, sagt Landsman. »Aber ich bleibe lieber stehen.«

»Wie Sie wünschen, Detective. Aber wir müssen ja nicht in der Tür stehen bleiben.«

Landsman tritt zur Seite und winkt Spade hinein. Spade schließt die Tür.

»Detective Landsman, ich habe Grund zur Annahme«, beginnt Spade, »dass Sie eine ungenehmigte und — angesichts der Tatsache, dass Sie momentan suspendiert sind —«

»Bei voller Bezahlung«, sagt Landsman.

»— illegale Ermittlung in einem Fall durchführen, der offiziell zu den Akten gelegt wurde. Mit Hilfe von Detective Berko Shemets, ebenfalls ungenehmigt. Und wenn ich raten sollte, würde es mich nicht wundern, wenn sich herausstellte, dass auch Sie ihm geholfen haben, Inspector Gelbfish.«

»Sie ist mir eigentlich nur gehörig auf den Sack gegangen«, sagt Landsman. »Ehrlich gesagt. War überhaupt keine Hilfe.«

»Ich habe gerade die Staatsanwältin angerufen«, sagt Bina.

»Wirklich?«

»Vielleicht übernimmt sie den Fall.«

»Ach ja?«

»Er fällt nicht mehr in meinen Zuständigkeitsbereich. Es hat eine Drohung gegeben. Möglicherweise. Ein Ziel im Ausland wurde bedroht. Von Bewohnern dieses Distrikts.«

»Hm-m!« Spade schaut empört und zufrieden zugleich. »Eine Drohung? Nichts wie weg!«

Eine schwere, kalte Flüssigkeit sickert in Binas Blick, irgendetwas zwischen Quecksilber und Schlamm.

»Ich suche einen Mann namens Alter Litvak«, sagt sie, und eine große Müdigkeit zerrt an den Rändern ihrer Stimme. »Er hat möglicherweise mit dieser Drohung zu tun. Auf jeden Fall möchte ich gerne wissen, was er über den Mord an Mendel Shpilman weiß.«

»Aha«, sagt Spade liebenswürdig und vielleicht ein wenig zu geistesabwesend für jemanden, der vorgibt, sich für das Leben seines Gegenübers in allen Einzelheiten zu interessieren, während er im Internet seines Hirns surft. »Gut, aber, hm, die Sache ist so, Ma’am. In meiner Eigenschaft als — wie heißt das bei Ihnen noch mal? Der Mann von der … ähm … Beerdigungsgesellschaft, der bei dem Toten sitzen bleibt, wenn es ein Jude ist?«

»Den nennt man Schomer«, sagt Bina.

»Gut. In meiner Eigenschaft als Schomer hier vor Ort muss ich sagen: nein. Sie werden diese ganze Angelegenheit und auch Mr. Litvak in Ruhe lassen.«

Bina wartet lange, ehe sie etwas sagt. Die Müdigkeit in ihrer Stimme scheint nun in ihre Schultern, ihren Kiefer, in die Konturen ihres Gesichts zu fließen.

»Sind Sie darin verwickelt, Spade?«, fragt sie.

»Ich persönlich? Nein, Ma’am. Das Übergangsteam? Hm. Der Reversionsausschuss Alaskas? Ganz bestimmt nicht. Es ist so: Ich weiß nicht viel über diese Sache. Und das wenige, was ich weiß, darf ich nicht sagen. Ich bin im Personalmanagement, Inspector Gelbfish. Das ist meine Aufgabe. Und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass, bei allem Respekt, schon zu viele Mittel auf diese Angelegenheit verschwendet wurden.«

»Das sind meine Mittel, Mr. Spade«, sagt Bina. »Zwei Monate kann ich noch mit jedem Zeugen reden, mit dem ich sprechen will. Ich kann verhaften, wen ich verhaften will.«

»Nicht, wenn die Staatsanwaltschaft Sie zurückpfeift.«

Das Telefon klingelt.

»Das ist bestimmt die Staatsanwaltschaft«, sagt Landsman.

Bina nimmt ab.

»Hallo, Kathy«, sagt sie. Eine Minute hört sie schweigend zu. Dann sagt sie: »Ich verstehe«, und legt auf. Ihre Stimme ist ruhig und ausdruckslos. Sie setzt ein angespanntes Lächeln auf und zieht demütig den Kopf ein, als sei sie vernichtend geschlagen worden. Landsman spürt, dass sie ihn absichtlich nicht anschaut, weil sie sonst ein klein wenig aufreißen könnte. Und er weiß, wie erzürnt Bina Gelbfish werden muss, bevor die ersten Tränen rollen.

»Und ich hatte alles so schön in die Wege geleitet«, sagt sie.

»Und ich kann dir sagen, das hier, das war ein Trümmerfeld, als du herkamst«, sagt Landsman.

»Ich wollte Ihnen alles so hübsch überreichen«, sagt Bina zu Spade. »Sauber verpackt. Ohne Krümel. Ohne lose Fäden.«

Sie hatte es so sorgfältig vorbereitet, hatte die Lorbeeren gesammelt, war denjenigen in den Arsch gekrochen, denen man hineinkriechen musste. Hatte die Ställe ausgefegt. Hatte Sitka Central in Geschenkpapier verpackt und sich selbst als dekorative Schleife obendrauf gesetzt.

»Ich hab sogar das scheußliche Sofa rausgeworfen«, sagt sie. »Was zum Teufel ist hier los, Spade?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Ma’am. Und selbst wenn ich es wüsste, würde ich das Gegenteil behaupten.«

»Sie haben nur die Aufgabe sicherzustellen, dass an diesem Ende alles glattläuft.«

»Ja, Ma’am.«

»Und das andere Ende ist Palästina.«

»Ich weiß nicht viel über Palästina«, sagt Spade. »Ich komme aus Lubbock. Aber meine Frau ist aus Nacogdoches, das ist rund vierzig Meilen von der Stadt Palestine entfernt.«

Einen Augenblick schaut Bina ihn ausdruckslos an, dann erröten ihre Wangen, als sie versteht.

»Stehen Sie hier nicht herum und reißen Witze«, sagt sie. »Wagen Sie es nicht!«

»Nein, Ma’am«, sagt Spade, und jetzt ist es an ihm, ein wenig rot zu werden.

»Ich nehme meine Arbeit sehr ernst, Mister Spade. Und es wäre besser, das sage ich Ihnen, wenn Sie mich verdammt nochmal auch ernst nehmen würden.«

»Ja, Ma’am.«

Bina erhebt sich hinter dem Schreibtisch und nimmt ihren orangefarbenen Parka vom Haken.

»Ich werde Alter Litvak holen. Ihn vernehmen. Ihn möglicherweise verhaften. Wenn Sie mich aufhalten wollen, dann versuchen Sie es doch.« Mit schnaubendem Parka rauscht sie an dem völlig überrumpelten Spade vorbei. »Aber wenn Sie versuchen mich aufzuhalten, wird bei Ihnen nichts mehr glattlaufen. Das verspreche ich Ihnen.«

Und damit ist sie weg, eine Sekunde lang. Dann steckt sie den Kopf durch die Tür, zieht ihre grelle Jacke über.

»Hey, Jid«, ruft sie Landsman zu. »Ich könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen.«

Landsman setzt seinen Hut auf und folgt ihr. Auf dem Weg nach draußen nickt er Spade zu.

»Lobe den Herrn«, sagt Landsman.

38.

Das Institut Moriah ist der einzige Mieter im sechsten und obersten Stockwerk des Hotel Blackpool. Der Korridor ist frisch gestrichen, auf dem Boden liegt ein makelloser malvenfarbener Teppich. Am hinteren Ende neben der Tür von 606 nennen kleine schwarze Buchstaben auf einem unauffälligen Messingschild den Namen des Instituts auf Englisch und Jiddisch, darunter steht in Großbuchstaben: SOL UND DOROTHY ZIEGLER CENTER. Bina drückt auf eine Klingel. Sie blickt ins Objektiv der Sicherheitskamera, die auf die beiden herabschaut.

»Du erinnerst dich an die Abmachung«, sagt Bina zu Landsman. Es ist keine Frage.

»Ich soll den Mund halten.«

»Das ist nur ein kleiner Teil davon.«

»Ich bin nicht mal hier. Ich existiere gar nicht.«

Sie klingelt erneut, und als sie gerade die Hand zum Klopfen heben will, öffnet Buchbinder die Tür. Er trägt eine andere riesige kornblumenblaue Sweatshirtjacke mit blassgrünen und lachsroten Punkten, dazu weite Chinos und ein Sweatshirt der Bronfman University. Er hat Tinten- oder Fettflecken im Gesicht und an den Händen.

»Inspector Gelbfish«, sagt Bina und zeigt ihm ihren Ausweis. »Sitka Central. Ich suche Alter Litvak. Ich habe Grund zur Annahme, dass er sich hier aufhält.«

Ein Zahnarzt ist in der Regel kein Mann der Tücke. An Buchbinders Gesicht lässt sich klar und deutlich ablesen, dass er mit ihnen gerechnet hat.

»Es ist schon sehr spät«, versucht er es. »Wenn Sie nicht —«

»Alter Litvak, Dr. Buchbinder, ist er hier?«

Landsman sieht, wie Buchbinder mit der Mechanik, der Flugbahn und der Windscherung einer Lüge ringt.

»Nein. Nein, er ist nicht hier.«

»Wissen Sie, wo er ist?«

»Nein. Nein, Inspector, das weiß ich nicht.«

»Aha. Gut. Könnte es sein, dass Sie mich belügen, Dr. Buchbinder?«

Es folgt eine kurze, schwere Pause. Dann schlägt Buchbinder ihnen die Tür vor der Nase zu. Bina klopft, ihre Faust der unermüdliche Schnabel eines Baumspechts. Kurz darauf öffnet Buchbinder wieder die Tür, lässt schnell sein Shoyfer in der Jackentasche verschwinden. Er nickt, und Wangen, Kiefer und das Zwinkern in seinen Augen machen einen freundlichen Anschein. Jemand hat einen kleinen Trichter geschmolzenen Eisens in sein Rückgrat gegossen.

»Kommen Sie doch herein!«, sagt er. »Mr. Litvak empfängt sie. Er ist oben.«

»Ist das hier nicht das oberste Stockwerk?«, fragt Bina.

»Es gibt noch eine Dachwohnung.«

»Absteigen haben so was nicht«, sagt Landsman. Bina wirft ihm einen Blick zu. Er soll unsichtbar, unhörbar sein, ein Geist.

Buchbinder senkt die Stimme. »Ich nehme an, da hat früher der Hausmeister gewohnt. Aber die Wohnung ist renoviert worden. Hier entlang, bitte, es gibt eine Hintertreppe.«

Die Innenwände sind herausgerissen worden, Buchbinder führt sie durch die Galerie des Ziegler Centers. Es ist ein kühler, dunkler, jüngst weiß gestrichener Raum, ganz anders als der schmuddelige ehemalige Papierwarenladen auf der Ibn-Ezra Street. Das Licht stammt von Glas- oder Plexiglaswürfeln, die auf viereckigen, mit Teppich bespannten Säulen stehen. Jeder Würfel stellt ein Objekt zur Schau, einen silbernen Löffel, eine Kupferschale, ein unerklärliches Kleidungsstück, das aussieht, als sei es in einer Weltraumoper vom sorvoldanischen Botschafter getragen worden. Es müssen weit über hundert Ausstellungsstücke sein, viele davon mit Gold und Edelsteinen verziert. Jedes verkündet den Namen der amerikanischen Juden, durch deren Großzügigkeit die Herstellung ermöglicht wurde.

»Sie haben es weit gebracht«, sagt Landsman.

»Ja, es ist herrlich«, sagt Buchbinder. »Ein Wunder.«

Ein Dutzend großer Lattenkisten steht am hinteren Ende des Raumes, Locken von Kiefernspänen quillen aus ihnen hervor. Aus der Holzwolle ragt ein zierlicher, mit Gold ziselierter Silbergriff. Auf einem großen flachen Tisch in der Mitte des Raumes verschluckt das maßstabsgetreue Modell eines steingefurchten, nackten Hügels das Licht von einem Dutzend Halogenstrahlern. Die Bergspitze, wo Isaak darauf wartete, dass sein Vater ihm den Lebensmuskel aus dem Leib riss, ist so flach wie ein Platzdeckchen. An den Hängen finden sich Steinhäuser, Steingassen, kleine Oliven- und Zypressenbäume mit struppigem Laub. Winzige, in Minigebetsschals gehüllte Juden betrachten die Leere auf der Bergspitze, so als veranschaulichten oder demonstrierten sie das Prinzip, dass jeder Jude seinen persönlichen Messias hat, der nie kommt, denkt Landsman.

»Ich sehe den Tempel nicht«, sagt Bina in einem Ton, als würde sie lieber den Mund halten.

Buchbinder stößt ein sonderbares Grunzen aus, animalisch und zufrieden. Mit der Schuhspitze drückt er auf eine Taste im Boden. Es gibt ein sanftes Klicken, dann summt ein kleiner Ventilator. Und dann kehrt der maßstabsgetreu nachgebaute Tempel — errichtet von Salomon, zerstört von den Babyloniern, wieder aufgebaut und umgestaltet vom König Judäas, der Christus zum Tode verurteilte, zerstört von den Römern, versiegelt und bebaut von den Abbasiden — zurück an seinen rechtmäßigen Platz am Nabel der Welt. Die Technik, die diese Erscheinung möglich macht, verleiht dem Modell ein wundersames Leuchten. Der Tempel schimmert wie eine Fata Morgana. In seiner praktischen Ausführung zeugt der Dritte Tempel von zurückhaltender Steinmetzkunst mit seinen Kuben, Säulen und windigen Plazas. Hier und dort verleiht ihm ein gemeißeltes sumerisches Ungeheuer eine Spur Urtümlichkeit. Dies ist der Zettel, den Gott den Juden in die Hand gab, denkt Landsman, das Versprechen, dessentwegen wir ihm seither auf den Geist gehen. Der Turm, der sich im Endspiel der Welt um den König kümmert.

»Und jetzt lassen wir die Puff-Puff-Eisenbahn fahren«, sagt Landsman.

Hinten im Raum befindet sich eine schmale Treppe, an einer Seite frei, an der anderen gegen die Wand gedrückt. Sie führt hinauf zu einer schwarzlackierten Stahltür. Buchbinder klopft vorsichtig an.

Der junge Mann, der die Tür öffnet, ist einer der Großneffen aus dem Einstein, der Fahrer des Caudillo, der schwere, breitschultrige Amerikaner mit dem rosa Nacken.

»Ich glaube, Mr. Litvak erwartet mich«, sagt Bina fröhlich. »Ich bin Inspector Gelbfish.«

»Sie haben fünf Minuten«, sagt der junge Mann in zweckmäßigem Jiddisch. Er kann nicht älter als zwanzig sein. Sein linkes Auge ist nach innen gerichtet, auf seinen Babywangen sind mehr Aknenarben als Barthaare. »Mr. Litvak ist ein viel beschäftigter Mann.«

»Und wer sind Sie?«

»Sie können mich Micky nennen.«

Sie tritt auf ihn zu und reckt ihr Kinn gegen seine Kehle.

»Micky, ich weiß, dass mich das in deinen Augen zu einem schlechten Menschen macht, aber mir ist wirklich egal, wie beschäftigt Mr. Litvak ist. Ich rede so lange mit ihm, wie ich es für richtig halte. Jetzt bring mich zu ihm, mein Süßer, sonst wirst du für sehr lange Zeit überhaupt keine Beschäftigung mehr haben.«

Micky wirft Landsman einen Blick zu, der besagt Wow, ist die hart. Landsman tut so, als verstehe er nicht.

»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagt Buchbinder und verbeugt sich vor allen. »Ich habe noch sehr viel zutun.«

»Wollen Sie irgendwohin, Doktor?«, fragt Landsman.

»Ich habe Ihnen das bereits erklärt«, sagt der Zahnarzt. »Vielleicht sollten Sie sich so was besser aufschreiben.«

Das Penthouse auf dem Hotel Blackpool ist nichts Besonderes. Ein Zweizimmerapartment. Im vorderen Raum befinden sich eine Schlafcouch, eine Bar mit fließendem Wasser und ein Minikühlschrank, ein Sessel und sieben junge Männer mit dunklen Anzügen und schlechten Frisuren. Die Betten sind weggeklappt, aber man riecht, dass in diesem Raum junge Männer geschlafen haben, vielleicht tatsächlich sieben. Ein biesenbesetztes Bettlaken späht aus dem Ritz eines Sitzkissens wie ein im Reißverschluss gefangener Hemdschoß.

Die jungen Männer sitzen vor einem besonders großen Fernseher, in dem Satellitennachrichten laufen. Auf dem Bildschirm gibt der Premierminister der Mandschurei gerade fünf mandschurischen Astronauten die Hand. Die Kiste, in der der Fernseher geliefert wurde, steht neben seinem ehemaligen Inhalt auf dem Boden. Flaschen mit Energiegetränken und Tüten mit Sonnenblumenkernen stehen auf dem Couchtisch neben Verwehungen von Sonnenblumenschalen. Landsman kann drei automatische Pistolen ausmachen, zwei im Hosenbund, eine in einem Socken. Vielleicht den Kolben einer vierten unter einem Oberschenkel. Niemand freut sich, die Polizeibeamten zu sehen. Ganz im Gegenteil wirken die jungen Männer mürrisch, gereizt. Bestrebt, irgendwo anders zu sein, nur nicht hier.

»Zeigen Sie uns Ihren Durchsuchungsbeschluss.« Das ist Gold, die angespitzte kleine Feile von Mexikaner aus Peril Strait. Er schält sich von der Couch und kommt auf Bina und Landsman zu. Als er Landsman erkennt, hebt sich seine durchgehende Augenbraue an ihrem Scheitelpunkt. »Madam, der da hat kein Recht, hier zu sein. Schicken Sie ihn raus.«

»Immer mit der Ruhe«, sagt Bina. »Wie heißen Sie?«

»Das ist Gold«, sagt Landsman.

»Ah so. Gold, sehen Sie mal: Ihr seid zu eins, zwei, drei, zu siebt. Wir sind zu zweit.«

»Ich bin nicht mal da«, sagt Landsman. »Ich bin nur eine Illusion.«

»Ich bin hier, um mit Alter Litvak zu sprechen, und dafür brauche ich kein Blatt Papier, mein Schejner. Selbst wenn ich ihn verhaften wollte, könnte ich den Beschluss immer noch nachreichen.« Sie wirft Gold ihr gewinnendes, leicht angestaubtes Lächeln zu. »Ehrlich.«

Gold zögert. Er will die Sache mit seinen sechs Kameraden besprechen, will wissen, was er ihrer Meinung nach tun soll, aber irgendetwas an seinem Vorhaben oder am Leben im Allgemeinen erscheint ihm sinnlos. Er geht zur Schlafzimmertür und klopft. Auf der anderen Seite gibt ein zerlöcherter Dudelsack ein ersterbendes Keuchen von sich.

Der Raum ist so spartanisch und aufgeräumt wie Hertz Shemets’ Hütte, bis hin zum Schachbrett. Kein Fernseher. Kein Radio. Nur ein Stuhl und ein Bücherregal und ein Klappbett in der Ecke. Ein bis zum Boden reichendes Stahlrollo klappert im Wind des Golfes. Litvak sitzt auf dem Bett, die Knie zusammengedrückt, ein aufgeschlagenes Buch im Schoß, und trinkt durch einen knickbaren grünen Strohhalm eine Art Vitaminshake aus einer Dose.

Als Bina und Landsman eintreten, stellt Litvak die Dose ins Bücherregal neben seinen Block mit marmoriertem Papier. Er legt einen Faden in das Buch und klappt es zu. Landsman sieht, dass es eine alte Hardcoverausgabe von Tarrasch ist, wahrscheinlich 300 Schachpartien. Dann blickt Litvak auf. Seine Augen sind zwei glanzlose Pennys. Sein Gesicht besteht aus Höhlen und Vorsprüngen, ein Kommentar im gelben Leder seines Schädels. Er wartet, als seien sie gekommen, um ihm einen Kartentrick vorzuführen. Mit seinem schwer lesbaren großväterlichen Gesichtsausdruck ist er bereit, enttäuscht zu werden und sich gleichzeitig erfreut zu geben.

»Ich bin Bina Gelbfish. Sie kennen Meyer Landsman.« Ich kenne dich auch, sagen die Augen des alten Mannes.

»Reb Litvak kann nicht sprechen«, sagt Gold. »Er hat einen verkrüppelten Kehlkopf.«

»Verstehe«, sagt Bina. Sie mustert die Schäden, die Zeit, Verletzungen und Physik dem Mann zugefügt haben, mit dem sie vor siebzehn, achtzehn Jahren auf der Hochzeit von Landsmans Cousine Shefra Sheynfeld eine Rumba tanzte. Ihr forsches Lady-Schammes-Auftreten hat sie abgelegt, ohne es aufgegeben zu haben. Aufgeben tut sie es nie. Vielleicht schiebt sie es ins Holster, entsichert es, eine Hand mit angewinkelten Fingern an der Hüfte. »Mr. Litvak, ich habe von meinem Detective hier ein paar ziemlich wilde Geschichten über Sie gehört.«

Litvak greift zu seinem Block, auf dem quer die schlanke ebenholzschwarze Zigarre seines Waterman liegt. Er schlägt den Block mit den Fingern einer Hand auf, legt ihn auf sein Knie und studiert Bina so, wie er das Schachbrett im Einstein-Club studierte, sucht nach einer Eröffnung, sieht zwanzig Möglichkeiten, eliminiert neunzehn. Er schraubt seinen Füller auf. Er ist auf der allerletzten Seite. Er schreibt.

Sie machen sich nichts aus wilden Geschichten

»Ja, Sir, das stimmt. Ich bin schon seit vielen Jahren bei der Polizei und kann an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft eine wilde Geschichte über den Hergang eines Falls sich hinterher als nützlich oder wahr entpuppt hat.«

Hartes Los — sich einfache Erklärungen in einer Welt voller Juden zu wünschen

»Zugegeben.«

Also schweres Schicksal ein jüdischer Polizist zu sein

»Mir gefällt’s«, sagt Bina schlicht und gefühlvoll. »Es wird mir fehlen, wenn es vorbei ist.«

Litvak zuckt mit den Schultern, wie um anzudeuten, dass er sein Beileid ausdrücken würde, wenn er nur könnte. Seine harten, hellen, rotgeränderten Augen gleiten zur Tür und stellen Gold mit einer erhobenen Augenbraue eine Frage. Gold schüttelt den Kopf und geht dann wieder Fernsehen gucken.

»Ich nehme an, es ist nicht leicht«, sagt Bina. »Aber nehmen wir mal an, Sie erzählen uns, was Sie über Mendel Shpilman wissen, Reb Litvak.«

»Und über Naomi Landsman«, fügt Landsman hinzu.

Wenn Sie glauben ich hätte Mendel getötet haben Sie genauso wenig Ahnung wie er

»Ich glaube überhaupt nichts«, sagt Bina.

Ihr Glück

»Das ist ein Talent von mir.«

Litvak schaut auf die Uhr und gibt ein brüchiges Geräusch von sich, das Landsman für einen geduldigen Seufzer hält. Er schnippt mit den Fingern. Als Gold sich zu ihm umdreht, winkt er mit seinem vollgeschriebenen Block. Gold geht ins Vorderzimmer und kehrt mit einem neuen Block zurück. Er durchquert den Raum und reicht ihn Litvak mit einem Blick, der dem Alten anbietet, die störenden Gäste mit einer Vielzahl interessanter Methoden zu dispensieren oder zu entsorgen. Litvak schickt den Jungen fort, wedelt ihn mit der Hand zurück zur Tür.

Dann rutscht er zur Seite und klopft auf den geräumten Platz neben sich. Bina öffnet den Reißverschluss ihres Parkas und setzt sich. Landsman zieht den Wiener Stuhl heran. Litvak schlägt den Block auf der ersten, jungfräulichen Seite auf.

Jeder Messias versagt, schreibt Litvak, sobald er versucht sich selbst zu erlösen

39.

Sie hatten einen eigenen Piloten, einen guten, einen Veteran aus Kuba namens Frum, der im Pendelverkehr von Sitka flog. Frum hatte in Matanzas und im blutigen Debakel von Santiago unter Litvak gedient. Er war gleichzeitig gläubig und ohne eine Spur von Glauben, eine Kombination von Charakterzügen, die Litvak schätzte, da er oft gezwungen war, sich auf allen Seiten mit der manchmal vorsätzlichen Treulosigkeit von Gläubigen herumzuschlagen. Der Pilot Frum glaubte nur das, was sein Armaturenbrett ihm sagte. Er war sachlich, akribisch, fachkundig, ruhig, hart. Wenn er eine Ladung Rekruten in Peril Strait absetzte, verließen die Jungs Frums Flugzeug mit einer gewissen Ahnung, was für eine Art Soldat sie werden wollten.

Schickt Frum, schrieb Litvak, als sie vom Sachbearbeiter Mr. Cashdollar die Nachricht von einer wunderbaren Geburt in Oregon erhielten. Frum flog an einem Dienstag los. Am Mittwoch — wie soll das reiner Zufall sein, würden die Gläubigen sagen — stolperte Mendel Shpilman in Buchbinders Kuriositätenkabinett im sechsten Stock des Hotel Blackpool und sagte, er wäre bei seinem letzten Segensspruch angekommen und bereit, den an sich selbst zu verschwenden. Inzwischen befand sich der Pilot Frum schon tausend Meilen weiter auf einer Ranch vor Corvallis, wo Fligler und Cashdollar, eingeflogen aus Washington, Probleme hatten, sich mit dem Züchter des magischen roten Tieres auf einen Preis zu einigen.

Es gab natürlich noch andere Piloten, die Shpilman nach Peril Strait hätten fliegen können, aber es waren Außenstehende oder junge Gläubige. Einem Außenstehenden konnte man nicht vertrauen, und Litvak sorgte sich, Shpilman könne für einen jungen Gläubigen eine Enttäuschung sein. Dann würden die bösen Zungen loslegen. Shpilman sei in einem sehr schlechten Zustand, wie Dr. Buchbinder sagte. Er sei aufgekratzt und mürrisch oder schläfrig und teilnahmslos und wiege nur noch fünfundfünfzig Kilo. Wirklich, als Tzaddik mache er nicht mehr viel her.

Innerhalb einer so kurzen Frist fiel Litvak nur ein anderer Pilot ein, eine Person, die ebenfalls gänzlich ohne Glauben war, aber diskret und zuverlässig. Außerdem hatte sie eine alte Verbindung zu Litvak, auf die er seine Hoffnungen zu setzen wagte. Zuerst versuchte er, den Namen aus seinem Kopf zu verbannen, aber er kehrte immer wieder. Er hatte Angst, Shpilman wieder zu verlieren, wenn er zu lange zögerte; schon zweimal hatte der Jid das Versprechen gebrochen, sich von Dr. Roboy in Peril Strait behandeln zu lassen. Deshalb ließ Litvak diesen ungläubigen, zuverlässigen Piloten auftreiben und bot ihm einen Auftrag an. Der Pilot, eine Frau, war einverstanden, forderte aber tausend Dollar mehr, als Litvak eigentlich hatte zahlen wollen.

»Eine Frau«, sagte der Arzt und setzte seinen Königsturm, ein Zug, der ihm keinen für Litvak erkennbaren Vorteil brachte. Nach Litvaks wohlüberlegter Meinung hatte Dr. Roboy ein Laster, das vielen Gläubigen eigen war: Er war ganz Strategie und null Taktik. Er neigte dazu, sich nur um der Bewegung willen zu bewegen, war zu sehr auf das Ziel konzentriert, um sich mit dem Weg dorthin zu beschäftigen. »Hier. An diesem Ort.«

Sie saßen im Büro im ersten Stock des Hauptgebäudes mit Blick auf die Meerenge, auf das indianische Dorfgesindel mit seinen Netzen und dem gesprungenen Plankenweg, auf den ins Meer ragenden Finger des brandneuen Anlegers für das Wasserflugzeug. Es war Roboys Büro, in der Ecke stand ein Schreibtisch für Moish Fligler, falls er einmal da war und länger an einem Tisch gehalten werden konnte. Alter Litvak verzichtete lieber auf den Luxus von Schreibtisch, Büro und Heim. Er schlief in Gästezimmern, Garagen, auf der Couch fremder Menschen. Sein Schreibtisch war ein Küchentisch, sein Büro das Übungsgelände, der Schachclub Einstein oder das Hinterzimmer des Instituts Moriah.

Wir haben hier Männer, die nicht so männlich sind wie sie, schrieb Litvak in seinen Block, Ich hätte die Frau längst engagieren sollen

Er schnappte sich Roboys letzten Läufer und schlug damit eine plötzliche Bresche in die Mitte der weißen Figuren. Er sah, dass er Roboy auf zwei verschiedenen Wegen in vier Zügen mattsetzen konnte. Der greifbare Sieg machte ihn überdrüssig. Er fragte sich, ob er sich jemals wirklich etwas aus Schach gemacht hatte. Litvak griff zu seinem Stift und verfasste eine Beleidigung, obwohl es sich in den letzten fünf Jahren als unmöglich erwiesen hatte, Roboy zu provozieren.

Wenn wir hundert solcher Frauen hätten würde ich Ihnen jetzt auf einer Terrasse über dem Ölberg die Fresse polieren

»Hm«, sagte Dr. Roboy, befingerte einen Bauern und beobachtete Litvaks Gesicht, während Litvak in den Himmel blickte.

Dr. Roboy saß mit dem Rücken zum Fenster, eine dunkle, das Schachbrett umklammernde Parenthese, das lange, vorspringende Gesicht erschöpft vom Bemühen, die Trostlosigkeit seiner unmittelbaren Schachzukunft zu erraten. Der Westhimmel hinter ihm war ein Gemisch aus Marmelade und Rauch. Die zerdrückten Berge, die grünen Falten, die schwarz wirkten, und das Purpur, das schwarz wirkte, dazu die leuchtend blauen Spalten weißen Schnees. Im Südwesten ging der Vollmond früh auf, scharf geschnitten und grau, er sah aus wie ein in den Himmel geklebtes, hochaufgelöstes Schwarzweißfoto seiner selbst.

»Jedes Mal, wenn Sie aus dem Fenster gucken«, sagte Roboy, »denke ich, jetzt ist er da. Hören Sie doch bitte auf damit. Sie machen mich ganz nervös.« Er legte seinen König hin, schob sich vom Schachbrett fort und entfaltete Gelenk um Gelenk seines langen Heuschreckenkörpers. »Ich kann nicht spielen, tut mir leid. Sie haben gewonnen. Ich bin zu aufgedreht.«

Er begann, im Büro auf und ab zu laufen.

Ich verstehe nicht warum Sie sich solche Sorgen machen Sie haben die einfache Aufgabe

»Ach ja?«

Sie müssen nur ihn erlösen, er ganz Israel

Roboy blieb stehen und drehte sich zu Litvak um, der seinen Stift beiseiteschob und sich anschickte, die Schachfiguren in das Ahornkästchen zurückzulegen.

»Dreihundert junge Männer sind bereit, für ihn zu sterben«, sagte Roboy verdrießlich. »Dreißigtausend Verbover werden ihr Leben und ihr Glück auf diesen Mann setzen. Heimatlos werden, ihre Familien gefährden. Wenn noch mehr folgen, reden wir über Millionen. Ich bin froh, dass Sie darüber Witze reißen können. Ich bin froh, dass es Sie nicht nervös macht, aus dem Fenster zu schauen, den Himmel zu beobachten und zu wissen, dass er nun endlich unterwegs ist.«

Litvak unterbrach sich beim Einräumen der Figuren und schaute wieder aus dem Fenster: Kormorane, Möwen und ein Dutzend phantasievoller Varianten der gemeinen Ente, die keinen Namen auf Jiddisch haben. Jeden Moment mochte man eine von ihnen mit ausgebreiteten Flügeln vor der untergehenden Sonne für die herannahende Piper Super Cub halten, die tief von Südwesten kam. In den Himmel zu schauen, machte auch Litvak nervös. Doch das Projekt war per definitionem keines, das Männer mit einer Vorliebe fürs Warten anzog.

Ich hoffe wirklich, er ist der T h-D

»Nein, das hoffen Sie nicht«, sagte Roboy. »Das ist gelogen. Sie machen einfach nur mit. Weil es eine Herausforderung ist.«

Nach dem Autounfall, der Litvak Frau und Stimme raubte, war es Dr. Rudolf Buchbinder gewesen, der verrückte Zahnarzt von der Ibn-Ezra Street, der Litvaks Kiefer wieder aufgebaut und das Mauerwerk mit Acryl und Titan restauriert hatte. Und als Litvak feststellte, dass er abhängig von Schmerzmitteln war, war es ebenfalls der Zahnarzt gewesen, der ihn zur Behandlung an seinen alten Freund Dr. Max Roboy verwies. Als Cashdollar seinen Mann in Sitka Jahre später um Hilfe bat, die göttlich inspirierte Mission des amerikanischen Präsidenten zu erfüllen, dachte Litvak sofort an Buchbinder und Roboy.

Deutlich länger hatte es gedauert, hatte Litvak buchstäblich seine letzte Unze Chuzpe gekostet, Heskel Shpilman ins Boot zu bekommen. Endloses Pilpul und Geschacher über Baronshteyn. Erbitterter Widerstand der Karrieristen im Justizministerium, die in Shpilman und Litvak — zu Recht — einen Warlord und seinen Henker sahen. Nach Monaten voller Absagen und falschem Alarm dann schließlich das Treffen mit dem gewaltigen Mann in der Badeanstalt auf der Ringelblum Avenue.

Ein Dienstagmorgen, Schneeflocken fielen in matschigen Spiralen vom Himmel, zehn Zentimeter frischer Schnee auf dem Boden. Zu neu, zu früh für den Pflug. An der Ecke von Ringelblum und Glatshteyn Avenue stand ein Maronenverkäufer mit einem verschneiten roten Schirm, seine Röstkiste glühte und zischte, die parallelen Furchen seiner Räder rahmten seine verwischten Fußspuren ein. Es war so still, dass man die Uhrwerke in den Ampelanlagen ticken und den Pager an der Hüfte des Bewaffneten neben der Tür vibrieren hören konnte. Zwei Bewaffnete. Diese großen roten Bären, die sich die Verbover halten, um den massigen Körper ihres Rebbe zu bewachen.

Während die Rudashevsky-Biks an der Tür Litvak die Betontreppe mit den Vinylstufen hinauf, und dann den schachtgleichen Korridor zur Eingangstür des Bades entlangführen, wölbten sich ihre zur Faust geballten Gesichter um ein kleines Licht. Übermut, Mitleid und das Frohlocken eines Witzbolds, eines Folterers, eines Priesters, der sich bereit macht, den Kannibalengott zu enthüllen. Was den uralten russischen Kassierer in seinem Metallverschlag oder den untersetzten Wärter in seinem Bunker voll weißer Handtücher betraf — diese Jids hatten keine Augen, soweit Litvak bekannt war. Sie hielten die Köpfe gesenkt, geblendet von Angst und Vorsicht. Sie waren irgendwo anders, tranken Kaffee im Polar-Shtern, waren noch zu Hause im Bett bei ihrer Frau. Zu dieser Stunde war die Badeanstalt noch gar nicht geöffnet. Es war niemand da, überhaupt keiner, und der Wärter, der Litvak über den Tresen zwei verschlissene Handtücher zuschob, war ein Geist, der einem Toten ein gewundenes Laken reichte.

Litvak zog sich aus und hängte seine Kleidung an zwei Stahlhaken. Er konnte die Gezeitenströmung der Badeanstalt riechen, Chlor und Achselschweiß und schweren Salzdampf, der beim zweiten Nachdenken auch von der Einmachfabrik im Erdgeschoss stammen mochte. Für ihn hatte es nichts Peinigendes, sich nackt zu zeigen, falls das die Absicht gewesen sein sollte. Er hatte zahlreiche Narben, einige davon waren furchtbar, sie verfehlten nicht ihre Wirkung. Er hörte ein tiefes Pfeifen von einem der beiden Rudashevskys in der Umkleidekabine. Litvaks Körper war ein von Schmerz und Gewalt beschriebenes Pergament, das sie nur ansatzweise exegetisch behandeln konnten. Er zog seinen Block aus der Tasche seiner Jacke, die am Haken hing.

Gefalle ich euch?

Die Rudashevkys konnten sich nicht auf eine gemeinsame Antwort einigen. Der eine nickte, der andere schüttelte den Kopf. Dann tauschten sie die Reaktionen, ohne dass es einen von ihnen befriedigt hätte. Schließlich gaben sie es auf und schickten Litvak durch die vernebelte Glastür in den Dampfraum zum Treffen mit dem von ihnen gehüteten Körper.

Jener Körper in seinem Schrecken oder seiner Herrlichkeit, nackt wie ein gewaltiger blutunterlaufener Augapfel ohne Augenhöhle. Litvak hatte ihn zuvor nur einmal gesehen, vor Jahren, gekrönt mit einem Filzhut und wie ein Tabakklumpen aus Pinar del Rio in einen steifen schwarzen Mantel gerollt, der über die Spitzen seiner schicken schwarzen Stiefel schwang. Nun ragte er schwer aus dem Dampf hervor, eine mit einer Flechte schwarzen Haares überzogene Platte nassen Kalksteins. Litvak fühlte sich wie ein Flugzeug, das in den Nebel steuert und vom Aufwind überraschend gegen eine Bergflanke gedrückt wird. Der Bauch schwanger mit Elefantendrillingen, die Brüste schwer hängend, jeweils mit der rosa Linse einer Brustwarze versehen. Die Oberschenkel zwei große, handgerollte, marmorierte Halva-Laibe. Im Schatten dazwischen ein dicker Nabel aus gräulich braunem Fleisch.

Litvak senkte die unisolierte Rüstung seines Körpers auf das heiße Fliesengitter gegenüber dem Rabbi. Als er damals Shpilman auf der Straße begegnet war, hatten die Augen des Mannes in dem Schattenreich gelegen, das die Sonnenuhr seiner Hutkrempe warf. Jetzt waren sie auf Litvak und seinen verwüsteten Körper gerichtet. Es waren freundliche Augen, dachte Litvak, oder aber Augen, deren Dienstherr sie in den Vorzügen der Freundlichkeit geschult hatte. Sie studierten Litvaks Narben, den gerunzelten purpurnen Mund auf seiner rechten Schulter, die samtroten Striemen auf seiner Hüfte, die Delle in seinem linken Oberschenkel, in die man eine Unze Gin gießen konnte. Die Augen des Rebbe entboten Mitleid, Beachtung, ja, Dankbarkeit. Der Krieg in Kuba war berüchtigt gewesen für seine Sinnlosigkeit, Brutalität und Verschwendung. Die Veteranen hatte man bei ihrer Rückkehr gemieden. Niemand hatte ihnen Vergebung, Verständnis oder eine mögliche Heilung angedeihen lassen. Heskel Shpilman bot Litvak und seinem kriegszerfressenen Balg all das zusammen.

»Die Art Ihrer Behinderung«, sagte der Rebbe, »wurde mir erklärt, sowie der Inhalt Ihres Angebots.« Seine vom Dampf und den Porzellankacheln gedämpfte, mädchenhafte Stimme schien nicht aus der Kesselpaukenbrust zu kommen. »Ich sehe, dass Sie trotz meiner klaren Anweisung, nichts bei sich zu tragen, Ihren Block und Stift mitgebracht haben.«

Litvak hielt die dampfbeperlten beanstandeten Gegenstände hoch. Er fühlte die Verwerfungen, die Krümmung in den Blättern des Blocks.

»Sie werden ihn nicht gebrauchen.« Die vogelgleichen Hände hockten sich auf den Fels seines Bauches, und der Rebbe schloss die Augen, entzog Litvak seine ehrliche oder vorgetäuschte Sympathie und ließ ihn ein, zwei Minuten lang im Dampf schmoren. Litvak hatte Dampfbäder schon immer gehasst. Aber dieses Schwitz im alten Harkavy, profan und schmuddelig, war der einzige Ort, an dem es der Verbover Rebbe bewerkstelligen konnte, abseits seines Hofstaats, seines Gabbai, seiner eigenen Welt, Privatangelegenheiten zu regeln. »Ich habe nicht vor, weitere Fragen oder Antworten von Ihnen zu fordern.«

Litvak nickte und wollte aufstehen. Sein Kopf sagte ihm, dass Shpilman sich nicht die Mühe gemacht hätte, ihn zu diesem nackten, einseitigen Gespräch zu bestellen, wenn er ihm hätte absagen wollen. Aber im Bauch spürte er, dass dieser Auftrag verdammt war, dass Shpilman ihn in die Ringelblum Avenue gerufen hatte, um die Absage mit der elefantesken Autorität seiner Person zu überbringen.

»Sie sollen wissen, Mr. Litvak, dass ich Ihren Vorschlag sehr gründlich erwogen habe. Ich habe versucht, seine Logik aus jedem Blickwinkel zu betrachten.

Beginnen wir mit unseren Freunden im Süden. Wenn es nur darum ginge, dass sie etwas wollten, eine greifbare Attraktion oder Ressource … Öl, zum Beispiel. Oder wenn sie eher strategisch von ihren Sorgen in Bezug auf Russland oder Persien angetrieben wären. In beiden Fällen würden sie uns offensichtlich nicht brauchen. Wie schwierig eine Eroberung das Heiligen Landes auch wäre — unsere körperliche Anwesenheit, unser Kampfeswille, unsere Waffen können für deren Schlachtplan keinen großen Unterschied machen. Ich habe mich mit deren Behauptung beschäftigt, die jüdische Sache in Palästina unterstützen zu wollen, ich habe deren Theologie studiert, und soweit möglich, habe ich versucht, mir auf Grundlage von Rabbi Baronshteyns Berichten eine Meinung über diese Christen und ihre Ziele zu bilden. Und ich komme zu dem Schluss, dass sie es so meinen, wenn sie sagen, dass sie Jerusalem wieder unter jüdischer Herrschaft sehen wollen. Die Begründung dafür, die sogenannten Prophezeiungen und Apokryphen, deren angebliche Autorität diesem Wunsch zugrunde liegt, die kommt mir mitunter gar lachhaft vor. Sogar abscheulich. Ich bemitleide diese Christen ob ihres kindlichen Vertrauens in die bevorstehende Wiederkehr von einem, der überhaupt nie gegangen ist, geschweige je gekommen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie uns ebenfalls wegen unseres unpünktlichen Messias bemitleiden. Als Grundlage einer Partnerschaft sollte man gegenseitiges Mitleid nicht verachten.

Was Ihre Rolle in dieser Sache angeht, so ist das einfach, nicht? Sie sind ein Söldner. Sie genießen die Herausforderungen und die Verantwortung eines Feldherrn. Das verstehe ich. Wirklich. Sie kämpfen gerne, und Sie töten gerne, solange es nicht Ihre Leute sind, die sterben. Und ich wage zu sagen, dass Sie nach all den Jahren mit Shemets und danach auf eigene Faust längst Routine darin haben, die Amerikaner zufriedenzustellen.

Für die Verbover ist es ein großes Risiko. Wir könnten bei diesem Abenteuer unsere gesamte Glaubensgemeinschaft verlieren. Wir könnten innerhalb weniger Tage ausgelöscht werden, wenn Ihre Trappen schlecht vorbereitet sind oder schlicht und einfach, was nicht unwahrscheinlich ist, in der Unterzahl. Aber wenn wir hierbleiben, nun ja, dann sind wir auch erledigt. In alle Winde verstreut. Unsere Freunde im Süden haben das ganz klar gesagt. Das ist die Zwickmühle. Die Reversion ist das Feuer, das uns unterm Hintern gemacht wird, nicht wahr? Und das neue Jerusalem der Eimer mit Eiswasser. Einige unserer jungen Männer plädieren dafür, hier die Stellung zu halten, unsere Vertreibung zu riskieren. Aber das ist Wahnsinn.

Andererseits: Wenn wir unsere Zustimmung geben und Sie erfolgreich sind, dann erhalten wir einen Schatz von so unermesslichem Wert — ich spreche natürlich von Zion —, dass allein die Vorstellung ein lange verriegeltes Fenster in meiner Seele öffnet. Ich muss meine Augen vor dieser Helligkeit schützen.«

Er hob den linken Handrücken vor die Augen. Sein schmaler Ehering war von seinen Fingern verschluckt wie eine im Fleisch eines Baumes verschwundene Axt. Litvak spürte ein Pochen in seinem Hals, einen Daumen, der immer wieder über die tiefste Saite einer Harfe fuhr. Schwindel. Ein ballonartiges Gefühl in Armen und Beinen. Es musste die Hitze sein. Er machte zaghafte, flache Atemzüge in der schweren, brennenden Luft.

»Mich blendet diese Vision«, sagte der Rebbe. »Vielleicht bin ich davon auf meine Art so geblendet wie die Evangelikalen. So wertvoll ist dieser Schatz. So unermesslich süß.«

Nein. Es war nicht die Hitze und Schwere des Schwitz, die Litvaks Puls pochen ließen und ihn schwindelig machten, jedenfalls nicht nur. Er war nun von seinem Bauchgefühl überzeugt: Shpilman wollte seinen Vorschlag zurückweisen. Aber als die wahrscheinliche Absage näher rückte, dämmerte ihm eine neue Möglichkeit, durchfuhr ihn regelrecht. Es war die Spannung einer brillanten Idee, eines blendenden Zugs.

»Dennoch reicht es nicht«, sagte der Rebbe. »Ich sehne mich nach Messias mehr als nach allem anderen auf dieser Welt.« Er stand auf, und sein Bauch schwappte über seine Hüften und Leisten wie kochende Milch, die am Topf herunterschäumt. »Aber ich habe Angst. Ich habe Angst vorm Scheitern. Ich habe Angst vor großen Verlusten unter meinen Jids und vor der völligen Zerstörung von allem, für das wir in den letzten sechzig Jahren gearbeitet haben. Am Ende des Krieges gab es noch elf Verbover, Litvak. Elf. Auf dem Totenbett habe ich dem Vater meiner Frau versprochen, nicht zuzulassen, dass uns jemals wieder solch eine Zerstörung widerfährt.

Und schließlich und endlich, Litvak, habe ich Angst, es könnte ein Metzgergang sein. Es gibt zahlreiche, einleuchtende Warnungen davor, die Ankunft von Messias auf irgendeine Weise zu beschleunigen. Jeremia verurteilt es. Ebenso die Schwüre Salomons. Natürlich möchte ich meine Jids in einer neuen Heimat sehen, mit finanziellen Bürgschaften der USA, mit Hilfsangeboten und Zugang zu den unvorstellbar großen neuen Märkten, die Ihre Unternehmung im Erfolgsfall schaffen würde. Und ich wünsche mir Messias so sehr, wie ich mir nach dieser Hitze wünsche, in das kühle dunkle Wasser der Mikwe im nächsten Zimmer zu sinken. Aber, Gott vergebe mir meine Worte, ich habe Angst. So viel Angst, dass selbst der Vorgeschmack von Messias auf meinen Lippen nicht ausreicht, Litvak. Und das können Sie denen sagen, da unten in Washington. Sagen Sie ihnen, der Verbover Rebbe habe Angst.« Die Vorstellung von Angst schien den Rebbe in ihrer Neuigkeit völlig hinzureißen, wie einen Jugendlichen, der an den Tod, oder eine Hure, die an die reine Liebe denkt. »Was?«

Litvak hob den rechten Zeigefinger. Er hatte noch etwas, das er dem Rebbe anbieten konnte. Eine weitere Klausel im Abkommen. Er hatte keine Ahnung, wie er sie vortragen würde oder ob sie überhaupt vorgetragen werden konnte. Doch als sich der Rebbe anschickte, seinen massigen Rücken Jerusalem und der überwältigenden Ungeheuerlichkeit des Handels zuzukehren, den Litvak monatelang vorbereitet hatte, spürte er diese Klausel wie eine Art Schrei in sich aufsteigen, versehen mit zwei Ausrufezeichen. Hastig schlug er seinen Block auf. Er kritzelte zwei Wörter auf das erste leere Blatt, aber in seiner Eile und Panik drückte er so fest auf, dass sein Stift das feuchte Papier zerriss.

»Was ist das?«, sagte Sphilman. »Haben Sie noch mehr anzubieten?«

Litvak nickte einmal, zweimal.

»Mehr als Zion? Als Messias? Als eine Heimat, als Glück?«

Litvak stand auf und tappte über die Fliesen, bis er direkt neben dem Rebbe stand. Zwei nackte Männer, die die Geschichten ihrer verhunzten Körper trugen. Jeder von ihnen auf seine Art beraubt, allein. Litvak streckte die Hand aus und schrieb, ermächtigt und inspiriert von dieser Einsamkeit, mit der Fingerspitze zwei Wörter in die Kondenstropfen einer viereckigen weißen Kachel.

Der Rebbe las sie und sah auf. Es sammelten sich neue Tropfen, dann waren die Wörter verschwunden.

»Mein Sohn«, sagte der Rebbe.

Es ist mehr als ein Spiel, schrieb Litvak im Büro in Peril Strait, während er mit Roboy auf die Ankunft dieses ungeratenen, unerlösten Sohnes wartete. Ich kämpfe lieber um einen noch so zweifelhaften Preis als darauf zu warten welche Brosamen man mir hinwirft

»Ich nehme an, irgendwo darin ist ein Credo versteckt«, sagte Roboy. »Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für Sie.«

Als Gegenleistung für die Versorgung mit Kriegern, dem Messias und Geldmitteln, die die kühnsten Träume seiner Geschäftspartner übertrafen, hatte Litvak sich von seinen Kunden, Auftraggebern und Verbündeten einzig und allein erbeten, dass man niemals von ihm erwartete, den Quatsch zu glauben, den die anderen glaubten. Wo sie die Früchte göttlicher Wünsche in einem neugeborenen roten Kälbchen sahen, erkannte er nur das Ergebnis von Millionen Steuerdollar, die heimlich für Bullensamen und In-vitro-Befruchtung ausgegeben worden waren. In der zukünftigen Verbrennung dieser roten Kuh sahen sie die Reinigung ganz Israels und die Erfüllung eines Millionen Jahre alten Versprechens; Litvak sah darin höchstens einen notwendigen Zug in einem alten Spiel — dem Überleben der Juden.

Ach so weit würde ich nicht gehen

Es klopfte an der Tür, und Micky Vayner steckte den Kopf herein.

»Ich wollte Sie erinnern, Sir«, sagte er in seinem braven amerikanischen Hebräisch.

Ausdruckslos schaute Litvak in das rosa Gesicht mit den blättrigen Augenlidern und dem Kinn aus Babyspeck.

»Fünf Minuten vor Sonnenuntergang. Ich sollte Sie erinnern.«

Litvak ging zum Fenster. Der Himmel war nun rosa, grün und so leuchtend grau gestreift wie die Haut eines Lachses. Gewiss sah er einen Stern oder Planeten. Dankend nickte er zu Micky Vayner hinüber. Dann klappte er das Kästchen mit den Schachfiguren zu und schloss die Spange.

»Was ist bei Sonnenuntergang?«, fragte Roboy. Er drehte sich zu Micky Vayner um. »Was ist heute?«

Micky Vayner zuckte mit den Achseln; soweit er wusste, war es nach dem Mondkalender ein ganz normaler Tag im Monat Nissan. Auch wenn er wie seine jungen Kameraden ausgebildet worden war, an die vorbestimmte Wiedereinsetzung des biblischen Königreichs Judäa und an das Schicksal Jerusalems als ewige Hauptstadt der Juden zu glauben, befolgte er die Vorschriften nicht strenger oder besser als die anderen. Die jungen amerikanischen Juden in Peril Strait feierten die großen Feste und hielten sich größtenteils an die Ernährungsvorschriften. Sie trugen ihre Jarmulkes und das Vier-Ecken, stutzten ihre Bärte aber militärisch kurz. Sie vermieden Arbeit und Training am Sabbat, aber es gab Ausnahmen. Nach vierzig Jahren als weltlicher Krieger konnte Litvak damit umgehen. Selbst nach dem Unfall, als seine Sora ihm genommen war, als der Wind durch das Loch pfiff, das sie in Litvaks Leben hinterlassen hatte, als er nach Bedeutung dürstete und nach Sinn hungerte, nach einem leeren Becher und einem nackten Teller, hätte Alter Litvak keinen Platz unter wahrhaft frommen Männern einnehmen können. Beispielsweise hätte er nie unter den Schwarzhüten glücklich werden können. Tatsächlich konnte er sie nicht ausstehen und hatte seit jenem Treffen in der Badeanstalt seinen Kontakt zu den Verbovern auf ein Minimum beschränkt, während sie sich in aller Heimlichkeit darauf vorbereiteten, en masse nach Palästina geflogen zu werden.

Heute ist nichts, schrieb er, ehe er seinen Block einsteckte und das Zimmer verließ. Rufen Sie mich wenn sie kommen

In seinem Zimmer nahm Litvak das Gebiss heraus und ließ es mit einem Würfelklappern in ein Trinkglas fallen.

Er schnürte seine Stiefel auf und sackte auf das Klappbett. Wenn er nach Peril Strait hinausflog, schlief er immer in diesem winzigen Zimmer — im Grundriss war es als Abstellkammer ausgewiesen — im Flur hinter Roboys Büro. Seine Kleidung hängte er an einen Haken hinter der Tür, sein Gepäck verstaute er unter dem Bett.

Er lehnte sich gegen die kalte Wand aus gestrichenen Hohlziegeln und schaute auf die Wand über dem Metallregal, das sein Glas mit den Zähnen trug. Der Raum hatte kein Fenster, daher stellte sich Litvak einen frühen Stern vor. Eine zurückfliegende Ente. Den fotografierten Mond. Den Himmel, der langsam die Farbe eines Gewehrs annahm. Und ein Flugzeug, das tief von Südost hereinkam und den Mann mit sich brachte, der nach Litvaks Plan Gefangener und Dynamit zugleich war, Wehrturm und Falltür, Zielscheibe und Pfeil.

Langsam erhob sich Litvak mit einem schmerzenden Ächzen. Er hatte Schrauben in den Hüften, die Hüften schmerzten; seine Knie pochten und gongten wie die Pedale eines alten Klaviers. In den Scharnieren seines Kiefers knirschte es unablässig. Mit der Zunge fuhr er sich über die leeren Flächen im Mund, sie fühlten sich an wie glatter Kitt. Er war an Schmerzen und Bruchstellen gewöhnt, doch seit dem Unfall schien sein Leib nicht mehr zu ihm zu gehören. Er war etwas, das aus diversen Einzelteilen zusammengezimmert und -geschraubt worden war. Ein Vogelhäuschen aus Sperrholz, auf einen Pfahl gepfropft, in dem seine Seele wie eine panische Fledermaus flatterte. Wie jeder Jude war er in die falsche Welt geboren worden, in das falsche Land, zur falschen Zeit, und jetzt lebte er auch noch im falschen Körper. Am Ende mochte es dieses Gefühl von Irrigkeit sein, diese Faust in seinem jüdischen Bauch, die Alter Litvak an die Sache der Jids band, deren Feldherr er nun sein sollte.

Er ging zum in der Wand verankerten Metallregal unter dem imaginären Fenster. Neben dem Trinkglas mit dem Beweis von Buchbinders Genialität stand ein zweites Glas. Es enthielt einige Unzen Paraffin, erhärtet um einen weißen Faden. Litvak hatte die Kerze nicht ganz ein Jahr nach dem Tod seiner Frau in einem Supermarkt mit der Absicht gekauft, sie am Jahrestag ihres Todes anzuzünden. Inzwischen waren mehrere Jahrestage gekommen und gegangen, und Litvak hatte seine eigene seltsame Tradition entwickelt. Jedes Jahr holte er die Jahrzeit-Kerze hervor, betrachtete sie und überlegte, sie zu entzünden. Er stellte sich das scheue Flackern der Flamme vor. Er malte sich aus, wie er in der Dunkelheit lag und das Licht der Gedenkkerze über seinem Kopf tanzte, ein schattenhaftes Alef-Bejs an die Decke der kleinen Kammer malte. Er sah vor sich, wie das Glas nach vierundzwanzig Stunden leer wäre, der Docht verzehrt, das Paraffin verbrannt, das winzige Metallplättchen am Boden in Wachs ertränkt. Und danach — aber an diesem Punkt verließ ihn immer seine Vorstellungskraft. Litvak wühlte in den Taschen seines Anzugs nach dem Feuerzeug, nur um die Möglichkeit, die Option zu haben, herauszufinden, was es bloß bedeuten mochte — sollte er sich denn dazu entschließen —, die Erinnerung an seine Frau anzuzünden. Das Feuerzeug war ein Zippo, auf einer Seite war in abgenutzten schwarzen Strichen ein Rangers-Abzeichen eingraviert, die andere war tief eingedrückt. Dort hatte das Feuerzeug einen herandrängenden Teil des Autos, der Straße oder der Traubenkirsche davon abgehalten, Litvaks Herz zu durchbohren. Seinem Hals zuliebe rauchte Litvak nicht mehr; das Feuerzeug war nur noch eine Gewohnheit, ein Symbol seines Überlebens, ein ironischer Glücksbringer, der nie seinen Platz neben dem Bett oder in Litvaks Hose verließ. Aber jetzt war es weder hier noch dort. Mit der dümmlichen Art eines hilflosen alten Mannes klopfte er sich von oben bis unten ab. Rückwärts ging er seinen Tag durch, arbeitete sich zurück bis zum Morgen, als er wie gewöhnlich das Feuerzeug in seine Jackentasche hatte gleiten lassen. Etwa nicht? Auf einmal konnte er sich nicht erinnern, am Morgen das Zippo eingesteckt oder es am Abend zuvor auf das Metallregal gelegt zu haben, als er schlafen ging. Vielleicht hatte er es schon seit Tagen nicht mehr bei sich. Es könnte zu Hause in Sitka sein, im Hinterzimmer des Hotel Blackpool. Es könnte überall sein. Litvak ließ sich zu Boden fallen, zerrte sein Gepäck unter dem Bett hervor und durchwühlte es mit klopfendem Herzen. Kein Feuerzeug. Auch keine Streichhölzer. Nur eine Kerze in einem Saftglas und ein Mann, der nicht wusste, wie er sie entzünden sollte, selbst wenn er eine Feuerquelle hätte. Litvak drehte sich zur Tür um, da hörte er jemanden näher kommen. Ein zartes Klopfen. Er ließ die Jahrzeit-Kerze in seiner Jackentasche verschwinden.

»Reb Litvak«, sagte Micky Vayner. »Sie sind da, Sir.«

Litvak setzte sein Gebiss ein und schob das Hemd in die Hose.

Alle auf die Zimmer ich will nicht dass ihn jetzt jemand sieht

»Ist er nicht bereit?«, sagte Micky Vayner ein wenig unsicher, wollte beruhigt werden. Er kannte Mendel Shpilman nicht, hatte ihn noch nie gesehen. Er hatte lediglich Geschichten über Wunder aus seinen Knabentagen gehört und vielleicht den stechenden Geruch verdorbener Ware bemerkt, der manchmal aufstieg, wenn Shpilmans Name erwähnt wurde.

Es geht ihm nicht gut aber wir werden ihn heilen

Es war weder Teil der Doktrin noch notwendig für den Erfolg von Litvaks Plan, dass Micky Vayner oder einer der anderen Juden von Peril Strait glaubte, Mendel Shpilman sei der Tzaddik ha-Dor. Ein Messias, der tatsächlich kommt, nutzt niemandem. Eine erfüllte Hoffnung ist schon eine halbe Enttäuschung.

»Wir wissen, dass er nur ein Mensch ist«, sagte Micky Vayner pflichtgemäß. »Das wissen wir alle, Reb Litvak. Nur ein Mensch, nicht mehr, und das, was wir tun, ist größer als jeder Mensch.«

Es ist nicht der Mann um den ich mir Sorgen mache, schrieb Litvak. Alle auf die Zimmer

Als er auf dem Dock für das Wasserflugzeug stand und zusah, wie Naomi Landsman Mendel Shpilman aus dem Cockpit ihrer Super Cub half, dachte Litvak, wenn er es nicht besser wüsste, würde er die beiden für ein altes Paar halten. Die Art, wie sie seinen Oberarm ergriff, seinen Hemdkragen aus dem Revers seines zerknitterten Nadelstreifenblazers fischte und ihm einen Streifen Zellophan aus dem Haar zupfte, hatte etwas Forsch-Vertrautes. Sie beobachtete sein Gesicht, während Shpilman Roboy und Litvak beäugte, nur sein Gesicht, zärtlich wie ein Ingenieur, der nach Rissen, nach Materialermüdung sucht. Es schien unvorstellbar, dass die beiden sich, soweit Litvak wusste, nicht einmal drei Stunden kannten. Drei Stunden. Länger hatte sie nicht gebraucht, um ihr Schicksal an seines zu ketten.

»Willkommen«, sagte Dr. Roboy, der mit im Wind flatternder Krawatte neben einem Rollstuhl stand. Gold und Turteltoyb, ein Junge aus Sitka, sprangen aus dem Flugzeug auf den Anleger. Turteltoyb war so schwer, dass der Boden klingelte wie ein tortgeschleudertes Telefon. Das Wasser klatschte gegen die Pfähle. Die Luft roch nach verrotteten Netzen und brackigen Pfützen in alten Booten. Es war jetzt fast dunkel, im Schein der Flutlichter oben an den Pfeilern sahen alle leicht grün aus, nur Shpilman nicht, der wirkte weiß wie eine Feder und ebenso leicht. »Sie sind von Herzen willkommen.«

»Sie hätten kein Flugzeug schicken brauchen«, sagte Shpilman. Er hatte eine verzerrte, bühnenreife Stimme und eine aufgesetzte, pointierte Aussprache mit der tiefen, weichen Basslinie der klagenden Ukraine. »Ich hätte sehr gut selbst fliegen können.«

»Ja, ähm —«

»Röntgenblick. Schussweste. Das ganze Brimborium. Für wen ist der Rollstuhl, für mich etwa?«

Er breitete die Arme aus, setzte die Füße affektiert nebeneinander und unterzog sich selbst einer sorgfältigen Musterung, darauf vorbereitet, durch den eigenen Anblick erschreckt zu werden. Ein schlechtsitzender Nadelstreifenanzug, kein Hut, eine lose geschlungene Krawatte, ein heraushängender Hemdschoß, etwas Jugendliches in den ungebärdigen blondroten Locken. Unmöglich, in dieser zerbrechlichen, zarten Gestalt, in diesem schläfrigen Gesicht, auch nur das Geringste des monströsen Vaters zu erkennen. Höchstens vielleicht ein wenig um die Augen. Sphilman drehte sich zu der Pilotin um, gab sich überrascht, ja verletzt durch die Andeutung, er sei so durch den Wind, dass er einen Rollstuhl brauche. Aber Litvak merkte, dass die Geste aufgesetzt war, dass er seine tatsächliche Überraschung und Verletzung überspielte.

»Sie haben gesagt, ich sähe okay aus, Miss Landsman«, sagte Shpilman, zog sie auf, rief sie an, flehte sie an.

»Du siehst super aus, Junge«, sagte die Landsman. Sie trug eine Jeans, die in hohen schwarzen Stiefeln steckte, ein Herren-Oxfordhemd und eine alte Jacke vom Schießstand von Sitka Central, über deren Brusttasche LANDSMAN stand. »Du siehst toll aus.«

»Oh, du lügst, du Lügnerin.«

»Du siehst mir nach dreitausendfünfhundert Dollar aus, Shpilman«, sagte die Landsman nicht unfreundlich. »Können wir es dabei belassen?«

»Ich werde den Rollstuhl nicht brauchen, Herr Doktor«, sagte Shpilman ohne jeden Vorwurf. »Aber danke, dass Sie daran gedacht haben.«

»Sind Sie bereit, Mendel?«, fragte ihn Dr. Roboy auf seine sanfte, salbungsvolle Art.

»Muss ich denn bereit sein?«, sagte Mendel. »Wenn ich bereit sein muss, müssen wir das Ganze vielleicht noch mal um ein paar Wochen verschieben.«

Die Worte entrangen sich Litvaks Kehle wie ein verbales Staubgewöll, eine Böe aus Sand und Schlamm, ungebeten. Ein grässliches Geräusch, wie ein brennender Gummipfropf, der in einen Eiseimer fällt.

»Sie müssen nicht bereit sein«, sagte Litvak. »Sie müssen nur hier sein.«

Alle waren schockiert, entsetzt, selbst Gold, der sonst beim Licht eines brennenden Menschen fröhlich ein Comicheft lesen konnte. Langsam drehte sich Shpilman um, ein schwaches Lächeln im Mundwinkel wie ein auf der Hüfte getragenes Baby.

»Alter Litvak, nehme ich an«, sagte er und streckte die Hand aus. Er funkelte Litvak böse an, gab sich hart und männlich auf eine Weise, die Härte und Männlichkeit und seinen jeweiligen Mangel an beiden Eigenschaften verhöhnte. »Was für ein Handschlag, oj, wie ein Fels.«

Sein Griff hingegen war weich, warm, nicht ganz trocken, der eines ewigen Schuljungen. Etwas in Litvak wehrte sich gegen diese Wärme und Weichheit. Er war selbst entsetzt vom saurierhaften Echo seiner eigenen Stimme, von der Tatsache, überhaupt gesprochen zu haben. Er war entsetzt zu sehen, dass Mendel Shpilman etwas besaß — sein aufgedunsenes Gesicht und sein billiger Anzug, sein Wunderkindgrinsen und sein tapferer Versuch, seine Angst zu verbergen —, dass in alldem etwas war, das Litvak zum ersten Mal seit Jahren zum Sprechen verleitet hatte. Litvak wusste, dass Charisma eine tatsächliche, wenn auch undefinierbare Eigenschaft war, ein chemisches Funkeln, das gewisse halbglückliche Menschen umgab. Wie jedes Funkeln oder Talent war es amoralisch, weder gut noch schlecht, verlieh weder Macht noch Stärke, noch war es nützlich. Als er Shpilmans heiße Hand schüttelte, wurde ihm klar, wie robust seine Taktik war. Wenn Roboy Shpilman wieder ans Laufen bekam, konnte der Bursche nicht nur einige Hundert bewaffnete Gläubige oder dreißigtausend schwarzbehütete Gauner auf der Suche nach einem neuen Betätigungsfeld begeistern und führen, sondern ein ganzes verlorenes Volk, das seit Urzeiten auf Wanderschaft war. Litvaks Plan würde funktionieren, weil Mendel Shpilman etwas besaß, das einen Mann mit einem kaputten Kehlkopf veranlasste, wieder zu sprechen. Gegen dieses gewisse Etwas in Shpilman wehrte sich angeekelt das gewisse Etwas in Litvak. Er verspürte den Drang, diese Schuljungenhand in seiner zu zerquetschen, jeden Knochen darin zu brechen.

»Was ist, Jid?«, sagte die Landsman zu Litvak. »Lange her.«

Litvak nickte und gab ihr die Hand. Er war, wie schon immer, hin- und hergerissen zwischen seiner unwillkürlichen Reaktion, einen Experten bei der tüchtigen Ausübung seines komplizierten Handwerks zu bewundern, und dem Verdacht, dass diese Frau lesbisch sei, eine Kategorie von Mensch, die er schon fast aus Prinzip nicht verstand.

»Na gut«, sagte sie. Noch immer hielt sie Shpilman fest, und als der Wind auffrischte, drängte sie sich näher an ihn heran und legte den Arm um seine Schulter, zog ihn an sich, drückte ihn. Sie suchte die grünlichen Gesichter der Männer ab, die darauf warteten, dass sie ihnen ihr Gepäck gab. »Ihr kommt also zurecht?«

Litvak schrieb etwas in seinen Block und reichte ihn Roboy.

»Es ist schon spät«, sagte Roboy. »Und dunkel. Sie können heute Nacht hierbleiben.«

Lange schien die Pilotin versucht, das Angebot auszuschlagen. Dann nickte sie.

»Gute Idee«, sagte sie.

Am Fuße der langen, sich windenden Treppe blieb Shpilman stehen, um den Aufstieg und die Plattform des schrägen Aufzugs in allen Einzelheiten in sich aufzunehmen. Er schien Bedenken zu haben — ein Vorbeben, ein plötzlicher Einblick in alles, was von nun an von ihm erwartet würde. Mit einer gewissen Dramatik sank er in Roboys Rollstuhl.

»Ich habe meinen Umhang zu Hause vergessen«, sagte er.

Als sie oben ankamen, blieb er im Rollstuhl sitzen und erlaubte der Landsman, ihn ins Hauptgebäude zu schieben. Die Anstrengung der Reise oder des Schrittes, den er nun endlich getan hatte, oder der fallende Heroingehalt in seinem Blut machte sich allmählich bemerkbar. Aber als sie den Raum im Erdgeschoss erreichten, der für ihn vorbereitet war — ein Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein edles englisches Schachspiel —, da riss er sich zusammen. Er fasste in die Tasche seines zerknitterten grauen Anzugs und holte ein schwarz-knallgelbes Pappkästchen hervor.

»Nu, ich denke, ein Masel-tow ist in Ordnung?«, sagte er und verteilte ein halbes Dutzend feiner Cohiba-Zigarren. Obwohl sie nicht entzündet und einen Meter von Litvaks Nasenlöchern entfernt waren, reichte ihr Geruch, um ihm ein Versprechen wohlverdienter Erlösung zuzuflüstern, ein Versprechen sauberer Laken, heißen Wassers, brauner Frauen und stiller Nachwehen brutaler Schlachten. »Hab gehört, es ist ein Mädchen.«

Im ersten Moment wusste niemand, wovon er sprach, dann lachten alle nervös, nur Litvak und Turteltoyb nicht, dessen Wangen die Farbe von Borschtsch annahmen. Turteltoyb wusste wie jeder andere, dass Shpilman keine Details des Plans erfahren sollte, auch nicht vom neugeborenen Kalb. Erst wenn Litvak den Befehl erteilte.

Litvak schlug Shpilman die Zigarre aus der weichen Hand. Er warf Turteltoyb einen bösen Blick zu, konnte ihn durch die blutrote Brühe seines Zorns kaum erkennen. Die Sicherheit, die er unten am Anleger gespürt hatte, dass Shpilman ihren Erfordernissen gerecht würde, war abrupt auf den Kopf gestellt. Ein Mann wie Shpilman, eine Gabe wie die seine, konnte niemals jemandem dienlich sein; sie konnte nur angedient werden, zuvorderst von dem, der sie besaß. Kein Wunder, dass sich das arme Schwein so lange versteckt hatte.

Raus

Sie lasen seine Mitteilung und marschierten nacheinander aus dem Zimmer, als Letztes die Landsman, die nachdrücklich fragte, wo er schlafen würde, und dann Mendel nachdrücklich versicherte, dass sie sich am Morgen wiedersehen würden. Damals hatte Litvak den vagen Verdacht, sie wolle ein Stelldichein arrangieren, aber da er in ihr eine Lesbierin sah, annullierte er den Verdacht wieder, ehe er länger darüber nachdenken konnte. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass die Jüdin mit ihrer Abenteuerlust bereits das Fundament für die waghalsige Flucht legte, die zu versuchen Mendel noch gar nicht beschlossen hatte. Die Landsman riss ein Streichholz an und sog an der Zigarre, um sie zu entzünden. Dann schlenderte sie aus dem Zimmer.

»Machen Sie dem Jungen keinen Vorwurf, Reb Litvak«, sagte Shpilman, als sie allein waren. »Die Leute neigen dazu, mir Dinge zu erzählen. Aber das haben Sie bestimmt schon gemerkt. Bitte, nehmen Sie eine Zigarre! Hier, die ist sehr gut.«

Shpilman hob die Corona auf, die Litvak ihm aus der Hand geschlagen hatte, und als Litvak sie weder annahm noch ablehnte, führte der Jid sie Litvak an den Mund und schob sie ihm vorsichtig zwischen die Lippen. Dort hing sie und verströmte ihren Geruch nach Bratensaft, Kork und Mesquite, mösenhafte Gerüche, die alte Begierden entfachten. Es gab ein Klicken und ein Kratzen, dann beugte Litvak sich erstaunt vor und hielt das Zigarrenende in die Flamme seines eigenen Zippos. Er spürte den flüchtigen Schock eines Wunders. Dann grinste er und bedankte sich nickend, empfand eine Art schwindelnder Erleichterung über das verspätete Eintreten einer logischen Erklärung: Er musste das Feuerzeug in Sitka vergessen haben, wo Gold oder Turteltoyb es gefunden und mit nach Peril Strait genommen hatten. Im Flugzeug hatte Shpilman es sich ausgeliehen und mit einem Junkieimpuls in die eigene Tasche gesteckt, nachdem er sich eine Papiros angezündet hatte. Ja, gut.

Mit einem Knistern fing die Zigarre Feuer und loderte auf. Als Litvak vom glühenden Tabak hochschaute, blickte Shpilman ihn mit seinen sonderbar mosaikartigen, gold- und grüngefleckten Augen an. Gut, sagte Litvak zu sich. Eine sehr gute Zigarre.

»Bitte«, sagte Shpilman. Er drückte Litvak das Zippo in die Hand. »Bitte, Reb Litvak. Zünden Sie die Kerze an. Man muss dabei nicht beten. Man muss nichts tun oder empfinden. Zünden Sie sie einfach an. Bitte.«

Als die Logik aus der Welt floss und nie wieder ganz zurückkehrte, griff Shpilman in Litvaks Jackentasche und holte das Glas mit dem Wachs und dem Docht hervor. Für diesen Trick konnte Litvak einfach keine Erklärung finden. Er nahm Shpilman die Kerze ab und stellte sie auf den Tisch. Mit einem Kratzen des Daumens entzündete er den Feuerstein. Er spürte die intensive Wärme von Shpilmans Hand auf seiner Schulter. Die Faust um sein Herz begann ihren Griff zu lockern, so wie sie es an dem Tag tun könnte, wenn er endlich das Haus beträte, in dem zu leben ihm bestimmt war. Es war ein bestürzendes Gefühl. Er öffnete den Mund.

»Nein«, sagte er mit einer Stimme, die zu seiner Verwunderung eine Spur Menschlichkeit enthielt.

Er ließ das Feuerzeug zuschnappen und fegte Shpilmans Hand mit solcher Brutalität zur Seite, dass Shpilman das Gleichgewicht verlor, stolperte und sich den Kopf am Metallregal schlug. Die Wucht des Aufpralls riss die Kerze aus dem Glas und schleuderte sie auf den Kachelboden. Das Glas zersprang in drei große Scherben. Der Wachszylinder wurde gespalten.

»Ich will es nicht«, krächzte Litvak. »Ich bin nicht bereit.«

Aber als er auf Shpilman hinabsah, der ausgestreckt und benommen am Boden lag und aus einer Wunde an der rechten Schläfe blutete, da wusste er, dass es bereits zu spät war.

40.

In dem Moment, als Litvak seinen Stift ablegt, hört man draußen einen Tumult: ein halber Fluch, zerbrechendes Glas, schnaubender Atem. Dann kommt Berko Shemets in das Schlafzimmer spaziert. Den Kopf des kleinen Gold hat er unter den Arm geklemmt wie einen schönen Braten, den Rest von Gold schleift er hinter sich her. Die Absätze des Gannefs pflügen tiefe Furchen in den Teppich. Berko schlägt die Tür hinter sich zu. Er hat seine Scholem hervorgeholt, die wie eine Kompassnadel auf den magnetischen Norden von Alter Litvak zeigt. Auf Berkos Jagdhemd und seiner Jeans ist das Blut von Hertz. Berkos Hut ist so weit nach hinten geschoben, dass sein Gesicht aussieht, als würde es nur aus Brauen und dem Weiß der Pupillen bestehen. Der Kopf von Gold funkelt mehrdeutig in Berkos Armbeuge.

»Du sollst Blut und Eiter scheißen«, psalmodiert Gold. »Du sollst die Krätze kriegen wie Hiob.«

Berkos Pistole schwingt herum, um einen Blick auf das Hirn des jungen Jid in seinem zerbrechlichen Behältnis zu werfen. Gold hört auf zu zappeln, und die Waffe führt ihre einäugige Inspektion von Alter Litvaks Brust fort.

»Berko«, sagt Landsman. »Was soll der Wahnsinn?«

Berko hebt seinen Blick wie eine schwere Last und schaut Landsman an. Er öffnet die Lippen, schließt sie, zieht Luft ein. Er scheint etwas Wichtiges von sich geben zu wollen, einen Namen, einen Zauberspruch, eine Gleichung, die die Zeit dehnen oder die Fäden der Welt entwirren kann. Oder vielleicht versucht er einfach zu verhindern, dass er selbst entwirrt wird.

»Dieser Jid«, sagt er, und dann mit weicher, etwas rauer Stimme: »Meine Mutter.«

Vielleicht hat Landsman einmal ein Foto von Laurie Jo Bear gesehen. Es gelingt ihm, eine undeutliche Erinnerung an einen gekämmten schwarzen Pony, eine rosafarbene Brille und ein durchtriebenes Grinsen heraufzubeschwören. Aber eigentlich ist die Frau für ihn weniger als ein Geist. Früher erzählte Berko Geschichten über das Leben im Indianerland. Über Basketball, Robbenjagd, Betrunkene und Verwandte, Willie-Dick-Geschichten, die Geschichte von einem Menschenohr auf dem Tisch. Landsman kann sich an keine Geschichten über Berkos Mutter erinnern. Wahrscheinlich hat er schon immer geahnt, dass Berko einen hohen Preis dafür gezahlt hat, sich derart von innen nach außen zu kehren, für diese heroische Vergessensleistung. Landsman hat sich bloß nie die Mühe gemacht, sich das als Verlust vorzustellen. Ein blinder Fleck der Phantasie, bei einem Schammes eine größere Sünde, als ohne Deckung in eine Drogenhöhle zu gehen. Vielleicht ist es auch dieselbe Sünde, nur in einer anderen Form.

»Auf jeden Fall«, sagt Landsman und macht einen Schritt auf seinen Kollegen zu. »Ein schlimmer Typ. Eine Kugel wert.«

»Du hast zwei kleine Söhne, Berko«, sagt Bina mit unglaublich flacher Stimme. »Du hast Ester-Malke. Du hast eine Zukunft, die du nicht wegwerfen solltest.«

»Hat er nicht«, sagt Gold oder versucht es zumindest. Berko drückt noch etwas fester zu, und Gold würgt, versucht sich zu drehen, um mit den Füßen Halt zu finden.

Litvak kritzelt etwas hinten in seinen Block, ohne den Blick von Berko abzuwenden.

»Was ist?«, sagt Berko. »Was hat er gesagt?«

Kein Jude hat hier Zukunft

»Ja, ja«, sagt Landsman. »Das wissen wir schon.«

Er nimmt Litvak Stift und Block ab. Er schlägt die letzte Seite um und schreibt auf Englisch SEI KEIN IDIOT! DU FÜHRST DICH AUF WIE ICH! hinein. Dann reißt er das Blatt heraus und wirft Litvak wieder Block und Stift zu. Den Zettel hält er Berko vors Gesicht, damit der ihn lesen kann. Das Argument ist ziemlich überzeugend. Berko lässt Gold los, als der Jid gerade anfängt, blau anzulaufen. Gold fällt zu Boden, ringt nach Luft. Die Pistole in Berkos Faust schwankt.

»Er hat deine Schwester getötet, Meyer.«

»Das weiß ich noch nicht«, sagt Landsman. Er dreht sich zu Litvak um. »Stimmt das?«

Litvak schüttelt den Kopf und beginnt, etwas in seinen Block zu schreiben, doch bevor er es beenden kann, brandet im Vorzimmer lauter Jubel auf. Das aufrichtige, aber aufgesetzte Geheul junger Männer, die etwas Tolles im Fernsehen sehen. Vielleicht ist ein Tor gefallen. Das Bikinioberteil einer Beachvolleyballerin verrutscht. Einen Augenblick später hört Landsman das Echo der Hochrufe, die Geräusche werden durch das offene Fenster wie mit dem Wind aus der Ferne herangetragen, von Harkavy, dem Nachtasyl. Litvak lächelt nur und legt Block und Stift mit einer sonderbaren Endgültigkeit zur Seite, als habe er nichts mehr zu sagen. Als ob seine Beichte lediglich zu diesem Moment führen sollte, ja, nur durch ihn ermöglicht wurde. Gold kriecht zur Tür, zieht sie auf, kommt schwankend auf die Füße und taumelt ins Vorzimmer. Bina geht zu Berko und streckt die Hand aus. Nach einer Weile legt Berko die Waffe in ihre Hand.

Im vorderen Zimmer des Penthouse hüpfen die jungen Gläubigen in ihren Anzügen auf und ab und fallen sich in die Arme. Die Jarmulkes rutschen ihnen vom Kopf. Ihre Gesichter glänzen vor Tränen.

Auf dem großen Fernsehbildschirm kann Landsman den ersten Blick auf ein Bild werfen, das bald auf jeder Titelseite jedweder Zeitung der Welt Furore machen wird.

In der ganzen Stadt wird es von frommen Händen ausgeschnitten und an Haustüren und Fenster geklebt werden. Die Menschen werden es einrahmen und hinter ihre Ladentheke hängen. Unweigerlich wird irgendein kleiner Gauner daraus ein großes Poster machen, 60 x 90: Der Hügel in Jerusalem, voller Häuser und Gassen. Das breite leere Tafelland aus Pflastersteinen. Der zerklüftete Kiefer verkohlter Zähne. Die herrliche Fahne schwarzen Rauchs. Und darunter in blauen Lettern die Legende: ENDLICH! Diese Poster werden beim Schreibwarenhändler für einen Preis zwischen zehn und 12,95 Dollar verkauft werden.

»Gütiger Gott. Was machen die da? Was haben die gemacht?«

Vieles an dem Bild auf der Fernsehmattscheibe bestürzt Landsman, aber am bestürzendsten findet er, dass die Juden von Sitka Einfluss auf ein achttausend Meilen entferntes Objekt genommen haben. Das scheint ihm ein grundlegendes Gesetz der emotionalen Physik zu verletzen. Die Raumzeit in Sitka ist ein gekrümmtes Phänomen; ein Jid mag in jede Richtung greifen, so weit er kann, am Ende klopft er doch nur sich selbst auf den Rücken.

»Was war mit Mendel?«, fragt er.

»Ich nehme an, sie waren schon zu weit, um es noch aufhalten zu können«, sagt Bina. »Ich nehme an, sie haben einfach ohne ihn weitergemacht.«

Es ist grotesk, aber aus irgendeinem Grund findet Landsman das schade für Mendel. Alles und jeder wird von jetzt an ohne ihn weitermachen.

Einige Minuten steht Bina da und sieht zu, wie die Jungs sich freuen. Sie hat die Arme verschränkt, ihr Gesicht ist ausdruckslos, nur in ihren Augenwinkeln ist Leben.

Binas Blick erinnert Landsman an die Verlobungsfeier einer ihrer Freundinnen, an der sie vor vielen Jahren teilnahmen. Die zukünftige Braut heiratete einen Mexikaner, und aus Spaß hatte die Feier das Motto Cinco de Mayo. Im Garten hatte man einen Pinguin aus Pappmache in einen Baum gehängt. Den Kindern wurden die Augen verbunden, dann wurden sie, bewaffnet mit einem Stock, losgeschickt, um den Pinguin so lange zu schlagen, bis er auseinanderbrach. Voller Grausamkeit hieben die Kinder auf den Vogel ein, dann regnete es Süßigkeiten. Es waren Unmengen eingepackter Toffees, Pfefferminz- und Karamellbonbons, Süßigkeiten, wie sie eine Großtante zuverlässigerweise aus der staubigen Falte ihrer Handtasche kramt. Doch als die Bonbons vom Himmel fielen, tanzten die Kinder mit bestialischer Freude. Und Bina stand da und beobachtete sie mit verschränkten Armen und einer Falte in den Augenwinkeln.

Sie reicht Berko seine Scholem zurück und zieht ihre eigene aus dem Holster.

»Schnauze!«, ruft sie, und dann auf Englisch: »Haltet euren beschissenen Mund!«

Einige der jungen Männer haben ihr Shoyfer hervorgeholt und versuchen, jemanden anzurufen, aber das versucht wohl gerade jeder in Sitka. Sie zeigen sich gegenseitig die Fehlermeldungen auf ihren Displays. Das Netz ist überlastet. Bina geht zum Fernseher und tritt gegen das Kabel. Der Stecker reißt aus der Wand. Der Fernseher erlischt.

Dunkler Treibstoff scheint aus den Tanks der jungen Männer zu sickern, als der Fernseher ausgeht.

»Sie sind verhaftet«, sagt Bina liebenswürdig, da sie nun die Aufmerksamkeit aller hat. »Da rüber und die Hände an die Wand. Meyer!«

Landsman tastet die Männer ab, einen nach dem anderen, hockt zu ihren Füßen wie ein Schneider, der die Beinlänge misst. Bei den sechs Personen an der Wand sammelt er acht Handfeuerwaffen und zwei teure Jagdmesser ein. Hat er einen durchsucht, befiehlt er ihm, sich hinzusetzen. Seine dritte Inspektion fördert die Beretta zutage, die Berko ihm lieh, bevor Landsman nach Yakovy aufbrach. Er hält sie hoch, damit Berko sich freut.

»Die kleine Süße«, sagt Berko mit vorgehaltener Scholem.

Als Landsman fertig ist, nehmen die jungen Gläubigen Platz: drei auf der Couch, zwei in den Sesseln und einer auf einem Stuhl, der aus einer Nische gezogen wurde. Auf einmal sehen sie jung und verloren aus, wie sie so dasitzen. Sie sind Kümmerlinge. Zurückgelassene. Alle drehen sich mit gerötetem Gesicht gemeinsam zu Litvaks Schlafzimmertür um, warten auf Anweisungen. Die Tür ist geschlossen. Bina öffnet sie und stößt sie dann mit dem Fuß weit auf. Volle fünf Sekunden steht sie da und schaut hinein.

»Meyer. Berko.«

Das Rollo klappert im Wind. Die Badezimmertür steht auf, das Badezimmer ist dunkel. Alter Litvak ist nicht mehr da.

Sie sehen im Wandschrank nach. Sie sehen in der Dusche nach. Bina geht zu dem klappernden Rollo und reißt es hoch. Die Glasschiebetür ist weit genug geöffnet, um einen Eindringling oder einen Ausbrecher durchzulassen. Sie gehen hinaus aufs Dach und schauen sich um. Sie suchen hinter der Klimaanlage, neben dem Wasserreservoir und unter einer Plane, die einen Stapel Klappstühle trocken hält. Sie spähen über das Gesims. Auf dem Parkplatz ist kein zersprungenes Porträt von Litvak in Öl zu sehen. Sie gehen zurück in die Wohnung auf dem Dach des Blackpool.

Mitten auf dem Bett liegen Litvaks Stift und Block sowie ein abgenutztes metallgraues Zippo. Landsman greift zu dem Block, um die letzten Worte zu lesen, die Litvak schrieb, bevor er ihn zur Seite legte.

Ich habe sie nicht getötet Sie war so ein guter Kerl

»Sie haben ihn rausgeschmuggelt«, sagt Bina. »Diese Schweine. Seine Schweinefreunde von der Army.«

Bina ruft die Männer unten am Hoteleingang an. Keiner von ihnen hat jemanden gehen sehen oder etwas Ungewöhnliches bemerkt, zum Beispiel ein Kommando rußgeschwärzter Krieger, die sich von einem Hubschrauber abseilen.

»Bastards!«, sagt sie erneut, jetzt auf Englisch und mit größerer Schärfe. »Diese verwichsten, bibelhörigen Hurensöhne!«

»Aber, aber, meine Dame!«

»Hoho, immer mit der Ruhe, Ma’am.«

Amerikaner in Anzügen, mehrere, zu viele und zu nah beisammen, als dass Landsman sie korrekt zählen könnte, sagen wir sechs, stehen Schulter an Schulter in der Tür zum Vorzimmer. Wohlgenährte große Männer, die ihre Arbeit lieben. Einer trägt einen schmissigen olivgrünen Staubmantel und ein entschuldigendes Grinsen unter seinem goldweißen Haar. Ohne den Pinguin-Pulli hätte Landsman ihn fast nicht wiedererkannt.

»Gut«, sagt der Mann, der Cashdollar sein muss. »Versuchen wir uns mal alle zu beruhigen.«

»FBI«, sagt Berko.

»So ungefähr«, sagt Cashdollar.

41.

Die nächsten vierundzwanzig Stunden schlägt Landsman in einem summenden kalkweißen Raum mit milchweißem Teppich im sechsten Stock des Harold Ickes Federal Building auf der Seward Street tot.

Sechs Männer mit den bunt wechselnden Nachnamen verdammter Crewmitglieder aus einem U-Boot-Film halten jeweils in Zweierteams vierstündig Wache. Einer ist schwarz, einer ein Latino, die anderen sind rosa Riesen mit Haarschnitten, die die kleine Lücke zwischen Astronaut und pädophilem Gruppenleiter schließen. Kaugummikauer, zu groß geratene Jungs mit guten Manieren und Sonntagsschullächeln. In jedem von ihnen erschnuppert Landsman zuweilen das Dieselherz eines Polizisten, doch verblüfft ihn der heidnische Südstaatenglanz ihres Alurahmens. Obwohl sich Landsman mit einer Rauchwand aus unverschämten Antworten umgibt, vermitteln sie ihm das Gefühl, klapprig zu sein, ein alter Zweitakter.

Niemand bedroht ihn oder versucht, ihn einzuschüchtern. Jeder spricht ihn mit seinem Dienstgrad an und achtet darauf, Landsmans Namen so zu betonen, wie er es bevorzugt. Wenn Landsman mürrisch, frech oder ausweichend wird, stellen die Amerikaner Nachsicht und lehrerhafte Gelassenheit zur Schau. Aber wenn Landsman es wagt, eine oder zwei Fragen zu formulieren, ergießt sich eine erstickende Stille über sie wie tausend Gallonen Wasser aus einem Flugzeug. Die Amerikaner verraten nichts über den Aufenthaltsort oder die Situation von Detective Shemets oder Inspector Gelbfish. Sie haben weder etwas über Alter Litvaks Verschwinden mitzuteilen, noch scheinen sie je von Mendel Shpilman oder Naomi Landsman gehört zu haben. Sie möchten wissen, was Landsman weiß oder über die amerikanische Beteiligung an dem Attentat auf Qubbat as-Sakhra und über die Urheber, Hauptakteure, Helfer und Opfer dieses Attentats zu wissen glaubt. Und sie wollen ihn nicht wissen lassen, was sie über all das wissen, falls sie überhaupt im Bilde sind. Sie sind in ihrer Kunst so gut ausgebildet, dass schon längst ein Schichtwechsel stattgefunden hat, ehe Landsman auffällt, dass die Amerikaner ihm immer wieder ungefähr dieselben zwei Dutzend Fragen stellen, dass sie sie wenden, umformulieren und aus anderen Blickwinkeln beleuchten. Ihre Fragen gleichen den Grundzügen der sechs unterschiedlichen Schachfiguren, endlos neu miteinander kombiniert, bis es so viele sind wie Neuronen im Gehirn.

In gleichmäßigen Abständen wird Landsman mit grässlichem Kaffee und einer Reihe zunehmend hart werdender Aprikosen- und Kirschplundertaschen versorgt. Irgendwann bringt man ihn in einen Pausenraum und lädt ihn ein, sich auf ein Sofa zu legen. Kaffee und Plunder rotieren immer wieder aufs Neue im kalkweißen Raum von Landsmans Hirn, während er die Augen zudrückt und zu schlafen vorgibt. Dann ist es wieder Zeit, zurückzukehren zum steten weißen Rauschen der Wände, zum laminierten Tisch und dem quietschenden Vinyl unter seinem Hintern.

»Detective Landsman.«

Er öffnet die Augen und erblickt ein schummriges schwarzes Moire auf Braun. Sein Jochbein ist taub vom Druck der Tischplatte. Er hebt den Kopf und hinterlässt eine Speichelpfütze. Ein klebriger Faden verbindet seine Lippen mit dem Tisch, dann reißt er.

»Iih«, macht Cashdollar.

Er zieht eine Packung Kleenex-Taschentücher aus der rechten Tasche seines Sweaters und schiebt sie Landsman über den Tisch zu, vorbei an einem offenen Karton mit Plunderteilchen. Cashdollar hat einen neuen Pullover an, eine dunkelgoldene Strickjacke mit kaffeebraunen Wildlederstreifen an der Brust, Lederknöpfen und Wildlederflicken an den Ellenbogen. Er sitzt aufrecht auf einem Metallstuhl, die Krawatte geknotet, die Wangen glatt, die blauen Augen durch attraktive Pilotenfältchen enthärtet. Sein Haar hat denselben Goldton wie die Folie einer Packung Broadways. Er lächelt ohne jede Begeisterung oder Grausamkeit. Landsman wischt sich über das Gesicht und über die Schweinerei, die er nach dem Nickerchen auf dem Tisch hinterlassen hat.

»Haben Sie Hunger? Möchten Sie etwas trinken?«

Landsman sagt, er hätte gerne ein Glas Wasser. Cashdollar greift in die linke Tasche seiner Strickjacke und holt eine kleine Flasche Mineralwasser hervor. Er legt sie hin und rollt sie Landsman über den Tisch zu. Er ist kein junger Mann, aber die Art, wie er mit der Flasche zielt, sie auf den Weg schickt und mit Effet zu ihrem Ziel steuert, das hat etwas jungenhaft Ernstes. Landsman dreht die Flasche auf und nimmt einen kleinen Schluck. Er macht sich nicht viel aus Mineralwasser.

»Früher habe ich für einen Mann gearbeitet«, sagt Cashdollar. »Der hatte diesen Posten vor mir inne. Er hatte lustige Sprüche drauf, die er gerne im Gespräch fallenließ. Das ist so eine Angewohnheit unter den Leuten, die das tun, was ich tue. Wir kommen vom Militär, ja, wir kommen aus der Geschäftswelt. Wir haben was übrig für unsere kleinen Sprüche. Schibboleth. Das ist ein hebräisches Wort, wissen Sie? Richter, Kapitel 12. Haben Sie wirklich keinen Hunger? Ich kann Ihnen eine Tüte Kartoffelchips besorgen. Einen Becher Nudeln. Wir haben eine Mikrowelle.«

»Nein danke«, sagt Landsman. »Also: Schibboleth.«

»Dieser Mann, mein Vorgänger, der sagte immer: ›Wir erzählen eine Geschichte, Cashdollar. Genau das machen wir.‹« Die Stimme, die er aufsetzt, um seinen ehemaligen Vorgesetzten zu zitieren, ist kräftiger und nicht so umgänglich wie sein eigener gekünstelter Tenor. Bombastischer. »›Erzähl ihnen eine Geschichte, Cashdollar. Mehr wollen die armen Schweine nicht.‹ ›Schweine‹ hat er natürlich nicht gesagt.«

»Also die Leute, die das tun, was Sie tun«, sagt Landsman. »Nämlich was? Terroristische Attentate auf die heiligen Stätten des Islam sponsern? Kreuzzüge wieder aufleben lassen? Unschuldige Frauen umbringen, obwohl sie nie etwas anderes gemacht haben, als ein kleines Flugzeug zu fliegen und hin und wieder jemandem aus der Patsche zu helfen? Hilflosen Junkies in den Kopf schießen? Entschuldigung, aber ich habe vergessen, was genau ihr tut, ihr Leute mit euren Schibboleth.«

»Zuerst mal, Detective Landsman, hatte niemand etwas mit dem Tod von Menashe Shpilman zu tun.« Er spricht Shpilmans hebräischen Vornamen Men-äschi aus. »Das hat mich genauso schockiert und verwirrt wie alle anderen. Ich habe den Mann nie kennengelernt, aber ich weiß, dass er ein bemerkenswerter Mensch mit bemerkenswerten Fähigkeiten war und dass wir ohne ihn deutlich schlechter dran sind. Wie war’s mit einer Zigarette?« Er hält Landsman eine ungeöffnete Packung Winstons hin. »Kommen Sie! Ich weiß, dass Sie gerne rauchen. Bitte.«

Cashdollar holt ein Streichholzbriefchen hervor und reicht es mit den Winstons über den Tisch.

»Nun, was Ihre Schwester angeht, hej, hören Sie zu. Das mit Ihrer Schwester tut mir wirklich unheimlich leid, Detective Landsman. Doch, wirklich. Es mag Ihnen nicht viel bedeuten, nehme ich an, aber ich möchte mich aufrichtig dafür entschuldigen. Das war eine schlechte Entscheidung des Mannes, der diese Stelle vor mir innehatte, der Typ, von dem ich eben gesprochen habe. Aber er hat dafür bezahlt. Natürlich nicht mit dem Leben.« Cashdollar zeigt seine großen, viereckigen Zähne. »Vielleicht wäre Ihnen das lieber gewesen. Aber er hat bezahlt. Er hat sich geirrt. Der Mann hat sich in vielen Dingen geirrt, Detective Landsman. Für diese eine Sache, hm, sorry.« Er schüttelt leicht den Kopf. »Aber wir erzählen keine Geschichte.«

»Nein?«

»Hm-m. Die Geschichte, Detective Landsman, sie erzählt uns. So wie es von Anfang an war. Wir sind Teil der Geschichte. Sie. Ich.«

Das Streichholzbriefchen stammt aus einem Restaurant in Washington namens Hogate’s Sea Food an der Ecke 9th und Maine Avenue, SW. Vor eben diesem Restaurant wurde, wenn Landsman sich nicht irrt, der Delegierte Anthony Dimond, der größte Gegner des Sitka-Siedlungsgesetzes, von einem Taxi überfahren, als er einer verirrten Rumkugel auf die Straße folgte. Landsman entzündet ein Streichholz.

»Und Jesus?«, sagt Landsman und schielt über die Flamme.

»Auch Jesus.«

»Hab nichts gegen Jesus.«

»Das freut mich. Ich hab auch nichts gegen ihn. Jesus war auch nicht heiß aufs Töten, aufs Verletzen, aufs Zerstören. Das weiß ich. Die Qubbat as-Sakhra war ein schönes altes Stück Architektur, und der Islam ist eine achtbare Religion, und abgesehen davon, dass sie grundsätzlich völlig danebenliegt, habe ich eigentlich kein Problem mit dieser Religion. Mir wäre es lieber, wir könnten die Sache auf eine Weise erledigen, die nicht solche Maßnahmen erfordern würde. Aber manchmal geht es eben nicht anders. Und das wusste auch Jesus. ›Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.‹ Richtig? Ich meine, das sind Jesu Worte. Der Typ konnte, wenn nötig, ganz schön hart werden.«

»Er war der Hammer«, behauptet Landsman.

»Stimmt. Nun, Detective Landsman, Sie trauen der ganzen Sache vielleicht nicht, aber die Endzeit ist nah. Und ich für meinen Teil freue mich sehr darauf. Aber damit das geschieht, müssen Jerusalem und das Heilige Land wieder in jüdischer Hand sein. So steht es geschrieben. Traurigerweise ist das leider nur mit ein wenig Blutvergießen zu erreichen. Nur mit einer gewissen Zerstörung. Das ist nur, was geschrieben steht, nicht wahr? Aber anders als mein unmittelbarer Vorgänger bemühe ich mich wirklich sehr, das alles auf das absolute Minimum zu beschränken. Jesus zuliebe und meiner eigenen Seele zuliebe und uns allen zuliebe. Damit alles glattläuft. Damit die Operation zusammengehalten wird, bis wir da drüben alles einigermaßen unter Kontrolle haben. Ein paar Tatsachen geschaffen haben.«

»Sie wollen nicht, dass jemand weiß, wer dahintersteckt. Die Leute, die das tun, was Sie tun.«

»Ja, aber das ist sozusagen unser Prinzip, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Und Sie möchten, dass ich den Mund halte.«

»Ich weiß, das ist viel verlangt.«

»Nur so lange, bis Sie in Jerusalem diese Tatsachen geschaffen haben. Araber raus und Verbover rein. Ein paar Straßen umbenennen.«

»Nur so lange, bis wir die gute alte kritische Masse in Bewegung gesetzt haben. Ein paar Gelenke eingerenkt, die durch diese Sache ausgerenkt wurden. Und dann machen wir uns an die Arbeit. Erfüllen das, was geschrieben steht.«

Landsman trinkt einen Schluck Wasser. Er ist warm und schmeckt nach dem Inneren einer Strickjackentasche.

»Ich möchte meine Pistole und meinen Ausweis zurück«, sagt Landsman. »Mehr will ich nicht.«

»Ich liebe Polizisten«, sagt Cashdollar ohne große Begeisterung. »Wirklich.« Er legt eine Hand auf den Mund und atmet nachdenklich durch die Nase. Seine Hand ist manikürt, aber ein Daumennagel ist angekaut. »Das wird hier furchtbar indianisch werden, Mister. Nur unter uns gesagt. Wenn Sie Ihre Pistole und Ihren Ausweis zurückbekommen, werden Sie mit Sicherheit nicht sehr lange darüber verfügen können. Die Stammespolizei wird nicht allzu viele Juden als Staatsdiener anheuern.«

»Vielleicht nicht. Aber Berko nehmen sie.«

»Sie nehmen keinen, der nicht das Papier hat.«

»Ach ja«, sagt Landsman. »Das will ich auch noch.«

»Sie reden von einer Menge Papier, Detective Landsman.«

»Sie brauchen auch eine Menge Schweigen.«

»Allerdings«, sagt Cashdollar.

Eine oder zwei Sekunden lang mustert Cashdollar Landsman, und Landsman erkennt an einer bestimmten Wachsamkeit in den Augen des Mannes, an einem vorausahnenden Blick, dass irgendwo an Cashdollars Körper eine Waffe versteckt ist und ihm der Finger juckt, sie zu betätigen. Es gibt nämlich direktere Wege, Landsman zum Schweigen zu bringen, als ihn mit einer Waffe und verschiedenen Dokumenten abzufinden. Cashdollar erhebt sich von seinem Stuhl und stellt ihn sorgfältig an seinen Platz am Tisch zurück. Er will an seinem Daumennagel kauen, besinnt sich aber eines Besseren.

»Könnte ich meine Taschentücher zurückhaben?«

Landsman wirft sie ihm zu, aber es geht schief, Cashdollar kann sie nicht fangen. Die Packung fällt auf den Karton mit den alten Plunderteilen und landet in einem glänzenden Fleck roten Gelees. In Cashdollars sanften Augen reißt ein Spalt der Wut auf, durch den man einen Blick auf die verbannten Schatten von Ungeheuern und Abneigungen erhaschen kann. Das Letzte, was er will, erinnert sich Landsman, ist irgendeine Schweinerei. Cashdollar zupft ein Kleenex aus dem Päckchen und wischt die Packung damit ab, dann stopft er den Rest zurück in seine sichere rechte Tasche. Er fummelt den untersten Knopf seiner Jacke durch das Knopfloch, und als der Wollbund sich kurz über seiner Hüfte spannt, entdeckt Landsman die Ausbuchtung einer Scholem.

»Ihr Kollege«, sagt Cashdollar zu Landsman, »hat viel zu verlieren. Sehr viel. Wie Ihre Exfrau. Was den beiden nur zu bewusst ist. Vielleicht ist es Zeit, dass Sie zu demselben Schluss kommen, Detective Landsman.«

Landsman denkt an die Dinge, die er noch verlieren kann: ein Reiseschachbrett und das Polaroidfoto vom toten Messias. Einen in das Gewirr seines Hirns gedruckten profanen, unsystematischen Stadtplan von Sitka mit Tatorten, Kaschemmen und Aroniabüschen. Winternebel, der das Herz umhüllt, Sommernachmittage, die sich endlos in die Länge ziehen wie Diskussionen zwischen Juden. Die Geister des zaristischen Russlands in den Zwiebeltürmen der St.-Michael-Kathedrale und die Geister von Warschau im klagenden Wiegen eines Cafégeigers. Kanäle, Fischerboote, Inseln, streunende Hunde, Konservenfabriken, Milchbars. Die im nassen Asphalt gespiegelte Neonmarkise des Baranof Theaters, die wie auf einem Aquarell zerlaufenen Farben, wenn man mit dem Mädchen seiner Träume am Arm aus einer Vorstellung von Welles’ Herz der Finsternis kommt, das man gerade zum dritten Mal gesehen hat.

»Scheiß auf das, was geschrieben steht«, sagt Landsman. »Wissen Sie was?« Auf einmal ist er der Gannefs und Propheten müde, der Waffen und Opfer und der unendlichen Gangstermacht Gottes. Er ist es müde, vom Gelobten Land und dem für seine Erlösung unvermeidlichen Blutvergießen zu hören. »Mir ist egal, was geschrieben steht. Mir ist egal, was angeblich irgendeinem Idioten in Sandalen versprochen wurde, dessen einziger Anspruch auf Ruhm darin bestand, dass er seiner schwachköpfigen Idee zuliebe seinem eigenen Sohn die Kehle durchschneiden wollte. Rote Kühe, Patriarchen und Heuschrecken sind mir egal. Alte Knochen im Sand. Meine Heimat ist in meinem Hut. In der Umhängetasche meiner Exfrau.«

Er setzt sich. Zündet sich noch eine Zigarette an.

»Fuck you«, schließt Landsman. »Und Jesus auch, dieses Weichei.«

»Aber Mund halten, Landsman«, sagt Cashdollar weich und tut so, als würde er einen Schlüssel in seinem Mund herumdrehen.

42.

Als Landsman aus dem Ickes Building tritt und den Hut auf seinen geleerten Kopf setzt, stellt er fest, dass die Welt in eine Nebelbank gesegelt ist. Die Nacht ist kalt und klebrig, sie kondensiert auf seiner Brille und bildet Perlen an seinen Mantelärmeln. Korczak Platz ist eine Schüssel hellen Dunstes, hier und dort mit dem Abdruck von Natriumlampen verschmiert. Halbblind und durchgefroren bis auf die Knochen trottet Landsman die Monastir Street entlang bis zur Berlevi Street und dann hinüber zur Max Nordau Street. Er hat eine Zerrung im Rücken, ein Stechen im Kopf und einen scharf pochenden Schmerz in seiner Würde. Der bis vor Kurzem von seinem Hirn ausgefüllte Raum zischt wie Nebel in seinen Ohren, summt wie eine Neonröhre. Landsman hat das Gefühl, seine Seele habe Tinnitus.

Als er sich in die Lobby des Zamenhof schleppt, reicht ihm Tenenboym zwei Briefe. Der eine ist vom Ausschuss und teilt ihm mit, dass die Anhörung bezüglich seines Verhaltens in den Todesfällen Zilberblat und Flederman auf neun Uhr am nächsten Morgen angesetzt ist. Der andere Brief ist eine Mitteilung der neuen Hotelbesitzer. Eine Ms. Robin Navin von der Hotelgruppe Joyce/Generali unterrichtet Landsman davon, dass in den kommenden Monaten aufregende Veränderungen für das Zamenhof ins Haus stünden und es ab dem 1. Januar unter dem Namen »Luxington Parc Sitka« firmieren würde. Teilweise geht die Aufgeregtheit auf die Tatsache zurück, dass Landsmans monatlicher Mietvertrag am 1. Dezember ausläuft. Alle Fächer hinter der Rezeption enthalten lange weiße Umschläge, jeder mit dem gleichen tödlichen Schrägbalken auf schweres Bütten genutet. Nur nicht das Fach mit der Nummer 208. Da liegt nichts drin.

»Haben Sie gehört, was passiert ist?«, sagt Tenenboym, als Landsman von seinem brieflichen Ausflug in die helle nichtjüdische Zukunft des Hotel Zamenhof in die Gegenwart zurückkehrt.

»Ich hab’s im Fernsehen gesehen«, sagt Landsman, obwohl ihm die Erinnerung daran jetzt diesig und aus zweiter Hand vorkommt, ein Konstrukt, das seine Vernehmer durch hartnäckiges Fragen in ihn gepflanzt haben.

»Zuerst meinte man, es wäre ein Versehen«, sagt Tenenboym mit einem zappelnden goldenen Zahnstocher im Mundwinkel. »Araber hätten in einem Tunnel unter dem Tempelberg heimlich Bomben gebaut. Dann meinte man, es wäre Absicht. Dass die einen gegen die anderen kämpfen.«

»Sunniten gegen Schiiten?«

»Kann sein. Ein Raketenwerfer wäre außer Kontrolle geraten.«

»Syrer und Ägypter?«

»Wer auch immer. Der Präsident hat im Fernsehen gesprochen, er meinte, vielleicht müssten sie da rein. Wäre für alle eine Heilige Stadt.«

»Das hat nicht lange gedauert«, sagt Landsman.

Seine einzige weitere Post ist eine Karte, die bei lebenslanger Mitgliedschaft in einem Fitnessclub einen hohen Rabatt in Aussicht stellt. Nach seiner Scheidung hat Landsman dort einige Monate lang trainiert. Damals wurde vorgeschlagen, dass Sport seine Laune heben könne. Es war ein guter Vorschlag. Landsman kann sich nicht mehr erinnern, ob er sich bewahrheitete oder nicht. Die Karte zeigt links einen dicken Juden und rechts einen dünnen. Der linke Jude wirkt abgespannt, schlaflos, skierotisch, ungepflegt, hat Wangen wie zwei Löffel saurer Sahne und zwei stechende, böse kleine Augen. Der Jude rechts ist schlank, gebräunt, locker, selbstsicher und trägt einen gestutzten Bart. Eigentlich sieht er aus wie einer von Litvaks jungen Männern. Der Jude der Zukunft, denkt Landsman. Die Postkarte stellt die unwahrscheinliche Behauptung auf, dass der Jude links und sein Pendant rechts ein und dieselbe Person seien.

»Haben Sie die Leute draußen gesehen?«, fragt Tenenboym, und der goldene Zahnstocher klickt gegen einen Prämolar. »Im Fernsehen?«

Landsman schüttelt den Kopf. »Haben sie getanzt?«

»Und wie. Sind in Ohnmacht gefallen. Haben geweint. Ein Massenorgasmus.«

»Nicht auf leeren Magen, Tenenboym, ich bitte Sie.«

»Haben die Araber gesegnet, weil sie gegeneinander kämpfen. Haben das Gedenken an Mohammed gesegnet.«

»Ganz schön grausam.«

»Einer von diesen Schwarzhüten hat gesagt, jetzt würde er ins Land Israel ziehen und sich einen guten Platz sichern für die Zeit, wenn Messias auftaucht.« Tenenboym nimmt den Zahnstocher aus dem Mund und untersucht die Spitze nach einer Spur von Bodenschätzen, dann führt er ihn enttäuscht wieder ein. »Wenn Sie mich fragen, kann man diese ganzen Spinner in ein großes Flugzeug stecken und rüberschicken, ein schwarzes Jahr auf sie.«

»Das sagen Sie, Tenenboym?«

»Ich setze mich sogar selbst ans Steuer.«

Landsman stopft den Brief der Joyce/Generali-Gruppe zurück in den Umschlag und schiebt ihn Tenenboym über die Theke zu.

»Werfen Sie den für mich weg, Tenenboym, ja?«

»Sie haben noch dreißig Tage, Detective«, sagt Tenenboym. »Sie finden schon was.«

»Darauf können Sie sich verlassen«, sagt Landsman. »Wir werden alle was finden.«

»Es sei denn, es findet uns zuerst, stimmt’s?«

»Was ist mit Ihnen, Tenenboym? Dürfen Sie Ihre Stelle behalten?«

»Mein Status wird noch geprüft.«

»Klingt hoffnungsvoll.«

»Oder hoffnungslos.«

»Das eine oder das andere.«

Mit dem Elevatoro fährt Landsman in den fünften Stock. Er geht den Korridor entlang, den Mantel an einem gekrümmten Finger über die Schulter geworfen, und löst mit der anderen Hand seine Krawatte. Die Tür zu seinem Zimmer summt ihr schlichtes Gedicht: fünf null fünf. Es bedeutet nichts. Lichter im Nebel. Drei arabische Ziffern. Eigentlich in Indien erfunden, wie auch das Schachspiel, aber erst durch die Araber verbreitet. Sunniten, Schiiten. Syrer, Ägypter. Landsman fragt sich, wie lange es dauert, bis die verschiedenen kämpfenden Splittergruppen in Palästina merken, dass keine von ihnen für das Attentat verantwortlich ist. Ein, zwei Tage, vielleicht eine Woche. Gerade lange genug, um eine verhängnisvolle Verwirrung auszulösen, sodass Litvak seine Jungs an Ort und Stelle befördern und Cashdollar Unterstützung aus der Luft schicken kann. Und ehe man sich versieht, ist Tenenboym Nachtportier des Luxington Parc, Jerusalem.

Landsman legt sich aufs Bett und holt das Reiseschachbrett hervor. Bei der Verfolgung des Mörders von Mendel Shpilman und Naomi Landsman hüpft seine Aufmerksamkeit von einem Quadrat zum anderen, huscht an den Feldlinien entlang. Zu seiner Überraschung und seiner Erleichterung stellt er fest, dass er schon weiß, wer der Mörder ist, es ist der aus der Schweiz stammende Physiker, Nobelpreisträger und mittelmäßige Schachspieler Albert Einstein. Einstein mit seinem Haarwust, seiner riesigen Strickweste und den Augen, die wie Tunnel tief in die Dunkelheit der Zeit reichen. Landsman verfolgt Albert Einstein über das milchweiße, kalkweiße Eis, hüpft von einem überschatteten Quadrat zum nächsten, springt über relativistische Schachbretter von Schuld und Sühne, über das imaginäre Land der Pinguine und Eskimos, das die Juden nie so recht für sich beanspruchen konnten.

Sein Traum macht einen Rösselsprung, und mit dem ihr eigenen Eifer legt ihm seine kleine Schwester Naomi Einsteins berühmten Beweis für die ewige Wiederkehr des Juden dar, der nur in Form des ewigen Exils der Juden zu erbringen sei, ein Beweis, den der große Mann aus der Beobachtung der flatternden Tragfläche eines Flugzeugs und eines abtreibenden dunklen Rauchpilzes ableitete, der aus dem Hang eines eisigen Berges aufstieg. Landsmans Traum kalbt und bringt weitere langsame Eisbergträume hervor, und das Eis sirrt fluoreszierend. Irgendwann wird das Summen, das Landsman und sein Volk seit Anbeginn der Zeit peinigt und das manche in ihrer Dummheit für die Stimme Gottes halten, im Fenster von Zimmer 505 gefangen wie Sonnenlicht im Herzen eines Eisbergs.

Landsman schlägt die Augen auf. In den Spalten des Rollos sirrt Tageslicht wie eine gefangene Fliege. Naomi ist wieder tot, und dieser Narr von Einstein hat keine Schuld an dem Verbrechen im Fall Shpilman. Landsman weiß überhaupt nichts. Er fühlt einen Schmerz im Bauch, den er zuerst für Trauer hält, doch dann stellt er fest, dass er Hunger hat. Und zwar auf Krautwickel. Er sieht auf seinem Shoyfer nach der Uhrzeit, aber der Akku ist leer. Als Landsman unten an der Rezeption anruft, teilt ihm der Hotelangestellte mit, dass es neun Minuten nach neun am Donnerstagmorgen ist. Krautwickel! Mittwochs ist immer rumänische Nacht im Vorsht, und Mrs. Kalushiner hat am nächsten Morgen oft noch einen Rest übrig. Die alte Krähe macht die besten Sarmalis in Sitka. Leicht und schwer zugleich, eher scharf-pfeffrig als süß-sauer, besprüht mit frischer saurer Sahne, verziert mit zarten Dillzweiglein.

Landsman rasiert sich und zieht seinen Anzug und die Krawatte vom Türknauf an. Er ist bereit, sein eigenes Körpergewicht in Sarmalis zu verzehren. Aber als er nach unten geht, wirft er einen kurzen Blick auf die Uhr über den Postfächern und merkt, dass er neun Minuten zu spät ist für seine Anhörung vor dem Ausschuss.

Als Landsman wie ein Hund auf glatten Fliesen den Korridor des Verwaltungsmoduls hinunter zum Zimmer 102 rutscht, hat er zweiundzwanzig Minuten Verspätung. Er findet dort nichts außer einem langen furnierten Tisch mit fünf Stühlen, jeder für ein Ausschussmitglied, und seiner Vorgesetzten auf der Tischkante, die ihre verschränkten Knöchel baumeln lässt. Ihre spitzen Pumps zielen direkt auf Landsmans Herz. Die fünf großen Lederstühle mit der hohen Rückenlehne sind leer.

Bina sieht aus wie die Hölle, nur noch heißer. Ihr möwenbraunes Kostüm ist zerknittert und falsch geknöpft. Ihr Haar scheint mit einem Plastikstrohhalm zurückgebunden zu sein. Ihre Strumpfhose ist längst fort, ihre Beine sind nackt und mit blassen Sommersprossen besprenkelt. Mit sonderbarer Freude ruft sich Landsman in Erinnerung, dass sie Feinstrümpfe mit Laufmasche immer in den Müll warf, sie zu einem wütenden Pompon knüllte, bevor sie im Eimer landeten.

»Hör auf, mir auf die Beine zu gaffen!«, sagt sie. »Lass das, Meyer. Sieh mir ins Gesicht!«

Landsman gehorcht und schaut direkt in die Bohrlöcher ihres doppelläufigen Blicks.

»Ich habe verschlafen«, sagt er. »Tut mir leid. Die haben mich vierundzwanzig Stunden festgehalten, und als —«

»Mich einunddreißig Stunden«, sagt sie. »Ich bin gerade rausgekommen.«

»Also scheiß erst mal auf mich und mein Gejammer.«

»Erst mal.«

»Wie war’s bei dir?«

»Die waren so nett«, sagt Bina verbittert. »Ich bin total zusammengeklappt. Hab denen alles erzählt.«

»Ich auch.«

»Nun«, sagt sie und weist mit erhobenen Handflächen auf den Raum um sich herum, als hätte sie gerade etwas verschwinden lassen. Ihr lustiger Tonfall ist kein gutes Zeichen. »Rate mal!«

»Ich bin tot«, versucht es Landsman. »Der Ausschuss hat mich mit Ätzkalk bestreut und untergepflügt.«

»Es sieht folgendermaßen aus«, sagt sie. »Eben gerade, um acht Uhr neunundfünfzig, bekam ich hier in diesem Raum einen Anruf auf dem Handy. Nachdem ich mich zuvor bei der Bundespolizei völlig zum Affen gemacht und mir den Hals wundgeschrien hatte, damit die mich freilassen und ich rechtzeitig hier bin, um sicherzustellen, dass ich auf dem Stuhl hinter dir sitze, im Falle des Falles aufstehe und meinen Detective unterstütze.«

»Hm.«

»Die Anhörung wurde abgesagt.«

Bina greift in ihre Tasche, wühlt darin herum und zieht eine Waffe hervor. Landsman fügt sie ein in Binas Arsenal aus Gewehrlauf-Blick und spitzen Schuhen. Eine M-39 mit kurzem Lauf. An einem Faden baumelt ein Etikett. Bina wirft sie im Bogen in Richtung von Landsmans Kopf. Er kann die Waffe fangen, bekommt aber die Dienstmarkenhülle nicht richtig zu fassen, die hinterhergeflogen kommt. Dann folgt ein kleines Tütchen mit Landsmans Anstecken Eine weitere kurze Durchsuchung ihrer Tasche bringt ein tödlich wirkendes Formular mit seinen Henkern, der dreifachen Ausfertigung, hervor. »Wenn Sie weitermachen und sich den Hals mit diesem DPD 2255 brechen, Detective Landsman, sind Sie bei voller Bezahlung und allen Vorzügen wieder aktives Mitglied der Distriktpolizei, Abteilung Sitka Central.«

»Ich bin also wieder im Dienst.«

»Für wie lange, fünf Wochen noch? Jubel …«

Landsman wiegt die Scholem in der Hand wie ein shakespearischer Held den Totenschädel.

»Ich hätte eine Million Dollar verlangen sollen«, sagt er. »Ich wette, die hätte er auch noch aufgetrieben.«

»Er soll verflucht sein«, sagt Bina. »Die sollen alle verflucht sein. Ich hab immer gewusst, dass es sie gibt. Da unten, in Washington. Und da oben, über unseren Köpfen. Die halten die Fäden in der Hand. Geben den Ton vor. Natürlich hab ich das gewusst. Wir alle wussten es. So sind wir schließlich groß geworden, oder? Wir sind hier nur gelitten. Gäste des Hauses. Aber die ganze Zeit wurden wir gar nicht beachtet. Uns selbst überlassen. Es war leicht, sich etwas vorzumachen. Sich einzubilden, eine gewisse Autonomie zu besitzen, in Maßen, nichts Großartiges. Ich dachte, ich würde im Dienst der Allgemeinheit stehen. Verstehst du? Der Gemeinschaft dienen. Das Gesetz hochhalten. Aber in Wirklichkeit habe ich nur für Cashdollar gearbeitet.«

»Du meinst, ich hätte entlassen werden sollen, oder?«

»Nein, Meyer.«

»Ich weiß, dass ich immer ein bisschen übertreibe. Auf meinen Bauch höre. Unberechenbar und so weiter.«

»Meyer, glaubst du wirklich, dass ich sauer bin, weil du deinen Ausweis und die Pistole zurückbekommen hast?«

»Ähm, deswegen nicht unbedingt, nein. Aber weil die Anhörung abgesagt wurde. Ich weiß, wie wichtig es dir ist, dass alles nach Vorschrift läuft.«

»Ja, es ist mir wichtig, dass alles nach Vorschrift läuft«, sagt sie mit belegter Stimme. »Ich glaube an das, was geschrieben steht.«

»Ich weiß.«

»Wenn du und ich etwas mehr auf die Vorschriften geachtet hätten«, sagt sie, und etwas Gefährliches scheint sich zwischen ihnen zu erheben. »Du und dein Bauchgefühl, ein schwarzes Jahr auf euch beide.«

Da will er sie ihr mitteilen, die Geschichte, die er sich seit nunmehr drei Jahren erzählt. Wie er, nachdem Django aus ihrem Leib geschält wurde, den Arzt im Gang vor dem OP anhielt. Bina hatte Landsman angewiesen, diesen guten Arzt zu fragen, ob es irgendetwas gäbe, einen Zweck, ein Ziel, eine Studie, dem die halb ausgewachsenen Knochen und Organe zugeführt werden könnten.

»Meine Frau wüsste gerne«, hatte Landsman begonnen und dann gezögert.

»Ob es einen sichtbaren Defekt gab?«, fragte der Arzt. »Nein. Nichts. Das Baby sah ganz normal aus.« Zu spät, der Schrecken blühte schon in Landsmans Gesicht, fügte der Arzt hinzu: »Natürlich heißt das nicht, dass alles in Ordnung war.«

»Natürlich nicht«, sagte Landsman.

Er sah den Arzt nie wieder. Das endgültige Schicksal des kleinen Körpers, des Jungen, den Landsman dem Gott seines düsteren Bauchgefühls geopfert hatte, war etwas, das zu ermitteln Landsman weder das Herz noch die Lust hatte.

»Ich habe denselben beschissenen Deal gemacht, Meyer«, sagt Bina, bevor er ihr beichten kann. »Um meine Ruhe zu haben.«

»Damit du Bulle bleiben kannst?«

»Nein. Du.«

»Danke«, sagt Landsman. »Vielen Dank, Bina. Ich bin dir dankbar.«

Sie drückt ihr Gesicht in die Hände und massiert sich die Schläfen.

»Ich bin dir auch dankbar, Meyer«, sagt sie. »Ich bin dir dankbar, dass du mir klargemacht hast, wie kaputt das alles hier ist.«

»Gern geschehen«, sagt er. »Freut mich, dass ich helfen konnte.«

»Dieses Arschloch von Cashdollar. Bei dem bewegt sich kein Haar. Als ob es auf seinem Kopf festgeschweißt wäre.«

»Er meinte, er hätte nichts mit Naomis Tod zu tun«, sagt Landsman. Er hält inne, beißt sich auf die Lippe. »Er meinte, es war der Typ, der vorher auf seinem Posten saß.«

Landsman versucht, den Kopf hochzuhalten, als er das sagt, doch schnell stellt er fest, dass er auf die Nähte seiner Schuhe blickt. Bina bewegt den Arm, zögert und drückt dann seine Schulter. Zwei geschlagene Sekunden lässt sie die Hand auf ihm ruhen, gerade lang genug, um ein oder zwei Kerben in Landsman zu schlitzen.

»Er hat auch jede Beteiligung bei Shpilman abgestritten. Ich habe aber vergessen, ihn nach Litvak zu fragen.« Landsman sieht auf, und Bina nimmt ihre Hand fort. »Hat Cashdollar dir gesagt, wo sie ihn hingebracht haben? Ist er unterwegs nach Jerusalem?«

»Er tat ganz geheimnisvoll, aber ich glaube, er hatte einfach keine Ahnung. Ich habe ihn telefonieren hören, er meinte, sie würden Gerichtsmediziner aus Seattle holen, die das Zimmer im Blackpool untersuchen sollen. Vielleicht sollte ich das aber auch hören. Ich muss allerdings sagen, dass die mir alle ein bisschen ratlos vorkamen, was unseren Freund Alter Litvak angeht. Meyer, die haben offenbar keine Ahnung, wo er ist. Vielleicht hat er das Geld genommen und ist abgehauen. Er könnte längst auf dem Weg nach Madagaskar sein.«

»Möglich«, sagt Landsman, und dann langsamer: »Möglich.«

»Gott, hilf mir, da kommt wieder so ein Bauchgefühl.«

»Bina, du hast gesagt, dass du mir dankbar bist.«

»Auf zweideutige, ironische Art, ja.«

»Hör zu, ich könnte ein wenig Unterstützung gebrauchen. Ich möchte mir noch einmal Litvaks Zimmer ansehen.«

»Wir können nicht ins Blackpool, Meyer. Der ganze Laden ist von der Bundesbehörde abgeriegelt.«

»Ich will ja nicht ins Blackpool, sondern darunter.«

»Darunter?«

»Ich habe gehört, dass da, nun ja, dass es da eventuell Tunnel geben soll.«

»Tunnel.«

»Warschau-Tunnel werden sie angeblich genannt.«

»Ich soll dir die Hand halten«, sagt sie. »In einem tiefen, dunklen, schrecklichen alten Tunnel.«

»Nur im übertragenen Sinn«, sagt er.

43.

Oben auf der Treppe des Zamenhof holt Bina eine als Schlüsselanhänger konzipierte Taschenlampe aus ihrer Rindsledertasche und reicht sie Landsman. Sie wirbt für oder symbolisiert möglicherweise die Dienste eines Bestattungsinstituts aus Yakovy. Dann räumt Bina verschiedene Akten, einen Packen juristischer Dokumente, eine hölzerne Haarbürste, eine People und einen mumifizierten Bumerang in einem Frischhaltebeutel in ihrer Tasche beiseite, der vielleicht einmal eine Banane gewesen ist, und präsentiert ein an Sadomasospielchen erinnerndes, schlaffes schwarzes Geschirr, an dem eine Art runde Dose hängt. Sie schiebt den Kopf hinein und verstrickt ihr Haar mit dem schwarzen Netz. Als sie sich hinsetzt und den Kopf zu Landsman umdreht, leuchtet eine silberne Linse auf und verblasst wieder. Landsman spürt die drohende Dunkelheit und fühlt, wie sich das Wort Tunnel in seinen Brustkorb gräbt.

Sie gehen die Stufen hinunter, durch den Raum mit den Fundstücken. Der ausgestopfte Marder grinst sie an. Die Seilschlinge an der Tür zum Kriechkeller hängt herab. Landsman versucht sich zu erinnern, ob er sie vor seinem unrühmlichen Rückzug am vergangenen Donnerstagabend wieder über den Haken legte. Er steht da und zerbricht sich den Kopf, dann gibt er auf.

»Ich gehe vor«, sagt Bina.

Sie sinkt auf ihre nackten Knie und arbeitet sich in den Kriechkeller vor. Landsman lässt sich zurückfallen. Sein hämmernder Puls, seine trockene Zunge, seine autonomen Systeme sind in die lästige Geschichte seiner Phobie verstrickt, doch der jedem Juden eigene Detektor, der auf den Empfang von Übertragungen des Messias eingestellt ist, reagiert auf den Anblick von Binas Hintern, reagiert auf die lange, geschwungene Kurve so, als sei ihr Po ein magischer Buchstabe des Alphabets, eine Rune, die die Macht besitzt, den Stein fortzurollen, unter dem Landsman sein Begehren lebendig begraben hat. Ihn durchsticht die Erkenntnis, dass ihm, wie mächtig der Zauber auch ist, den ihr Hintern auf ihn ausübt, dass ihm nie wieder erlaubt sein wird — Wunder über Wunder — hineinzubeißen. Dann verschwindet der Hintern in der Dunkelheit, zusammen mit dem Rest von Bina, und Landsman ist aufgeschmissen. Er murmelt vor sich hin, disputiert mit sich, fordert sich heraus, ihr nachzugehen, und dann sagt Bina: »Los, komm!«, und Landsman gehorcht.

Mit den Fingerspitzen bildet sie einen Bogen um die Sperrholzscheibe, hebt sie an und reicht sie Landsman. Ihr Gesicht flackert im Schein seiner Taschenlampe mit einer juxenden Feierlichkeit, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Als sie jung waren, kletterte er nachts immer in ihr Zimmer, schlich sich durchs Fenster hinein, um mit ihr zu schlafen, und diese Miene hatte sie immer aufgesetzt, wenn sie das Fenster öffnete.

»Da ist eine Leiter!«, sagt sie. »Meyer, die bist du doch nicht runtergestiegen, oder? Als du letztens abends hier warst?«

»Ähm, nein, ich war irgendwie, ich war nicht richtig —«

»Schon gut«, sagt sie sanft. »Ich weiß.«

Sie klettert eine Stahlklampe nach der anderen hinunter, und wieder folgt Landsman ihr. Er hört Binas prustenden Atem, als sie sich fallen lässt, das metallische Kratzen ihrer Schuhe. Dann fällt er selbst in die Dunkelheit. Sie fängt ihn auf, und es gelingt ihr halb, ihn auf den Beinen zu halten. Die Lampe auf Binas Stirn verstreut ihr Licht hierhin, dorthin, dahin, skizziert flüchtig den Tunnel.

Da ist ein weiteres Aluminiumrohr, das rechtwinklig zu dem verläuft, durch das sie gerade gekommen sind. Als Landsman sich aufrichtet, streift sein Hut die gewölbte Rundung. Das Rohr endet direkt hinter ihnen in einem Vorhang aus dumpfer schwarzer Erde und läuft in die andere Richtung geradeaus unter der Max Nordau Street hindurch in Richtung Blackpool. Die Luft ist kühl und planetarisch und enthält eine Spur Eisen. Auf dem Boden liegen Sperrholzplatten, die beiden trampeln darüber, und ihre Lampen offenbaren die dreckigen Stiefelabdrücke hindurchlaufender Männer.

Als sie meinen, die Max Nordau Street ungefähr zur Hälfte unterquert zu haben, treffen sie auf eine zweite Rohrleitung, die nach Osten und Westen führt und diesen Tunnel mit dem Netz verbindet, das die Grünlinge zum Schutz vor einer möglichen zukünftigen Vernichtung anlegten. Tunnel, die zu Tunneln, Lagern, Bunkern führen.

Landsman denkt an die Scharen von Juden, die mit seinem Vater hierherkamen, jene, die nicht vom Leid und Schrecken gebrochen waren, sondern dadurch nur noch entschlossener wurden. Die ehemaligen Partisanen, die Widerstandskämpfer, die kommunistischen Gangster, die linkszionistischen Saboteure — der Pöbel, wie man sie in den Zeitungen im Süden betitelte —, die nach dem Krieg mit ihren vulkanisierten Seelen in Sitka auftauchten und mit Eisbären wie Hertz Shemets ihren kurzen, zum Scheitern verurteilten Kampf um die Vorherrschaft im Distrikt austrugen. Diese kühnen, vernichteten Männer — sie wussten so sicher, wie sie den Geschmack ihrer eigenen Zunge im Mund kannten, dass ihre Retter sie eines Tages verraten würden. Sie marschierten in dieses wilde Land, das noch nie einen Juden gesehen hatte, und bereiteten sich auf den Tag vor, da sie zusammengetrieben, fortgeschickt und gezwungen werden würden, Stellung zu beziehen. Dann waren diese abgefeimten, zornigen Männer und Frauen nacheinander von Onkel Hertz und seinen endlosen Operationen eingespannt, einkassiert, gemästet, aufeinander angesetzt oder unschädlich gemacht worden.

»Nicht alle«, sagt Bina, und ihre Stimme prallt wie die von Landsman an den Aluminiumwänden des Tunnels ab. »Einige haben es sich hier einfach gemütlich gemacht. Sie begannen zu vergessen. Sie fühlten sich zu Hause.«

»Ich schätze, so läuft das immer«, sagt Landsman. »In Ägypten, Spanien, Polen.«

»Sie sind schwach geworden. Das ist menschlich. Sie hatten ihr Leben. Komm.«

Sie folgen den Brettern und gelangen zum nächsten Rohr, das sich über ihnen öffnet, ebenfalls mit Steigeisen versehen.

»Jetzt gehst du vor«, sagt Bina. »Kann ich zur Abwechslung mal dir auf den Hintern gucken.«

Landsman schwingt sich auf das unterste Eisen und steigt nach oben. Ein Muster schwachen Lichts dringt durch einen Riss oder ein Loch im Deckel am Ende des Rohrs. Landsman drückt gegen die Luke und schiebt sie hoch, ein schweres Stück Sperrholz, das sich nicht rühren oder biegen will. Er stemmt sich mit den Schultern dagegen.

»Was ist?«, fragt Bina unter ihm. Ihre Lampe scheint ihm wackelnd in die Augen.

»Bewegt sich nicht«, sagt Landsman. »Da muss was drauf stehen. Oder …«

Er tastet nach dem Loch, und seine Hand streift etwas Kaltes, Starres. Er fährt zurück, dann ertasten seine Finger einen Eisenstab, ein Seil, straff gespannt. Landsman scheint mit seiner kleinen Lampe darauf. Ein gummiertes Seil, geknotet und von oben durch das Griffloch geführt, dann festgezogen und am obersten Steigeisen im Rohr festgezurrt.

»Was ist, Meyer? Was haben die gemacht?«

»Sie haben es hinter sich zugebunden, damit ihnen niemand folgen konnte«, sagt Landsman. »Und zwar mit einem hübschen langen Seil.«

44.

Ein Gannef-Wind hat das Wetter umschlagen lassen, er weht vom Festland herüber und beraubt die Schatzkammer Sitka ihres Nebels und Regens, hinterlässt nichts als Spinnweben und einen glänzenden Penny im strahlend blauen Gewölbe. Um 12:03 Uhr hat die Sonne bereits auf die Stechuhr gedrückt. Im Sinken taucht sie das Kopfsteinpflaster und den Stuck des Platzes in ein so wundervolles violinfarbenes Licht, dass nur ein Stein nicht gerührt sein könnte. Landsman, einen Fluch auf ihn, mag zwar ein Schammes sein, aber aus Stein ist er nicht.

Auf dem Weg von Westen hinaus nach Verbov Island erschnuppern Bina und er auf der Avenue 225 allenthalben kräftige Duftwolken des brodelnden Zimmes, der in der ganzen Stadt köchelt. Auf dieser Insel ist der Geruch vor Freude und Panik noch intensiver und stärker als irgendwo sonst. Schilder und Banner preisen die bevorstehende Verkündigung des Königreichs David und mahnen die Frommen, sich für die Rückkehr nach Eretz Jisroel zu rüsten. Viele Schilder wirken spontan gefertigt, sind mit tropfenden Buchstaben auf Bettlaken und Fleischerpapier gesprüht. In den Seitenstraßen feilschen Hausfrauen und Händler, versuchen, die Preise für Koffer, konzentrierte Waschlauge, Sonnenschutz, Batterien, Proteinriegel und Ballen tropenleichter Wolle zu drücken oder zu inflationieren. Tiefer in den Gassen, stellt Landsman sich vor, in den Kellern und Torwegen, glüht ein stillerer Markt wie ein mit Asche bedecktes Feuer: Medikamente, Gold, Automatikwaffen. Landsman und Bina fahren an gedrängten Grüppchen von Straßenpredigern vorbei, die kommentieren, welche Familien im Heiligen Land welche Verträge bekommen sollen, welche Mobster das Policengeschäft, den Zigarettenschmuggel, das Waffen-Franchise leiten werden. Zum ersten Mal seit der Weltausstellung und seit Gaystik Weltmeister wurde, vielleicht zum ersten Mal seit sechzig Jahren — wenigstens kommt es Landsman so vor — passiert wirklich etwas im Distrikt Sitka. Als was es sich irgendwann entpuppen wird, davon hat nicht einmal der Weiseste der Straßenrabbis die geringste Ahnung.

Aber als sie das Herz der Insel erreichen, getreu dem verlorenen Herzen des alten Verbov nachgebildet, finden sie nichts, was auf das Ende des Exils, auf wuchernde Preise oder messianische Umwälzung schließen ließe. Unten am breiten Ende des Platzes steht das Haus des Verbover Rebbe und sieht so robust und ewig aus wie in einem Traum. Rauch eilt wie ein Geldbote aus dem üppigen Schornstein, nur um vom Wind überfallen zu werden. Die morgendlichen Rudashevskys lungern düster auf ihrem Posten, und auf dem First des Hauses thront der schwarze Hahn mit flatternden Rockschößen und halb automatischer Mandoline. Auf dem Platz drehen Frauen ihre üblichen Runden, schieben Kinderwagen oder ziehen Mädchen und Jungen hinter sich her, die noch zu klein für die Schule sind. Hier und dort bleiben sie stehen, um ihren Atem miteinander zu ver- und zu entflechten. In den Bogengängen der Häuser tun sich Zeitungsfetzen, Blätter und Staub zu spontanen Drejdl-Spielen zusammen. Zwei Männer in langen Mänteln stemmen sich gegen den Wind, steuern mit schwingenden Schläfenlocken auf das Haus des Rebbe zu. Zum ersten Mal kommt es Landsman so vor, als sei das traditionelle Klagelied der Juden von Sitka, das einem Glaubensbekenntnis oder zumindest einer Philosophie gleichkommt — Keiner schert sich um uns, wir sind vergessen, hier zwischen Hoonah und Hotzeplotz —, in den letzten sechzig Jahren in Wirklichkeit ein Segen gewesen und nicht das Elend, für das es alle in ihrer geographischen und historischen Rückständigkeit hielten.

»Wer will denn schon in diesem Hühnerstall leben?«, sagt Bina, ein Echo von Landsmans Gedanken. Sie schließt ihren orangefarbenen Parka bis oben hin, schlägt die Tür von Landsmans Wagen zu und tauscht traditionelle böse Blicke mit einer Gruppe von Frauen, die gegenüber der Werkstatt des Grenz-Mejwens auf der anderen Straßenseite stehen. »Dieser Ort ist wie ein Glasauge oder ein Holzbein: Man kann ihn nicht verpfänden.«

Vor dem düsteren Schuppen quält der Jungmann einen Lumpen mit einem Besenstiel. Der Lumpen ist mit einem psychotrop riechenden Lösungsmittel getränkt, der junge Kerl wurde zu drei hoffnungslosen Inseln Motoröl auf dem Boden abgeordnet. Mit dem Besenende piesackt und liebkost er den Lumpen. Als er Bina bemerkt, reagiert er mit einer befriedigenden Mischung aus Schrecken und Ehrfurcht. Wenn Bina Messias wäre, der ihn in einem orangefarbenen Parka erlösen wollte, wäre der Gesichtsausdruck des Pischers mehr oder weniger derselbe gewesen. Sein Blick klebt an ihr, mit brutaler Sorgfalt muss er ihn abwenden, als würde er die Zunge von einer gefrorenen Wasserpumpe lösen.

»Reb Zimbalist?«, fragt Landsman.

»Ist da«, sagt der Jungmann und weist mit dem Kinn zur Werkstatttür. »Aber er hat viel zu tun.«

»So viel wie du?«

Der Jungmann versetzt dem Lumpen noch einen planlosen Stoß. »Ich war im Weg.« Er bringt das Zitat mit selbstmitleidiger Bravour und wendet Bina dann eine Wange zu, ohne einen anderen Gesichtszug in diese Geste einzubeziehen. »Sie kann da nicht rein«, sagt er bestimmt. »Das ist unangemessen.«

»Siehst du das hier, mein Schejner?« Bina hat ihren Ausweis herausgefischt. »Ich bin wie Bargeld, das ist immer angemessen.«

Der Jungmann tritt einen Schritt zurück, und der Wischmoppgriff verschwindet hinter seinem Rücken, als sei er ein inkriminierender Gegenstand.

»Wollen Sie Reb Itzik verhaften?«, fragt er.

»Also«, sagt Landsman und geht einen Schritt auf das Kerlchen zu. »Warum sollten wir?«

Eines muss man einem Jeschiwa-Jungmann zugutehalten: Er weiß, wie man eine Frage umgeht.

»Woher soll ich das wissen?«, sagt er. »Wenn ich ein feiner Anwalt wäre, würde ich dann wohl hier rumstehen und mit einem Lumpen am Stiel den Boden wischen?«

In der Werkstatt stehen alle um den großen Kartentisch herum, Itzik Zimbalist und seine Mannschaft. Ein Dutzend strammer Juden in gelben Overalls, die Kinnladen gepolstert von ihren im Netz aufgerollten Bärten. Die Gegenwart einer Frau in der Werkstatt huscht zwischen ihnen umher wie eine lästige Motte. Zimbalist ist der Letzte, der von dem auf dem Tisch ausgebreiteten Problem aufschaut. Als er sieht, wer mit einer neuen dornenvollen Frage zum Grenz-Mejwen kommt, nickt er und brummt ein wenig verstimmt, als kämen Landsman und Bina zu spät zu einem Termin.

»Guten Morgen, die Herren«, sagt Bina mit sonderbar flötender, unüberzeugender Stimme in dieser großen, männlichen Scheune. »Ich bin Inspector Gelbfish.«

»Guten Morgen«, sagt der Grenz-Mejwen.

Sein scharf geschnittenes, fleischloses Gesicht ist so unleserlich wie eine Klinge oder ein Totenkopf. Er rollt den Plan oder die Karte mit geübter Hand zusammen, verschnürt sie mit einer Kordel und schiebt sie in ein Regal hinter sich, wo sie zwischen Tausenden ihresgleichen verschwindet. Seine Bewegungen sind die eines alten Mannes, für den Eile eine vergessene schlechte Angewohnheit ist.

Sein Schritt ist huckelig-ruckelig, aber seine Hände sind gepflegt und akkurat.

»Mittagspause ist vorbei«, ruft er seiner Mannschaft zu, obwohl nicht eine Spur von Essen zu sehen ist.

Die Mitarbeiter zögern, bilden einen unregelmäßigen Eruw um den Mejwen, bereit, ihn vor jedem weltlichen Ärger zu schützen, der von diesen zwei Dienstmarken in ihrer Mitte ausgehen könnte.

»Vielleicht bleiben Sie besser in der Nähe«, sagt Landsman. »Wir müssen eventuell noch mit Ihnen reden.«

»Wartet in den Autos«, befiehlt Zimbalist. »Ihr seid im Weg.«

Sie gehen durch das Lager zur Garage. Einer dreht sich um, fasst sich zweifelnd an den aufgerollten Bart.

»Da die Mittagspause jetzt vorbei ist, Reb Itzik«, sagt er, »wäre es da in Ordnung, wenn wir zu Abend essen?«

»Hängt das Frühstück gleich mit dran«, sagt Zimbalist. »Ihr werdet die ganze Nacht zu tun haben.«

»So viel Arbeit?«, sagt Bina.

»Soll das ein Witz sein? Die brauchen Jahre, um das alles einzupacken. Ich brauche mit Sicherheit ein Frachtschiff.«

Er geht zu dem elektrischen Wasserkessel und bereitet drei Gläser vor.

»Nu, Landsman, ich habe gehört, Sie hätten eventuell eine Zeit lang Ihren Ausweis verloren«, sagt der Mejwen.

»Sie hören viel, nicht?«, sagt Landsman.

»Ich höre, was ich höre.«

»Haben Sie vielleicht mal gehört, dass überall unter der Untershtot Tunnel gegraben wurden für den Fall, dass die Amerikaner sich gegen uns wenden und auf die Idee kommen, eine Sonderaktion durchzuführen?«

»Ich würde sagen, da klingelt es bei mir«, sagt Zimbalist. »Nun, da Sie davon sprechen.«

»Dann sind Sie nicht vielleicht zufällig im Besitz eines Plans von diesen Tunneln? Dem man entnehmen kann, wie sie verlaufen, was sie miteinander verbinden und so weiter?«

Immer noch hat der alte Mann ihnen den Rücken zugekehrt. Er reißt die Papiertütchen auf, in denen sich die Teebeutel verstecken.

»Wenn nicht«, sagt er, »was wäre ich dann für ein Grenz-Mejwen?«

»Wenn Sie also, aus welchem Grund auch immer, vorhätten, jemanden unbeobachtet in oder aus dem Keller des Hotel Blackpool auf der Max Nordau Street zu schaffen. Wären Sie dazu in der Lage?«

»Warum sollte ich das tun?«, fragt Zimbalist. »In der Absteige würde ich nicht mal den Chihuahua meiner Schwiegermutter unterbringen.«

Er zieht den Stecker des Kessels, bevor das Wasser kocht, und tränkt einen Teebeutel nach dem anderen. Die Gläser stellt er zusammen mit einem Glas Marmelade und drei kleinen Löffeln auf ein Tablett, und sie setzen sich an seinen Schreibtisch in der Ecke. Die Teebeutel geben ihre Farbe nur widerwillig an das lauwarme Wasser ab. Landsman reicht Papirossen herum und zündet sie an. Aus den Wagen dringen die Geräusche schreiender oder lachender Männer, Landsman kann es nicht richtig beurteilen.

Bina läuft durch die Werkstatt, bewundert die Menge und Vielfalt von Seilen und steigt vorsichtig um ein verknotetes Drahtgewirr herum, graues Gummi mit einem blutroten Kupferstummel.

»Schon mal einen Fehler gemacht?«, fragt Bina den Grenz-Mejwen. »Jemandem gesagt, er könne etwas tragen, obwohl es nicht erlaubt ist? Mal eine Linie gezogen, wo keine nötig war?«

»Ich traue mich nicht, Fehler zu machen«, sagt Zimbalist. »Am Sabbat etwas tragen, das ist ein schwerer Verstoß.

Wenn die Leute meinen, dass sie sich auf meine Karten nicht mehr verlassen können, bin ich erledigt.«

»Wir haben immer noch nicht den ballistischen Fingerabdruck der Waffe, mit der Mendel Shpilman getötet wurde«, sagt Bina vorsichtig. »Aber du hast die Wunde gesehen, Meyer.«

»Ja.«

»Sah sie aus, als stammte sie von einer, sagen wir mal, Glock oder einer TEC-9 oder einer anderen Automatik?«

»Meiner unmaßgeblichen Meinung nach«, sagt Landsman, »nicht.«

»Du hast viel wertvolle Zeit mit Litvaks Mannschaft und ihren Feuerwaffen verbracht.«

»Habe jede Minute genossen.«

»Hast du in ihrer Spielzeugkiste irgendwas gesehen, das keine Automatik war?«

»Nein«, sagt Landsman. »Nein, Inspector, das habe ich nicht.«

»Was beweist das?«, fragt Zimbalist und lässt sein zartes Gesäß in das aufblasbare Donutkissen auf seinem Schreibtischstuhl sinken. »Noch wichtiger: Was interessiert mich das?«

»Abgesehen natürlich von Ihrem allgemeinen Interesse, dass in diesem Fall der Gerechtigkeit Genüge getan wird«, sagt Bina.

»Abgesehen davon«, sagt Zimbalist.

»Detective Landsman, glauben Sie, dass Alter Litvak Shpilman umgebracht hat oder den Mord an ihm in Auftrag gab?«

Landsman schaut dem Grenz-Mejwen ins Gesicht und sagt: »Nein. Das hätte er nie getan. Er brauchte Mendel nicht nur. Der Jid hatte begonnen, an Mendel zu glauben

Zimbalist blinzelt, nestelt an seiner Nase herum und denkt darüber nach, als sei es ein Gerücht über einen neuen Wasserlauf, der ihn zwingt, eine seiner Landkarten umzuzeichnen.

»Das glaube ich nicht«, beschließt er. »Jeder andere. Alle anderen. Aber nicht er.«

Landsman hat keine Lust zu streiten. Zimbalist greift nach seinem Tee. Eine rostige Ader windet sich im Wasser wie ein Band in einer Murmel.

»Was würden Sie tun, wenn sich etwas, von dem Sie allen erzählt hätten, es wäre eine Linie auf Ihrer Landkarte«, sagt Bina, »wenn sich das als, sagen wir mal, Falte erwiese? Als Haar? Als verirrter Strich? Irgend so etwas. Würden Sie das gestehen? Würden Sie zum Rebbe gehen? Würden Sie zugeben, dass Sie einen Fehler gemacht haben?«

»Das würde nie passieren.«

»Aber wenn doch. Könnten Sie damit leben?«

»Und wenn Sie wüssten, Inspector Gelbfish, dass Sie einen Unschuldigen viele Jahre ins Gefängnis gebracht hätten, vielleicht für den Rest seines Lebens, könnten Sie damit leben?«

»Das passiert ständig«, sagt Bina. »Und hier stehe ich.«

»Nun gut«, sagt der Mejwen. »Ich nehme an, Sie wissen, wie ich mich fühle. Das Wort ›unschuldig‹ verwende ich übrigens sehr unbedacht.«

»Ich auch«, sagt Bina. »So viel steht fest.«

»In meinem ganzen Leben habe ich nur einen Mann gekannt, für den ich dieses Wort verwenden würde.«

»Dann haben Sie mir etwas voraus«, sagt Bina.

»Mir auch«, sagt Landsman und vermisst Mendel Shpilman, als seien sie jahrelang die besten Freunde gewesen. »Muss ich leider sagen.«

»Wissen Sie, was die Leute erzählen?«, fragt Zimbalist. »Diese Genies, unter denen ich wohne?«

»Sie sagen, dass Mendel wiederkommt.«

»Sie sagen, dass alles genau so geschieht, wie es geschrieben steht. Dass Mendel in Jerusalem sein wird, wenn sie hinkommen, dass er dort auf sie wartet. Um über Israel zu herrschen.«

Tränen laufen die hohlen Wangen des Grenz-Mejwens hinab. Nach einer Weile holt Bina ein sauberes, gebügeltes Taschentuch aus ihrer Jacke. Zimbalist nimmt es und betrachtet es eine Zeit lang. Dann bläst er ein großes Tekiah mit dem Schofar seiner Nase.

»Ich würde ihn gerne wiedersehen«, sagt er. »Das gebe ich zu.«

Bina zieht sich den Gurt ihrer Tasche über die Schulter, die sofort wieder ihre Mission aufnimmt, ihre Besitzerin niederzudrücken.

»Packen Sie Ihre Sachen, Mr. Zimbalist.«

Der alte Mann wirkt verblüfft. Er bläst die Lippen auf, als versuche er, eine unsichtbare Zigarre zu entzünden. Er greift zu einer Lederschlaufe, die auf seinem Schreibtisch liegt, schlägt einen Knoten hinein und legt sie wieder hin. Dann hebt er sie auf und entknotet sie.

»Meine Sachen«, sagt er schließlich. »Wollen Sie damit sagen, dass ich verhaftet bin?«

»Nein«, sagt Bina. »Aber ich möchte gerne, dass Sie mit uns kommen, damit wir uns noch etwas ausführlicher unterhalten können. Vielleicht möchten Sie Ihren Anwalt anrufen.«

»Meinen Anwalt«, sagt er.

»Ich glaube, dass Sie Alter Litvak geholfen haben, aus seinem Hotelzimmer zu fliehen. Ich glaube, Sie haben etwas mit ihm gemacht, ihn auf Eis gelegt, ihn vielleicht sogar getötet. Das würde ich gerne herausfinden.«

»Sie haben keine Beweise«, sagt Zimbalist. »Sie raten nur herum.«

»Sie hat einen kleinen Beweis«, sagt Landsman.

»Ungefähr einen Meter lang«, sagt Bina. »Kann man einen Mann mit einem Meter Seil erhängen, Mr. Zimbalist?«

Der Mejwen schüttelt den Kopf, halb verärgert, halb belustigt. Er hat seine Haltung und Gelassenheit zurückgewonnen.

»Sie verschwenden nur meine und Ihre Zeit«, sagt er. »Ich habe eine Menge Arbeit vor mir. Und Sie haben nach Ihrem eigenen Eingeständnis, Ihrer eigenen Theorie, nicht denjenigen gefunden, der Mendel umgebracht hat. Bei allem Respekt, aber warum kümmern Sie sich nicht darum und lassen mich in Ruhe? Kommen Sie wieder, wenn Sie den vermeintlichen Mörder gefunden haben, dann erzähle ich Ihnen, was ich über Litvak weiß, was im Moment und offiziell und für alle Zeiten nichts ist.«

»So läuft das nicht«, sagt Landsman.

»In Ordnung«, sagt Bina.

»In Ordnung!«, sagt Zimbalist.

Landsman sieht Bina an. »In Ordnung?«

»Wir finden den Mörder von Mendel Shpilman«, sagt Bina. »Und Sie geben uns Ihre Informationen. Hilfreiche Informationen über Litvaks Verschwinden. Wenn er noch lebt, liefern Sie ihn mir aus.«

»Abgemacht«, sagt der Grenz-Mejwen. Er schiebt seine rechte Klaue vor, die nur aus Flecken und Knöcheln besteht, und Bina ergreift sie.

Landsman ist etwas benommen. Er erhebt sich und reicht dem Grenz-Mejwen ebenfalls die Hand. Dann folgt er Bina aus der Werkstatt in den schwindenden Tag und erschreckt sich noch mehr, als er sieht, dass Bina weint. Anders als bei Zimbalist sind es Tränen der Wut.

»Ich kann es nicht glauben«, sagt sie und macht Gebrauch von einem Taschentuch aus ihrem endlosen Vorrat. »Das ist normalerweise deine Art.«

»Das machen in letzter Zeit mehrere Leute, die ich kenne«, sagt Landsman. »Sich plötzlich wie ich benehmen.«

»Wir sind Gesetzeshüter. Wir halten das Gesetz aufrecht.«

»Wir halten uns an die Vorschriften«, sagt Landsman. »Mehr oder weniger.«

»Fick dich.«

»Willst du wieder reingehen und ihn verhaften?«, fragt er. »Können wir tun. Wir haben das Kabel aus dem Tunnel. Wir können ihn festhalten. Und dann weitersehen.«

Sie schüttelt den Kopf. Der Jungmann auf seiner kleinen Landkarte von Flecken starrt sie an, zieht seine schwarze Sergehose hoch und lässt sich nichts entgehen. Landsman beschließt, dass es besser ist, wenn er Bina hier rausbringt. Zum ersten Mal seit drei Jahren legt er den Arm um sie und leitet sie hinüber zum Super Sport, dann geht er auf seine Seite und schlüpft hinters Lenkrad.

»Das Gesetz«, sagt sie. »Ich weiß nicht mal mehr, über was für ein Gesetz ich rede. Ich denke mir den ganzen Scheiß bloß aus.«

Schweigend sitzen sie da, und Landsman ringt mit dem immerwährenden Polizistendilemma, verpflichtet zu sein, das Naheliegende festzustellen.

»Irgendwie mag ich diese verrückte neue Bina und so«, sagt er. »Aber ich muss wohl darauf hinweisen, dass wir keine richtigen Anhaltspunkte im Fall Shpilman haben. Keine Zeugen. Keine Verdächtigen.«

»Nun, dann besorgen du und dein Kollege mir besser mal schleunigst einen Verdächtigen«, sagt sie. »Oder?«

»Ja, Ma’am.«

»Fahren wir.«

Er startet den Motor und legt den Gang ein.

»Warte mal«, sagt sie. »Was ist das denn?«

Auf der anderen Seite des Platzes hält ein großer schwarzer Geländewagen an der Ostseite des Shpilman-Hauses. Zwei Rudashevskys steigen aus. Einer geht nach hinten, um den Kofferraum zu öffnen. Der andere wartet neben dem Wagen, die Hände locker auf dem Rücken verschränkt. Kurz darauf kommen zwei weitere Rudashevskys aus dem Haus, schleppen mehrere Hundert Kubikmeter offenbar handbemalter französischer Koffer heraus. Schnell und ohne große Rücksicht auf die Gesetze der Geometrie gelingt es den vier Rudashevskys, alle Koffer und Taschen hinten in den Geländewagen zu quetschen.

Nachdem sie diese Großtat vollbracht haben, bricht ein erheblicher Teil des Hauses ab und fällt ihnen in einem wunderschönen rehbraunen Alpakamantel in die Arme. Der Verbover Rebbe schaut nicht hoch oder zurück oder auf die Welt, die er aufgebaut hat und nun verlässt. Er gestattet den Rudashevskys, ihren Origami mit ihm zu veranstalten, sie klappen ihn und seine Gehstöcke auf den Rücksitz des Fahrzeugs. Der Jid gesellt sich zu seinem Gepäck und rollt davon.

Fünfundfünfzig Sekunden später fährt ein zweiter Geländewagen vor, und man hilft zwei verschleierten Frauen in langen Kleidern zusammen mit ihrem Gepäckturm und ihren zahlreichen Kindern auf den Rücksitz. Diese Prozedur mit Frauen und Kindern und schwarzen Limousinen wiederholt sich in den folgenden elf Minuten.

»Hoffentlich gibt es so riesengroße Flugzeuge«, sagt Landsman.

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagt Bina. »Du?«

»Ich glaube nicht. Und Big Shprintzl auch nicht.«

Eine halbe Sekunde später klingelt Binas Shoyfer.

»Gelbfish. Ja. Haben wir uns schon gedacht. Ja. Verstanden.«

Sie klappt das Handy zu.

»Fahr um das Haus herum nach hinten«, sagt sie. »Sie hat deinen Wagen gesehen.«

Landsman fährt den Super Sport durch eine schmale Gasse auf einen Hof hinter dem Haus des Rebbes. Abgesehen von seinem Auto ist dort nichts, das vor hundert Jahren fehl am Platz gewesen wäre. Steinplatten, Stuckmauern, Bleiglas, eine lange, holzverkleidete Galerie. Die Steinfliesen sind glatt, Wasser tropft aus Farnen in Blumentöpfen in der Galerie.

»Kommt sie raus?«

Bina antwortet nicht, und kurz darauf öffnet sich eine blaue Tür in einem flachen Flügel des großen, hohen Hauses. Der Gebäudetrakt steht in schiefem Winkel zum Rest des Baus und sackt mit malerischer Präzision durch. Batsheva Shpilman ist immer noch mehr oder weniger für eine Beerdigung gekleidet, ihr Kopf und ihr Gesicht sind hinter einem langen, hauchdünnen Schleier verborgen. Sie überschreitet nicht die Lücke von vielleicht zweieinhalb Metern, die sie vom Auto trennt; sie steht einfach auf der Schwelle, und im Dunkeln hinter ihr erhebt sich die treue Gestalt von Shprintzl Rudashevsky. Bina lässt das Fenster herunter.

»Fahren Sie nicht?«, fragt Bina.

»Haben Sie ihn gefasst?«

Bina spielt keine Spielchen und stellt sich nicht dumm. Sie schüttelt einfach den Kopf.

»Dann fahre ich auch nicht.«

»Es kann ein bisschen dauern. Es kann länger dauern, als wir Zeit haben.«

»Das hoffe ich auf gar keinen Fall«, sagt Mendel Shpilmans Mutter. »Dieser Zimbalist schickt seine Idioten in den gelben Schlafanzügen zu uns rüber, um jeden Stein in diesem Haus zu nummerieren, damit es zerlegt und in Jerusalem wieder zusammengesetzt werden kann. Wenn ich in zwei Wochen noch da bin, muss ich in Shprintzls Garage schlafen.«

»Das wäre mir eine große Ehre«, sagt entweder ein sehr feierlich sprechender Esel oder Shprintzl Rudashevsky hinter der Frau des Rebbe.

»Wir werden ihn fassen«, sagt Bina. »Detective Landsman hat es mir gerade geschworen.«

»Ich weiß, was seine Versprechen wert sind«, sagt Mrs. Shpilman. »Sie auch.«

»Hey!«, sagt Landsman, aber sie hat sich schon wieder umgedreht und ist in das schiefe Haus zurückgegangen, aus dem sie herauskam.

»Gut«, sagt Bina und klatscht in die Hände. »Fangen wir an. Was machen wir jetzt?«

Landsman klopft auf das Lenkrad, denkt an seine Versprechen und ihren Wert. Er war Bina nie untreu. Doch es besteht kein Zweifel, dass es Landsmans mangelnde Treue war, die ihre Ehe zerstörte. Ein treuer Glaube nicht an Gott oder an Bina selbst und ihren Charakter, sondern an die grundlegende Überzeugung, dass alles, was ihnen seit ihrem ersten Kennenlernen widerfuhr, Gutes wie Schlechtes, vorherbestimmt war. Der dumme Kojotenglaube, der einen in der Luft hält, solange man sich selbst einredet, fliegen zu können.

»Den ganzen Tag habe ich schon Appetit auf Krautwickel«, sagt er.

45.

Vom Sommer 1986 bis zum Frühjahr 1988, als sie den Wünschen von Binas Eltern trotzten und zusammenzogen, schlich sich Landsman in das Haus der Gelbfishs, um mit Bina zu schlafen. Jede Nacht, außer wenn sie Streit hatten, und manchmal auch im dicksten Streit, kletterte Landsman die Regenrinne hinauf und purzelte durch Binas Zimmerfenster, um sich das schmale Bett mit ihr zu teilen.

An diesem Abend brauchte er länger, und es kostete ihn mehr Anstrengung, als seine Eitelkeit bereit ist zuzugeben. Auf halbem Weg, direkt über Mr. Oyshers Esszimmerfenster, rutschte Landsmans linker Slipper ab, sodass er gefährlich über der schwarzen Leere des Gelbfish’schen Hinterhofs baumelte. Die Sterne über ihm, der Große Bär und die Schlange, tauschten ihre Plätze mit dem Rhododendron und dem Wrack des nachbarlichen Sukkoh. Im Ringen riss sich Landsman das Hosenbein am Aluminiumhalter auf, sein ewiger Feind im Kampf um die Vorherrschaft über die Regenrinne. Das Vorspiel zwischen den Liebenden begann damit, dass Bina ein Taschentuch zusammenballte, um die blutende Wunde auf Landsmans Schienbein zu stillen. Dieses Schienbein mit den Flecken und Sprossen, mit dem sonderbaren Midlife-Flaum schwarzer Haare.

Da liegen sie nun, auf der Seite, ein Paar alternder Jids, zusammengeklebt wie die Blätter eines Albums. Binas Schulterblätter drücken gegen Landsmans Brust. Die Knubbel seiner Kniescheiben sind in ihre weichen, feuchten Kniekehlen eingepasst. Seine Lippen blasen sanft über die Teetasse ihres Ohres. Und ein Teil von Landsman, der sehr lange Symbol und Schauplatz seiner Einsamkeit war, hat Obdach gefunden in der ihm vorgesetzten Beamtin, mit der Landsman einmal zwölf Jahre verheiratet war. Obwohl, es muss gesagt werden, dass das Unterkommen in ihr heikel geworden ist. Ein ordentliches Niesen, und er könnte draußen sein.

»Die ganze Zeit«, sagt Bina. »Zwei Jahre.«

»Die ganze Zeit.«

»Nicht einmal.«

»Nichts.«

»Warst du nicht einsam?«

»Ziemlich.«

»Schwermütig?«

»Schwerstmütig. Aber nie traurig oder einsam genug, um mir einzureden, dass wahlloser Sex mit irgendeiner Jüdin meine Laune irgendwie heben würde.«

»Ehrlich gesagt, macht wahlloser Sex das Ganze nur noch schlimmer«, sagt sie.

»Du sprichst aus Erfahrung.«

»Ich habe mit ein, zwei Männern in Yakovy geschlafen. Falls du das wissen wolltest.«

»Komisch«, sagt Landsman nachdenklich. »Ich glaube, das wollte ich gar nicht wissen.«

»Zwei oder drei.«

»Ich brauche kein Protokoll.«

»So, nu«, sagt sie, »du hast einfach auf Handbetrieb umgestellt?«

»Mit einer Disziplin, die du bei einem so aufmüpfigen Jid wie mir vielleicht überraschend finden würdest.«

»Und was ist jetzt?«, sagt sie.

»Jetzt? Das ist Wahnsinn«, sagt er. »Von unbequem ganz zu schweigen. Außerdem glaube ich, mein Bein blutet noch.«

»Ich meinte«, sagt sie, »wie ist es jetzt? Fühlst du dich einsam?«

»Das soll wohl ein Witz sein, was? Eingequetscht in diesem Brotkasten!«

Er vergräbt die Nase im schweren, weichen Geraspel von Binas Haar und atmet tief ein. Rosinen, Essig, eine salzige Note vom Schweiß ihres Nackens.

»Wie riecht das?«

»Rot«, sagt er.

»Tut es nicht.«

»Es riecht nach Rumänien.«

»Du riechst wie ein Rumäne«, sagt sie. »Mit diesen schrecklich beharrten Beinen.«

»Ich bin ein alter Knacker geworden.«

»Ich auch.«

»Ich komm nicht mal mehr die Treppe hoch. Das Haar fällt mir aus.«

»Mein Arsch ist eine topographische Landkarte.«

Landsman überprüft diese Aussage mit den Fingern. Furchen und Senken, hier und dort ein erhobener Pickel. Er schlingt die Arme um Binas Taille und greift herum, um in jeder Hand eine Brust zu halten. Zuerst kann er keine Erinnerung an ihre ehemalige Größe oder Form hervorholen, um sie mit dem Jetzt zu vergleichen, und er gerät ein wenig in Panik. Dann kommt er zu dem Schluss, dass sie so sind, wie sie immer waren, sich genau von seiner Handfläche plus ausgestreckten Fingern umspannen lassen, geformt aus einem geheimnisvollen Gemisch von Schwerkraft und Schwung.

»Ich kletter die Regenrinne aber nicht wieder runter«, sagt er. »So viel ist sicher.«

»Ich habe dir gesagt, du kannst die Treppe nehmen. Das mit der Regenrinne war deine Idee.«

»Das war alles meine Idee«, sagt er. »War immer meine Idee.«

»Das ist nichts Neues für mich«, sagt sie.

Lange liegen sie da, ohne etwas zu sagen. Landsman spürt, wie sich die Haut neben ihm langsam mit dunklem Wein füllt. Einige Minuten später beginnt Bina zu schnarchen. Es besteht kein Zweifel, dass ihr Schnarchen sich in den letzten zwei Jahren nicht geändert hat. Es ist ein Summen über zwei Rohrblätter, ein Hummel-Continuo mongolischen Kehlgesangs, das die ruhige Erhabenheit eines atmenden Wals verbreitet. Langsam driftet Landsman ab, über Binas Bett und ihren flüsternden Atem. In ihren Armen, in ihrem Geruch auf dem Bettlaken, ein kräftiger, aber angenehmer Geruch nach neuen Lederhandschuhen, fühlt sich Landsman zum ersten Mal seit Jahren sicher. Schläfrig und zufrieden. Guck dir das an, Landsman, denkt er. Gegen diesen Geruch nach edlen Ziegenlederhandschuhen und diese Hand auf deinem Bauch hast du ein Leben in Schweigen getauscht.

Er setzt sich auf, hellwach, feige und voller Hass auf sich selbst, fühlt sich dieser edlen Ziegenleder-Frau in seinen Armen unwürdiger denn je. Ja, schon klar, das sieht Landsman ein, geh kacken ins Meer, dass er nicht die richtige, sondern die einzige Wahl getroffen hat. Ihm wird klar, dass Polizisten seit Anbeginn des Polizeiwesens aus der Notwendigkeit eine Tugend gemacht haben, die düsteren Taten der Jungs in der obersten Etage zu vertuschen. Ihm wird klar, dass die Jungs in der oberen Etage eine andere Möglichkeit finden würden, um ihn zum Schweigen zu bringen — aber dann zu ihren Bedingungen —, falls er versuchen würde, jemandem zu erzählen, was er weiß, zum Beispiel Dennis Brennan. Warum also rasselt sein Herz wie die Blechtasse eines Knastbruders an den Gittern seines Brustkorbs entlang? Warum kommt ihm Binas duftendes Bett auf einmal wie eine nasse Socke vor, wie eine hochkriechende Unterhose, wie ein Schurwollanzug an einem heißen Nachmittag? Man macht ein Geschäft, nimmt, was man kriegen kann, macht weiter. Kommt drüber hinweg. Da hat man also ferne Männer in einem sonnigen Land dazu gebracht, sich gegenseitig umzubringen, damit man ihnen ihr sonniges Land abluchsen und einzäunen kann, sobald diese Typen mal kurz nicht aufpassen. Da wurde also das Schicksal Sitkas besiegelt. Da läuft also der Mörder von Mendel Shpilman, wer auch immer es ist, frei herum. Ja, und?

Landsman steigt aus dem Bett. Unzufriedenheit ballt sich wie ein Kugelblitz um das Schachbrett in seiner Jackentasche. Er klappt es auseinander, betrachtet die achtundvierzig leeren Felder und meint, etwas in dem Zimmer übersehen zu haben. Nein, er hat nichts übersehen; aber wenn er etwas übersehen haben sollte, ist es jetzt weg. Nur dass er in dem Zimmer nichts übersehen hat. Aber er muss etwas übersehen haben.

Seine Gedanken sind eine Tätowiernadel, die den Spaten eines Asses schwarz färbt. Sie sind ein Tornado, der immer wieder über denselben verfluchten platten Wohnwagen hinwegzieht. Sie verdichten und verdunkeln sich, bis sie einen winzigen schwarzen Kreis beschreiben: um das Loch in Mendel Shpilmans Hinterkopf.

Er ruft sich die Kulisse in Erinnerung, so wie er sie an dem Abend vorfand, als Tenenboym an seine Tür klopfte. Die blasse, sommersprossige Rückenfläche. Die weiße Unterhose. Die gebrochene Maske der Augen, die vom Bett herabhängende rechte Hand, die über den Boden streichenden Finger. Das Schachbrett auf dem Nachttisch.

Landsman schiebt das Schachbrett auf Binas Nachttisch in das fahle Licht der Lampe aus gelbem Porzellan mit großen gelben Gänseblümchen auf grünem Schirm. Weiß blickt zur Wand. Schwarz — Shpilman, Landsman — blickt ins Zimmer.

Vielleicht ist es der zugleich vertraute und doch fremde Zusammenhang, das bemalte Bettgestell, die Gänseblümchenlampe, die Gänseblümchentapete, die Kommode, in deren oberster Schublade Bina ihr Diaphragma verwahrt.

Oder es ist der abklingende Endorphingehalt in Landsmans Blut. Denn als er auf das Schachbrett schaut, fühlt es sich zum ersten Mal in seinem Leben gut an, auf ein Schachbrett zu schauen. Es fühlt sich sogar angenehm an. Dazustehen und im Kopf die Figuren zu bewegen, scheint die tuschende Tätowiernadel in seinem Hirn zu verlangsamen oder wenigstens zu verschieben. Landsman konzentriert sich auf die Umwandlung bei b8. Was würde passieren, wenn man aus dem Bauern einen Läufer, einen Turm, eine Dame oder einen Springer macht?

Landsman greift nach einem Stuhl, um nun den Platz von Weiß einzunehmen, um eine freundschaftliche Partie gegen Shpilman zu beginnen. Am Schreibtisch in der Zimmerecke ist ein grün gestrichener Stuhl, der zum gänseblümchengrünen Bett passt. Er steht genau da, wo in Shpilmans Zimmer im Zamenhof der Klapptisch im Verhältnis zum Bett stehen würde. Landsman lässt sich auf den grünen Stuhl sinken, richtet die Augen auf das Brett.

Ein Springer, beschließt er. Und dann muss Schwarz den Bauern von d7 setzen — aber wohin? Landsman schickt sich an, diesen Zug auszuführen, nicht aufgrund irgendeiner hilflosen Hoffnung, er könne ihn zum Mörder führen, sondern weil er diese Partie auf einmal unbedingt weiterspielen muss. Und dann springt Landsman auf die Füße, als sei die Sitzfläche unter ihm elektrisch geladen. Mit einer Hand reißt er den grünen Stuhl in die Luft. Vier runde Vertiefungen im flachen weißen Teppich, schwach, aber erkennbar.

Er war immer davon ausgegangen, dass Shpilman, wie alle Portiers behaupteten, niemals Besuch gehabt hatte, dass sein hinterlassenes Spiel eine Art Solitärschach war, aus dem Gedächtnis nachgespielt oder aus dem Buch 300 Schachpartien, vielleicht eine Partie gegen sich selbst. Aber falls Shpilman Besuch hatte, zog dieser Gast möglicherweise einen Stuhl heran, um sich seinem Gegner gegenüber ans Brett zu setzen. Seinem Opfer gegenüber. Und der Stuhl dieses Phantompatzers hätte Vertiefungen im Teppich hinterlassen. Inzwischen wären sie zweifellos verblasst oder mit dem Staubsauger geglättet. Doch auf einem von Shpringers Fotos in den Kartons im Lager des Forensiklabors könnten die Abdrücke noch zu sehen sein.

Landsman steigt in seine Hose, knöpft sein Hemd zu, bindet die Krawatte um. Er nimmt seinen Mantel vom Türhaken und geht mit den Schuhen in der Hand ans Bett, um die Decke noch behaglicher über Bina zu ziehen. Als er sich bückt, um die Nachttischlampe auszuknipsen, fällt ihm eine rechteckige Pappe aus der Manteltasche. Es ist die Karte des Fitnessstudios mit ihrem noch zwei Monate gültigen Angebot lebenslanger Mitgliedschaft. Er mustert die glänzende Kartenseite mit dem verzauberten Juden. Vorher, nachher. Dick, dünn. Hier anfangen, da aufhören. Besonnen, glücklich. Chaos, Ordnung. Exil, Heimat. Vorher: eine akkurate Zeichnung in einem Buch, die schwarzen Quadrate des Bretts sorgfältig schraffiert und kommentiert wie eine Seite des Talmuds, nachher: ein übel mitgenommenes altes Schachbrett mit einem Inhalierstift von Wick auf b8.

Und da spürt Landsman es. Eine Hand auf seiner, zwei Grad wärmer als normal. Ein Beschleunigen, ein Flattern und Schlagen, wie eine Flagge in seinem Kopf. Vorher und nachher. Die Berührung von Mendel Shpilman, feucht, elektrisch, die einen sonderbaren Segen auf Landsman überträgt. Und dann nichts weiter als die kühle Luft in Bina Gelbfishs Kinderzimmer. Die blühende Vagina von O’Keeffe an der Wand. Der Stoffhund Shnapish im Regal neben Binas Armbanduhr und ihren Zigaretten. Und Bina, die sich im Bett aufsetzt, auf einen Ellenbogen stützt und ihn mit demselben Blick beobachtet, mit dem sie diese Kinder auf die unglückliche Pinguin-Piñata einschlagen sah.

»Du machst das immer noch mit dem Summen«, sagt sie. »Wenn du nachdenkst. Wie Oscar Peterson, nur ohne Klavier.«

»Scheiße«, sagt Landsman.

»Was ist, Meyer?«

»Bina!« Das ist Guryeh Gelbfish, das alte pfeifende Murmeltier, auf der anderen Seite des Korridors. Unvermittelt fährt Landsman ein uralter Schreck in die Glieder. »Wer ist da bei dir?«

»Niemand, Pa, geh schlafen!« Dann sagt sie wieder in leisem Flüstern: »Meyer, was ist?«

Landsman setzt sich auf die Bettkante. Vorher, nachher. Die Erregung der Erkenntnis; dann die bodenlose Reue der Erkenntnis.

»Ich weiß jetzt, mit was für einer Waffe Mendel Shpilman erschossen wurde«, sagt er.

»Gut«, sagt Bina.

»Das war keine Schachpartie«, sagt Landsman nach einer Weile. »Da auf dem Brett in Shpilmans Zimmer. Es war ein Problem. Jetzt ist es mir sonnenklar, ich hätte es sofort sehen müssen, die Aufstellung war so abstrus. Shpilman hatte an dem Abend Besuch, und er hat seinem Gast ein Problem präsentiert. Ein kompliziertes.« Landsman stellt die Figuren des Taschenschachspiels auf, ergreift sie selbstsicher, mit ruhiger Hand. »Weiß ist kurz davor, den Bauern umzuwandeln, hier. Weiß will ihn in einen Springer verwandeln. Das nennt sich Unterverwandlung, weil man ihn eigentlich zu einer Dame verwandeln würde. Mit einem Springer glaubt Weiß, drei verschiedene Möglichkeiten zum Matt zu haben. Aber Weiß irrt sich, weil Schwarz — das war Mendel — dadurch die Möglichkeit bekommt, das Spiel in die Länge zu ziehen. Wenn du Weiß bist, musst du ignorieren, was offensichtlich ist. Nur einen nichtssagenden kleinen Zug mit dem Läufer hier auf C2 machen. Zuerst merkst du es nicht mal. Aber wenn du das gemacht hast, führt jeder Zug von Schwarz direkt zum Matt. Sobald Schwarz sich bewegt, erledigt es sich selbst. Es gibt keinen guten Zug mehr für Schwarz.«

»Keinen guten Zug«, sagt Bina.

»Das nennt man Zugzwang«, sagt Landsman. »Es bedeutet, dass es für Schwarz jetzt am besten wäre, einfach auszusetzen.«

»Aber aussetzen darf man beim Schach nicht, oder? Man muss etwas machen, nicht?«

»Ja«, sagt Landsman. »Selbst wenn man weiß, dass es zum eigenen Schachmatt führt.«

Landsman merkt, dass seine Erklärung langsam bei ihr ankommt, nicht als Beweis oder Beleg oder Darlegung eines Schachproblems, sondern als Teil der Geschichte eines Verbrechens. Ein Verbrechen, das gegen einen Mann verübt wurde, der feststellen musste, dass er keinen guten Zug mehr hatte.

»Wie hast du das gemacht?«, fragt sie und kann ein leichtes Staunen über den Beweis seiner geistigen Fitness nicht unterdrücken. »Wie bist du auf diese Lösung gekommen?«

»Ich habe sie gesehen«, sagt Landsman. »Aber zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, was ich vor mir hatte. Es war ein Nachherbild — eigentlich das falsche Bild — zu dem Vorherbild in Shpilmans Zimmer. Ein Brett, auf dem Weiß drei Läufer hat. Nur gibt es kein Schachspiel mit drei weißen Läufern. Deshalb muss man manchmal etwas anderes nehmen, das die nicht vorhandene Figur ersetzt.«

»Zum Beispiel einen Penny? Oder eine Patrone?«

»Jeder kleine Gegenstand, den ein Mann in die Tasche stecken könnte«, sagt Landsman. »Zum Beispiel einen Inhalierstift von Wick.«

46.

»Du hast es im Schach nie weit gebracht, Meyerle, weil es dich nicht genug stört zu verlieren.«

Hertz Shemets liegt, dem Krankenhaus mit einer hässlichen Fleischwunde entsprungen und umgeben von einem Hospitalgeruch aus Zwiebelbrühe und Wintergrünseife, auf der Wohnzimmercouch seines Sohnes. Seine dünnen Unterschenkel staken wie zwei ungekochte Nudeln aus seinem Pyjama. Ester-Malke hat ein Abo auf Berkos großen Ledersessel, Bina und Landsman hocken auf den billigen Plätzen — dem Klappstuhl und der Lederottomane, die zum Sessel gehört. Ester-Malke sitzt schläfrig und unkonzentriert in ihrem Bademantel da. Ihre linke Hand spielt mit etwas in der Tasche. Landsman vermutet, es ist der Schwangerschaftstest von letzter Woche. Binas Hemd hängt aus der Hose, ihr Haar ist durcheinander, es sieht ein wenig aus wie ein Gebüsch, wie eine Art Zierhecke. Landsmans Gesicht im Wandspiegel ist ein Impasto aus Schatten und Schorf. Nur Berko Shemets, der auf dem Couchtisch hockt, macht zu dieser frühen Morgenstunde in seinem säuberlich hochgekrempelten und zerknitterten nashorngrauen Schlafanzug, über dessen Tasche seine Initialen in mausgrauem Crewelgarn gestickt sind, einen wachsamen Eindruck. Das Haar gekämmt, die Wangen für alle Zeiten unvertraut mit Haaren oder Klingen.

»Eigentlich verlier ich lieber«, sagt Landsman. »Um ehrlich zu sein. Wenn ich anfange zu gewinnen, werde ich misstrauisch.«

»Ich hasse es. Am schlimmsten war es für mich, gegen deinen Vater zu verlieren.« Onkel Hertz’ Stimme ist ein bitteres Krächzen, die Stimme seiner eigenen Großtante, die aus dem Grab oder aus der Weichsel nach ihm ruft. Er ist durstig, müde, reumütig und hat Schmerzen, hat jede Medizin abgelehnt, die stärker ist als Aspirin. In seinem Kopf muss es sirren, als hätte man die Motorhaube eines Autos zugeschlagen. »Aber gegen Alter Litvak zu verlieren, das war fast genauso schlimm.«

Die Augenlider von Onkel Hertz flattern, dann senken sie sich über seine Pupillen. Bina klatscht in die Hände, einmal, zweimal, und die Augen springen wieder auf.

»Erzähl, Hertz!«, sagt Bina. »Bevor du müde wirst oder ins Koma fällst oder so. Du hast Shpilman gekannt.«

»Ja«, sagt Hertz. Seine geprellten Augenlider glänzen geädert wie purpurner Quartz oder Schmetterlingsflügel. »Ich kannte ihn.«

»Wo hast du ihn kennengelernt? Im Einstein?«

Er will nicken, doch dann neigt er den Kopf zur Seite, überlegt es sich anders.

»Ich habe ihn schon als kleines Kind gekannt. Aber ich habe ihn nicht wiedererkannt. Als ich ihn wiedersah. Er hatte sich zu stark verändert. Als Kind war er klein und dick. Als Mann nicht mehr. Dünn. Ein Junkie. Er kam im Einstein vorbei, spielte um Drogengeld. Da habe ich ihn hin und wieder gesehen. Frank. Er war kein 08/15-Patzer. Hin und wieder, keine Ahnung, verlor ich fünf oder zehn Dollar gegen ihn.«

»Hast du das auch gehasst?«, fragt Ester-Malke, und obwohl sie überhaupt nichts von Shpilman weiß, scheint sie die Antwort zu ahnen oder zu raten.

»Nein«, sagt ihr Schwiegervater. »Seltsamerweise machte mir das nichts aus.«

»Du mochtest ihn.«

»Ich mag niemanden, Ester-Malke.«

Hertz schiebt die Zunge vor, fährt sich über die Lippen.

Berko erhebt sich vom Stuhl und nimmt einen Plastikbecher vom Couchtisch. Er hält ihn seinem Vater an die Lippen, die Eiswürfel im Becher klirren. Berko hilft Hertz, den Becher zur Hälfte zu leeren, ohne etwas zu verschütten. Hertz dankt ihm nicht. Lange liegt er einfach da. Man kann das Wasser in ihm plätschern hören.

»Letzten Donnerstag«, sagt Bina. Sie schnippt mit den Fingern. »Los! Du bist in sein Zimmer gegangen. Im Zamenhof.«

»Ich ging zu seinem Zimmer. Er hatte mich eingeladen. Er hatte mich gebeten, Melekh Gaystiks Waffe mitzubringen. Er wollte sie sehen. Ich weiß nicht, woher er wusste, dass ich sie habe, ich hab’s ihm nicht gesagt. Er schien eine Menge über mich zu wissen, das ich ihm nie erzählt hatte. Und er erzählte mir die ganze Geschichte. Dass Litvak ihn bedrängte, wieder den Tzaddik zu spielen, um die Schwarzhüte mit ins Boot zu bekommen. Dass er sich vor Litvak versteckt hielt, aber es langsam satthätte. Er hätte sich sein Leben lang versteckt. Also ließ er sich von Litvak finden, bedauerte es aber sofort. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte nicht mehr fixen. Er wollte nicht aufhören. Er wollte nicht sein, was er nicht war, er wusste nicht, wie er sein sollte, was er war. Deshalb fragte er mich, ob ich ihm helfen würde.«

»Wie helfen?«, fragt Bina.

Hertz schürzt die Lippen, zuckt schwach mit den Achseln, und sein Blick schleicht sich davon in eine dunkle Ecke des Zimmers. Er ist fast achtzig Jahre alt, und bisher hat er noch niemals etwas gestanden.

»Er hat mir sein verfluchtes Problem gezeigt, es geht um Matt in zwei Zügen«, sagt Hertz. »Er meinte, er hätte es von einem Russen. Er meinte, wenn ich es löste, würde ich verstehen, wie ihm zumute sei.«

»Zugzwang«, sagt Bina.

»Was ist das?«, fragt Ester-Malke.

»Wenn man keinen guten Zug mehr hat«, sagt Bina. »Aber trotzdem ziehen muss.«

»Ah«, sagt Ester-Malke und verdreht die Augen. »Schach.«

»Seit Tagen treibt mich das in den Wahnsinn«, sagt Hertz. »Ich schaffe kein Matt in weniger als drei Zügen.«

»Läufer auf C2«, sagt Landsman. »Ausrufezeichen.«

Hertz braucht, wie Landsman findet, ziemlich lange, um es mit geschlossenen Augen nachzuvollziehen, doch schließlich nickt sein Onkel.

»Zugzwang«, sagt er.

»Warum, alter Mann? Warum sollte er glauben, du würdest das für ihn tun?«, sagt Berko. »Ihr kanntet euch doch kaum.«

»Er kannte mich. Er kannte mich sehr gut, ich weiß wirklich nicht, woher. Er wusste, wie ungern ich verliere. Dass ich Litvak mit dieser Torheit nicht durchkommen lassen konnte. Das konnte ich einfach nicht. Alles, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe.« Er hat einen bitteren Geschmack im Mund, verzieht das Gesicht. »Und ihr seht ja, was passiert ist. Sie haben’s getan.«

»Bist du durch den Tunnel reingekommen?«, fragt Meyer. »Ins Hotel?«

»Was für ein Tunnel? Ich bin einfach reingegangen. Ich weiß nicht, ob dir das schon aufgefallen ist, Meyerle, aber das ist nicht gerade ein Hochsicherheitstrakt, da, wo du wohnst.«

Zwei oder drei lange Minuten winden sich von der Spule. Draußen auf dem geschlossenen Balkon murren und fluchen Goldy und Pinky und hämmern auf ihre Betten ein wie Gnome an ihren Schmiedeöfen tief unter der Erde.

»Ich habe ihm geholfen, sich einen Schuss zu setzen«, sagt Hertz schließlich. »Ich habe gewartet, bis er weg war. Weit, weit weg. Dann habe ich Gaystiks Pistole genommen. Hab sie ins Kopfkissen gewickelt. Gaystiks ‚38 Detective Special. Hab den Jungen umgedreht, auf den Bauch. In den Hinterkopf. Ging schnell. Er hat nichts gespürt.«

Wieder leckt er sich über die Lippen, und Berko ist mit einem weiteren kühlen Schluck zur Stelle.

»Zu schade, dass du bei dir selbst nicht genauso tüchtig warst«, sagt Berko.

»Ich dachte, ich würde das Richtige tun, ich könnte Litvak damit aufhalten.« Der alte Mann klingt wehleidig, kindisch. »Aber dann haben die Schweine einfach weitergemacht und es ohne ihn versucht.«

Ester-Malke nimmt den Deckel von einem Glas mit gemischten Nüssen auf dem Beistelltisch und stopft sich eine Handvoll in den Mund. »Glaubt nicht, dass mich das alles nicht völlig verstören und entsetzen würde, Freunde«, sagt sie und hievt sich auf die Füße. »Aber ich bin eine müde Dame im ersten Drittel, und ich gehe jetzt ins Bett.«

»Ich bleibe bei ihm sitzen, Süße«, sagt Berko. Er fügt hinzu: »Falls er nur so tut und dann den Fernseher klaut, wenn wir schlafen.«

»Keine Sorge«, sagt Bina. »Er ist bereits verhaftet.«

Landsman steht neben der Couch und beobachtet, wie die Brust des alten Mannes sich hebt und senkt. Hertz’ Gesicht hat die Hohlkehlen und Facetten einer blättrigen Pfeilspitze.

»Er ist ein schlechter Mensch«, sagt Landsman. »War er schon immer.«

»Ja, aber er hat es wiedergutgemacht, indem er auch ein furchtbarer Vater war.« Lange betrachtet Berko Hertz voller Zärtlichkeit und Verachtung. Mit seinem Verband sieht der Alte wie ein verrückter Swami aus. »Was hast du vor?«

»Nichts, was meinst du damit, was ich vorhabe?«

»Weiß nicht, bei dir zuckt es wieder so. Du siehst aus, als hättest du was vor.«

»Was denn?«

»Das frage ich dich.«

»Ich tue gar nichts«, sagt Landsman. »Was soll ich schon tun?«

Ester-Malke bringt Bina und Landsman durch den Flur zur Wohnungstür. Landsman setzt seinen Filzhut auf.

»So«, sagt Ester-Malke.

»So«, sagen Bina und Landsman.

»Ich stelle fest, dass ihr beide zusammen geht.«

»Willst du, dass wir getrennt gehen?«, sagt Landsman. »Ich kann die Treppe nehmen und Bina den Fahrstuhl.«

»Landsman, ich will dir mal was sagen«, sagt Ester-Malke. »Die Leute, die da im Fernsehen überall in Syrien, Bagdad, Ägypten und so randalieren. In London, ja? Autos brennen. Botschaften werden angesteckt. Oben in Yakovy, hast du gesehen, was da passiert ist? Die haben getanzt, die bescheuerten Irren, die haben sich so über diesen ganzen Wahnsinn gefreut, dass der Fußboden durchgebrochen ist und sie in die Wohnung darunter gefallen sind. Zwei kleine Mädchen schliefen im Bett, die wurden zerquetscht. Das ist die Scheiße, auf die wir uns jetzt freuen dürfen. Brennende Autos und mörderische Tänze. Ich habe keine Ahnung, wo mein Kind geboren wird. Mein Schwiegervater, ein Mörder und Selbstmörder, schläft bei mir im Wohnzimmer. Und zwischendurch bekomme ich so komische Schwingungen von euch beiden. Ich will nur kurz sagen, falls Bina und du vorhaben solltet, wieder zusammenzukommen, tut mir leid, aber das kann ich jetzt echt nicht gebrauchen.«

Landsman denkt darüber nach. Jedes Wunder scheint ihm möglich. Dass die Juden sich aufrappeln und Segel setzen ins Gelobte Land, um sich an riesigen Weintrauben gütlich zu tun und den Wüstenwind in ihren Bärten spielen zu lassen. Dass der Tempel wieder errichtet wird, in unseren Tagen schiere. Der Krieg wird ein Ende finden, und überall werden Friede und Überfluss und Gerechtigkeit herrschen, und die Menschheit wird regelmäßig in den Genuss des Schauspiels kommen, den Löwen beim Lamm liegen zu sehen. Jeder Mann wird ein Rabbi sein, jede Frau ein heiliges Buch, und jeder Anzug wird mit zwei Hosen verkauft werden. Schon jetzt mag Meyers Same durch die Dunkelheit auf die Erlösung zuwandern, gegen die Membran stoßen, die das Erbe der Juden, die ihn geschaffen haben, von dem Erbe der Juden trennt, deren Fehler, Kummer, Hoffnungen und Katastrophen in die Erzeugung von Bina Gelbfish einflossen.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich die Treppe nehme«, sagt er.

»In Ordnung, Meyer, mach das«, sagt Bina.

Aber als er schließlich unten angelangt ist, steht sie am Treppenabsatz und wartet auf ihn.

»Warum hast du so lange gebraucht?«, fragt sie.

»Ich musste zwischendurch ein-, zweimal stehen bleiben.«

»Du musst mit dem Rauchen aufhören. Zum zweiten Mal.«

»Mache ich. Werde ich.« Er fischt seine Packung Broadways hervor, fünfzehn sind noch drin, und befördert sie wie eine Münze, die man mit einem Wunsch in einen Brunnen wirft, in hohem Bogen in den Mülleimer der Lobby. Ihm ist ein wenig schwindelig, ein wenig tragisch zumute. Landsman ist reif für die große Geste, den opernhaften Fehler. Manisch ist wahrscheinlich das passende Wort. »Aber deshalb bin ich nicht stehen geblieben.«

»Du bist doch verletzt. Erzähl mir nicht, dass du nicht verletzt bist, wie du hier rumläufst und einen auf harten Kerl machst, obwohl du eigentlich im Krankenhaus liegen müsstest.« Mit den Fingern beider Hände umfasst Bina seine Gurgel, wie eh und je bereit, das Leben aus Landsman zu würgen, um ihm zu zeigen, wie viel er ihr bedeutet. »Hast du schlimme Schmerzen, du Idiot?«

»Nur in meiner Seele, meine Schejne«, sagt Meyer. Auch wenn er es für möglich hält, dass Rafi Zilberblats Kugel etwas mehr als nur seinen Schädel streifte. »Ich musste nur ein paar Mal stehen bleiben. Um nachzudenken. Oder nicht um nachzudenken, ich weiß nicht. Jedes Mal, wenn ich versuche zu atmen, nur mal zehn Sekunden lang, ja, und diese Sache liegt in der Luft, mit der wir sie davonkommen lassen, keine Ahnung, dann habe ich das Gefühl, als würde ich ein klein bisschen ersticken.«

Landsman lässt sich auf ein Sofa fallen, dessen blutergussfarbene Kissen einen starken Sitka-Geruch von Schimmel, Zigaretten und komplizierter Salzigkeit verströmen, teils stürmische See, teils der Schweiß im Innenband eines dicken Filzhuts. Die Lobby des Dnyeper besteht aus blutrotem Samt und vergoldeter Kruste, geschmückt mit vergrößerten handkolorierten Postkarten aus den großen Schwarzmeerurlaubsorten zu Zarenzeiten. Damen mit Schoßhündchen auf sonnenbeschienener Promenade. Grand Hotels, die nie einen Juden beherbergten.

»Er liegt mir wie ein Stein im Magen, dieser Pakt, den wir geschlossen haben«, sagt Landsman. »Liegt schwer da rum.«

Bina verdreht die Augen, Hände in den Hüften, und schaut zur Tür. Dann kommt sie zu ihm, lässt ihre Tasche fallen und sich neben ihn plumpsen. Wie oft, fragt er sich, hat sie schon genug von ihm gehabt und doch immer noch nicht ganz genug?

»Eigentlich kann ich gar nicht glauben, dass du damit einverstanden warst«, sagt sie.

»Ich weiß.«

»Ich bin doch der Arschkriecher.«

»Da sagst du was.«

»Der Speichellecker.«

»Es macht mich fertig.«

»Wenn ich mich nicht mehr darauf verlassen kann, dass du den hohen Tieren sagst, sie könnten dich mal, Meyer, warum behalte ich dich dann noch?«

Da versucht er sie ihr zu erklären — seine Überlegungen, die ihn zu seiner eigenen, persönlichen Version eines Paktes führten. Er nennt einige kleine Gründe — die Konservenfabriken, die Geiger, die Markise des Baranof Theater —, er erklärt, dass es ihm Freude machte, an Sitka festzuhalten, als er sich mit Cashdollar einigte.

»Du und dein bescheuertes Herz der Finsternis«, sagt Bina. »Den Film gucke ich mir nie wieder an.« Sie zieht ihre Lippen zu einem harten kleinen Punkt zusammen. »Du hast was vergessen, du Arschloch. Auf deiner süßen kleinen Liste. Dir fehlt da was, würde ich sagen.«

»Bina.«

»Ist auf deiner Liste kein Platz für mich, Meyer? Ich hoffe nämlich, dass du weißt, dass du auf meiner ganz oben stehst.«

»Wie kann das sein?«, sagt Landsman. »Ich verstehe nicht, wie das sein kann.«

»Warum nicht?«

»Weil ich, du weißt schon. Ich habe dich im Stich gelassen, Bina. Ich habe dich enttäuscht. Ich habe das Gefühl, dich unglaublich enttäuscht zu haben.«

»Womit denn?«

»Weil ich … wegen dem, zu was ich dich gezwungen habe. Mit, ich meine, du weißt schon. Mit Django. Ich weiß nicht, wie du es überhaupt aushältst, mich anzusehen, Bina.«

»Mich gezwungen? Meinst du … Glaubst du, du hast mich gezwungen, unser Kind umzubringen?«

»Nein, Bina, ich —«

»Ich will dir mal was sagen, Meyer.« Sie nimmt seine Hand und gräbt ihre Fingernägel in sein Fleisch. »Wenn du jemals mein Verhalten so unter Kontrolle haben solltest, dann nur, wenn dich jemand fragt, ob ich mir einen Kiefernsarg oder ein schlichtes weißes Hemd gewünscht habe.« Sie legt seine Hand zur Seite, ergreift sie dann wieder und streicht über die feurigen Halbmonde, die sie in sein Fleisch gedrückt hat. »Ach, du liebe Güte, deine Hand, Meyer, es tut mir leid. Tut mir leid.«

Natürlich tut es Landsman auch leid. Er hat sich bereits bei ihr entschuldigt, mehrmals, unter vier Augen und in Anwesenheit von anderen, mündlich und schriftlich, formell in wohlgesetzten Phrasen und in ungehemmtem Gestammel: Es tut mir leid, es tut mir so leid, es tut mir so unglaublich leid. Er hat sich für seine Verrücktheit entschuldigt, für seine Unberechenbarkeit, für seine Schwermut und seine Schwipse, für das jahrelange Hin und Her zwischen Begeisterung und Verzweiflung. Er hat sich entschuldigt, sie verlassen zu haben und sie angefleht zu haben, ihn wieder zurückzunehmen, die Tür ihrer alten gemeinsamen Wohnung eingetreten zu haben, als sie sich seiner Bitte verweigerte. Er hat sich erniedrigt, seine Kleider zerrissen, ist vor ihr auf dem Boden gekrochen. Meistens hat Bina, gute und treusorgende Frau, die sie ist, Landsman die Worte geschenkt, die er hören wollte. Er hat sie um Regen angefleht, und sie hat ihm kühle Schauer geschickt. Aber tatsächlich braucht er eine Flut, die seine Schlechtigkeit vom Angesicht der Erde spült. Oder den Segen eines Jids, der nie wieder jemanden segnen wird.

»In Ordnung«, sagt Landsman.

Bina steht auf, geht zum Mülleimer und fischt Landsmans Broadways-Packung heraus. Dann holt sie ein verbeultes Zippo aus ihrer Jackentasche, das das Abzeichen des 75. Ranger-Regiments trägt, und zündet ihm und sich eine Papiros an.

»Wir haben das getan, was uns damals richtig erschien, Meyer. Wir hatten nur wenige Fakten. Wir kannten unsere Grenzen. Wir dachten, wir hätten die Wahl. Aber wir hatten wirklich keine Wahl. Wir hatten nur, keine Ahnung, drei beschissene Fakten und die Landkarte unserer eigenen Grenzen. Wir wussten, womit wir nicht klarkommen würden. Welche Linien wir nicht überschreiten würden.« Sie holt ihr Shoyfer aus der Tasche und reicht es Landsman. »Und wenn du mich fragst, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass du das tust, hast du jetzt eigentlich auch keine Wahl.«

Er sitzt einfach da, mit ihrem Telefon in der Hand, sodass sie es aufklappt, eine Nummer wählt und es ihm wieder in die Hand drückt. Er hebt es ans Ohr.

»Dennis Brennan«, sagt der wichtigste und einzige Mitarbeiter der Sitka-Zweigstelle einer großen amerikanischen Tageszeitung. »Brennan, hier ist Meyer Landsman.«

Landsman zögert erneut. Er legt den Daumen auf die Sprechöffnung des Handys.

»Sag ihm, er soll mit seinem Riesenschädel herkommen und zusehen, wie wir deinen Onkel wegen Mordes verhaften«, sagt Bina. »Sag ihm, er hat zwanzig Minuten Zeit.«

Landsman versucht, das Schicksal Berkos, seines Onkels Hertz, Binas, der Juden, der Araber, das Schicksal des ganzen unseligen, heimatlosen Planeten gegen das Versprechen abzuwägen, das er Mrs. Shpilman und sich selbst gegeben hat, obwohl er den Glauben an das Schicksal und an Versprechen verloren hat.

»Ich hätte nicht auf dich warten müssen, als du deinen jämmerlichen Balg die lausige Treppe runtergeschleppt hast«, sagt Bina. »Das weißt du. Ich hätte einfach durch die verfluchte Tür abhauen können.«

»Ja, warum hast du das nicht getan?«

»Weil ich dich kenne, Meyer. Ich hab gesehen, was dir durch den Kopf ging, als du da oben saßest und Hertz zugehört hast. Ich hab gesehen, dass du etwas sagen musstest.« Sie drückt ihm das Telefon an die Lippen und streicht mit ihren über seine. »Jetzt mach und sag es endlich. Ich bin das Warten leid.«

Tagelang hat Landsman geglaubt, er hätte seine Chance mit Mendel Shpilman verpasst. Ohne es zu ahnen, hätte er im Exil des Hotel Zamenhof seine einzige Chance auf so etwas wie Erlösung vertan. Aber es gibt keinen Messias von Sitka. Landsman hat keine Heimat, keine Zukunft, kein Schicksal außer Bina. Das Land, das ihm und ihr versprochen wurde, ist von den Fransen ihres Hochzeitsbaldachins begrenzt, von ihren eselsohrigen Mitgliedskarten einer internationalen Bruderschaft, deren Mitglieder ihr Erbe in einer Tasche über der Schulter und ihre Welt auf der Zungenspitze tragen.

»Brennan«, sagt Landsman. »Ich habe eine Story für Sie.«

Anmerkungen des Autors

Ich bin den folgenden Personen, Werken, Websites, Instituten und Einrichtungen für ihre Hilfe dankbar:

The Mac Dowell Colony, Peterborough, New Hampshire, Davia Nelson, Susie Tompkins Buell, Margaret Grade und den Mitarbeitern von Manka’s Inverness Lodge, Inverness, Kalifornien, Philip Pavel und den Mitarbeitern von Chateau Marmont, Los Angeles, Kalifornien, Bonnie Pietila und den anderen Einwohnern von Springfield, Paul Hamburger, Bibliothekar der Judaica-Sammlung, University of California, Ari Y. Kelman, Todd Hasak-Lowy, der Alaska State Library, Juneau, Alaska, Dee Longebaugh, Observatory Books, Juneau, Alaska, Jake Bassett von der Polizei Oakland, Mary Evans, Sally Willcox, Matthew Snyder und David Colden, Devin McIntyre, Kristina Larsen, Lisa Eglinton und Carmen Dario, Elizabeth Gaffney, Kenneth Turan, Jonathan Lethem, Christopher Potter, Jonathan Burnham, Michael McKenzie, Scott Rudin, Leonard Waldman, Robert Chabon und Sharon Cha-bon, Sophie, Zeke, Ida-Rose und Abraham Chabon und ihrer Mutter, The Messiah Texts, Raphael Patai, Modern English Jiddish Jiddish-English Dictionary, Uriel Weinreich, Our Gang, Jenna Joselit, The Meaning of Jid’Iish, Benjamin Harshav, Blessings, Curses, Hopes and Fears: Psycho-Ostensive Expressions in Jiddish, Benjamin Matisoff, English-Jiddish Dictionary, Alexander Harkavy, American Klezmer, Mark Slobin, Against Culture: Development, Politics, and Religion in Indian Alaska, Kirk Dombrowski; Will the Time Ever Come?, A Tlingit Source Book. Hrsg. Andrew Hope III. und Thomas F. Thornton, The Chess Artist, J. C. Hallman, The Pleasures of Chess, Assiac (Heinrich Fraenkel), Treasury of Chess Lore, Hrsg. Fred Reinfeld, Mendele (http://shakti.trincoll.edu/~mendele/index.utf-8.htm), Chessville (www.chessville.com), Eruvin in Modern Metropolitan Areas von Yosef Gavriel Bechhofer (http://www.aishdas.org/ baistefila/eruvpi.htm), Jiddish Dictionary Online (www.Jiddishdictionaryonline.com) und Courtney Hodell, Verlegerin und Erlöserin dieses Romans.

Die Bruderschaft »Esaus Hände« erscheint hier mit freundlicher Genehmigung ihres großen Vorsitzenden und Präsidenten auf Lebenszeit, ihres Gründers Jerome Charyn, der Zugzwang von Mendel Shpilman wurde ersonnen von Reb Vladimir Nabokov und taucht in seinen Poems and Problems auf.

Dieser Roman wurde auf Macintosh Computern mit CopyWrite und Nisus Writer Express geschrieben.

Glossar

Alef-Bejs — Alphabet

Alenu — Gebet (zum Abschluss des Gottesdienstes)

Aw — Monat des jüdischen Kalenders (Mitte Juli bis Mitte August)

Baal Schem Tow — Titel des Rabbis Israel Ben Elieser (lebte im 18. Jahrhundert)

Big Macher — Name eines großen Kaufhauses im Industriegebiet von Sitka

Bik — Ochse, hier: Leibwächter

Blintzen — Pfannkuchen

Bobover — Anhänger einer chassidischen Glaubensrichtung

Büffel — Schimpfwort (Anspielung auf den »Buffalo-Incident« in den Neunzigern, als ein jüdischer Student eine Gruppe schwarzer Studentinnen als »water buffaloes« bezeichnete)

Bulgar — jüdischer Tanz

Cafard — (frz.) Depression, Wahnsinn

Chuppa — Hochzeitsbaldachin

Chuzpe — Dreistigkeit, Unverschämtheit

Dibbuk — jüdischer Geist eines Verstorbenen, der sich an einen Lebenden heftet

Drejdl — vierseitiger Kreisel mit hebräischen Buchstaben, mit dem zu Chanukka gespielt wird

Ellul — Monat des jüdischen Kalenders im Spätherbst

Emanu-El — Synagoge in New York (wörtl.: »Gott mit uns«)

Emmes — Wahrheit

Eretz Jisroel — traditionelle Bezeichnung für das Land Israel

Erew Pessach — Vorabend des Pessachfestes

Eruw — Zaun (real oder symbolisch) um ein jüdisches Wohngebiet, innerhalb dessen die Sabbatregel aufgehoben ist, nichts tragen zu dürfen. Auch: Sabbatgrenze

fardrejt — verdreht, irr, kompliziert

Feh! — Bah!

Forschpiel — ritualisiertes Treffen am Vorabend der Hochzeit

Frejlech — jüdischer Tanz (wörtl.: munter, glücklich)

Gabbai — Administrator einer jüdischen Institution, Sekretär eines chassidischen Rabbis

Galizianer — Einwohner Galiziens (Landschaft in der Westukraine und Südpolen); Jude aus Galizien oder mit Vorfahren aus Galizien

Gannef — Gauner, Ganove (umgangsspr.)

Gerrer — jüdische Glaubensgemeinschaft (benannt nach der Stadt Ger [Góra Kalwaria, Polen])

Goj — Nicht Jude

Grünling — Neuankömmling in Alaska

Harkavy — Insel und Bezirk von Sitka; Name eines berühmten Lexikographen der jüdischen Sprache

Haskome — Approbation

Hoonah — Stadt in Alaska

Hotzeplotz (Hotzenplotz) — Städtchen in Oberschlesien, heute Osoblaha, metaphorisch gebraucht für einen kleinen, weit abgelegenen Ort

Jahrzeit — Todestag eines Verstorbenen

Jarmulke — jüdische Kopfbedeckung

Jekke — deutschsprachiger Jude

Jeschiwa — Talmudhochschule

Jid — umgangsspr. Jude, auch: Mann, Mensch

Jungmann — unverheirateter Mann (ab dem 13. Lebensjahr)

Kaddisch — Totengebet

Kejnehore — Formel zur Abwendung eines Fluchs (wörtl.: »kein böses Auge«)

Kibitzer — Beobachter, Besserwisser, Schlaumeier (bes. beim Kartenspiel)

Kreplach — gefüllte Teigtaschen

Kugl — Auflauf

Kundiman — philippinisches Liebeslied

Laminaria — zum Schwangerschaftsabbruch eingesetzte Alge

Latke — Kartoffelpuffer, hier: Streifenpolizist

Lubawitscher — Angehöriger des Chabad-Chassidismus

Luftmensch — armer Mensch, Arbeitsloser; im amerik. Englisch auch »zerstreuter Mensch«

Maimonides — jüdischer Philosoph aus dem 12. Jahrhundert

Mamser — Bastard

Masel — Schicksal

»Masel-tow« — »Glückwunsch!«, »Gratuliere!«

Masik-Shoyfer — Markenname eines Mobiltelefons aus Sitka (wörtl.: cleveres Shoyfer, engl.: smartphone)

Mejwen — Experte (der Grenz-Mejwen ist Experte für den Eruw)

Menora — (siebenarmiger) Leuchter

Mesusa — Kapsel am Türpfosten, die geschriebene Gebete enthält

Mikwe — rituelles Tauchbad für Frauen

Mukluk — Eskimostiefel

Nissan — Monat des jüdischen Kalenders im Frühling (März/April)

Nos — Nase, hier: Polizist, Gesetzesvertreter

Papiros — Zigarette

Parschat Chajei Sarah — wöchentlicher Thoraabschnitt »Das Leben der Sarah«

Patschtanz — osteuropäischer Tanz, bei dem man in die Hände klatscht

Patzer — (ungeschickter) Schachspieler

Pilpul — Haarspalterei

Pischer — ungezogener Junge (vergl.: »Pisser«)

Promyshlenniki — (russ.) Pelzjäger

Purim — jüdisches Fest, bei dem Masken und Kostüme getragen werden

Puschke — Sammelbüchse für Almosen

Rebbe — Führer einer chassidischen Glaubensgemeinschaft; Grundschullehrer

Reschus harabbim — Ort, an dem man am Sabbat nichts tragen darf

Rut — Tageszeitung in Sitka (dt. »Rute«)

Satmarer — Glaubensgemeinschaft chassidischer Juden

Schajtel — Perücke

Schammes — Synagogendiener, hier: Kriminalbeamter, Detective Schawuos — jüdisches Fest, Wochenfest

Schejgetz — nichtjüdischer Knabe; Lümmel

Schejner — respektvolle Anrede (vergl. »Schöner«)

Schibboleth — Wort oder Wendung, durch deren Aussprache man die Herkunft des Sprechers ableiten kann

Schiwa — siebentägige Trauer nach Todesfall

Schlemiel — Pechvogel, Unglücksrabe

Schofar — Widderhorn zum Erzeugen ritueller Töne

Schlosser — Auftragsmörder

Schochet — Schächter

Schomer — Wächter, hier: Totenwächter

Scholem — Friede, hier: Pistole (vergl. »Peacemaker«)

Schtarker — Mafioso, Schläger

Schtekele — Blätterteiggebäck (vergl. »Stöckchen«)

Schtetl — (Klein-)Stadt, in der ein Großteil der Bevölkerung jüdisch ist

Schtinker — Informant

Schul — Synagoge (wird in festen Ausdrücken ohne Artikel verwendet)

Schwarzhut — umgangssprachliche Bezeichnung für einen orthodoxen Juden

Schwitz — Dampfbad

Shoyfer — Markenname der Mobiltelefone aus Sitka (vergl.: Schofar)

Smicha — Autorisation eines Gelehrten zum Rabbi

Shtrakenzer — jüdische Glaubensgemeinschaft

Shvartser-Yam — fiktive Halbinsel im Golf von Sitka (wörtl.: »schwarzes Meer« oder »Meer von Schwarzen«)

Sitka Tog — Name der Sitkaer Tageszeitung

Stint — lachsartiger Fisch

Sukkoh — Lauberhütte

Tefillin — Lederriemen, die zum Beten angelegt werden

Tekiah — ein Ton des Widderhorns

Tzaddik ha-Dor — Gerechter seiner Generation

Untershtot — Stadtzentrum von Sitka (vergl.: downtown)

Verbover — fiktive ultraorthodoxe Sekte, die auf ihrer eigenen Insel im Golf von Sitka namens Verbov Island lebt

Vier-Ecken — von orthodoxen Männern getragenes rituelles Kleidungsstück mit vier Ecken, jidd.: Arbe-kanfes

Zimmes — ein süßes Gericht mit Obst oder Gemüse